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Fasching im Altersheim

Von Katharina Hirschmann

Reflexionen
Altersmüde? Nicht bei der Polonaise! Ein Stimmungsbild aus den 2000er Jahren.
© Parkresidenz Straßengel

Als junger Mensch in der Altenbetreuung zu arbeiten, verändert nachhaltig den Blick auf das Leben. Ein Erinnerungsbesuch nach fünfzehn Jahren.


"Natürlich weiß ich noch, wie ich zum Altersheim in Judendorf komme!", meine ich entrüstet auf die Frage eines besorgten Freundes. "Immerhin habe ich ein halbes Jahr lang dort gearbeitet."

Aber . . . wo war nochmal genau die Abfahrt? Prompt bin ich auch schon zu weit gefahren und muss eine umständliche Schleife zurück und von der anderen Seite in die Stadt fahren. Nach zweimaligem Wenden habe ich es geschafft. Die Parkresidenz, eine prachtvolle moderne Villa in Judendorf-Straßengel, liegt wie damals auf einem beeindruckenden Grundstück, von großen alten Bäumen umrahmt. Eine alte Dame mit Strohhut sitzt vor dem Eingang in ihrem Rollstuhl und lässt den Blick über den Garten schweifen. Fünfzehn Jahre sind vergangen, seit ich das letzte Mal hier war. Was kann sich hier schon großartig verändert haben? Frage ich mich und betrete die Gemäuer.

Schlagartig versetzt mich der Geruch fünfzehn Jahre zurück. Bilder kommen hoch von den alten Leuten, denen ich damals frohen Mutes und ziemlich naiv gegenübertrat. Ich hatte gerade einmal die Matura in der Tasche und von Altenbetreuung keinen blassen Schimmer. Die Pflegerinnen sahen darin allerdings kein Problem und betrauten mich mit Aufgaben, die sie glaubten, mir Jungspund zumuten zu können. Tagtäglich duschte ich "die Alten", wechselte Windeln, schob sie in ihrem Rollstuhl durch den Park, brachte sie zur Pediküre, holte sie wieder ab, schmierte Butter auf ihre Brote und Creme auf ihre Haut.

Erzählungen

Vor allem aber hörte ich ihnen zu. Es gehörte mitunter zu den schwierigsten Momenten des Tages, wenn es nämlich hieß: Gute Nacht. Denn ein eiliges "Wiederschauen" wurde von den Alten nicht akzeptiert. Da musste noch die Geschichte vom Peppi und jene von den Marillenknödeln fertig erzählt werden, und, hier! Nimm doch noch eine Schokolade! Hab’ ich dir schon von meinem Mann erzählt?

Das Mitteilungsbedürfnis war groß, mindestens genauso groß wie mein schlechtes Gewissen, wenn ich nach zwanzig Minuten doch die Geduld verlor, Hals über Kopf aus der Wohnung stürmte und die Alten mit ihrer Marillenknödel-Geschichte alleine ließ.

Denn das waren sie vorrangig. Alleine. Vereinzelte Familienbesuche hellten die Wochen auf, bei manchen aber blieben sie ganz aus. Diese Leute waren es dann, die beim alljährlichen Maronifest, zu dem auch Angehörige geladen waren, alleine an einem Tisch saßen. Bilder, die an zartbesaiteten Herzen wie meinem damals nagten. Ob sich daran etwas geändert hat? Ich kann es mir nicht vorstellen. Alter und Alleinsein, das gehört doch irgendwie zusammen.

Und doch ist es gerade das Altersheim, das dem entgegenwirkt. Da kann die Heimpflege - also die Pflege daheim - noch so auf dem Vormarsch sein, sie wird nie die vielseitige Geselligkeit eines gut organisierten Altenpflegeheims ersetzen können.

Auf den ersten Blick scheint in den Gängen alles ruhig. Es ist 11 Uhr, von früher weiß ich, dass die Ersten um diese Zeit schon in den Startlöchern fürs gemeinsame Mittagessen scharren. Denn es gehört zu den geselligen Momenten, für die sich manch einer auch gerne herausputzt. Andere, die sich ihrer Schwierigkeit, "schön" zu essen, bewusst sind, bleiben lieber in der Wohnung. Man will den anderen, den "Fitten", seine körperlichen Verfallserscheinungen nicht zumuten.

Streitereien

Das Restaurant war und ist der Ort des Austauschs und des Streits. Hier werden die Alten zu Kindern und lassen ihrer Laune freien Lauf. Damals kam hier jenes Pärchen zusammen, das sich im Heim kennen und lieben gelernt hatte, um in trauter Zweisamkeit und Händchen haltend am Tisch zu sitzen. Hier traf meine Großmutter, die ihre letzten Lebensjahre ebenfalls in der Parkresidenz verbrachte, auf ihre Zimmernachbarin, die ihr schwer auf die Nerven ging, weil sie ihr ständig hinterhertrottete und "immer so viel redete".

Hier stritt man darum, ob an dem Tag Maria oder ihre Schwester Cilly, die sich übrigens ein Zimmer teilten, neben Frau O. sitzen durfte. Hier beschwerte sich Herr A. über den Kaffee, der von mir zu langsam serviert wurde (denn Küchendienste gehörten auch zu meinen Aufgaben). Und hier konnte es auch passieren, dass ein Herr mit Alzheimer sich jemandem vorstellte und zehn Minuten später gleich noch einmal. Es war ein Mikrokosmos - und als solcher ein Abbild der Gesellschaft.

Und dazwischen immer wieder die Meldung: Frau Soundso ist in der Nacht gestorben. Das sorgte dann meist für betretene Stille, die aber in der Regel nur kurz anhielt. Man war an diese Nachrichten gewöhnt. Das Leben ging weiter. Wer wusste schon, wie lange noch? Und während die einen dahinstarben, zogen die Neuen ein. Dafür brauchte es oft nicht mehr Zeit, als ich benötigte, um einem Bewohner eine neue Windel anzulegen.

Ob sich etwas verändert hat in den letzten 15 Jahren, frage ich Frau Glawogger, die Pflegedienstleiterin in der Parkresidenz. Auf den ersten Blick scheint mir alles gleich, vielleicht ein paar Rollstühle mehr als damals. Es gibt, meint Frau Glawogger, während sie einem alten Herrn, der gerade in einem solchen an ihr vorbeigeschoben wird, freundlich über den Arm streicht, weniger Langzeitpflegefälle als früher. Durch die neueren Konzepte der 24-Stunden-Pflege kommen Leute erst ins Heim, wenn es wirklich nicht mehr anders geht. Was zur Folge hat, dass die Leute kürzer bleiben und von vornherein schon in einem körperlich schlechteren Zustand sind. Gerne wird das Heim inzwischen auch für Kurzaufenthalte genutzt, etwa nach einer Reha oder für die Zeit, in der die Kinder auf Urlaub sind.

Die Verwaltungsarbeit, die aufgrund der Auflagen ohnehin schon zu viel Zeit erfordert (Zeit, die danach fehlt, um sich Marillenknödel-Rezepte oder Erinnerungen an die Nachkriegszeit anzuhören), wird dadurch noch weiter erhöht. Tatsachen, unter denen engagierte Pfleger leiden, weil sie am Ende des Tages mit dem unbefriedigenden Gefühl nach Hause gehen, sie hätten doch noch mit Herrn H. spazieren gehen sollen. Doch die Bürokratie siegt immer. Sie muss es ja. Denn wenn es eine Kontrolle gibt, wird niemand fragen, ob man auch mit Herrn H. spazieren war. Sehr wohl aber wird man in die Akte schauen und feststellen, ob dort die tägliche Menge Wasser vermerkt ist, die Herr H. getrunken hat, und ob er seine Medikamente geschluckt hat.

Die 24-Stunden-Pflege ist inzwischen in der Tat ein Gegenentwurf zu den Altenpflegeheimen, der Anklang findet, wenn auch die Politik einem angemessenen Finanzierungsplan noch hinterherhinkt. Doch viele Leute bevorzugen es, im Alter bei sich zu Hause zu bleiben. Nicht jeder hat Lust, sich auf neue Bekanntschaften einzulassen. Manchmal fehlt auch einfach das Geld. Denn so ein Heimplatz kann je nach Pflegebedarf bis zu 6000 Euro pro Monat kosten.

Geselligkeiten

In Sachen Geselligkeit allerdings kann mit einem Pflegeheim kaum ein anderes Konzept mithalten. Nie werde ich die zahlreichen Veranstaltungen vergessen, bei denen die Alten sich in wahre Energiebündel verwandelten, bei einer Polonaise durch die Räume zogen, gemeinsam Lieder sangen oder den Christbaum schmückten. Manche davon waren an Skurrilität nicht zu übertreffen.

Stichwort Faschingsdienstag: Nur schwer bekomme ich die Bilder der weißhaarigen, berollstuhlten Damen mit Clownsnase aus dem Kopf. Dass sich auch meine Großmutter freiwillig und gerne als Biene verkleidete (was sie bis dahin niemals getan hatte), vermag den seltsamen Beigeschmack darüber nicht zu beseitigen, dass manche ohne ihr Zutun (und vielleicht sogar, mangels geistiger Anwesenheit, ohne ihr Wissen) verkleidet wurden. Ein Fest war es trotzdem und immerhin ein Anlass mehr, sich zu zanken, etwa darüber, wer den größeren Krapfen abbekam.

...ein Anlass mehr, sich zu zanken, etwa darüber, wer den größeren Krapfen abbekam.
© privat

Manchmal war es auch unangenehm. Und damit meine ich nicht das Windelwechseln oder Duschen von inkontinenten Damen, an das man sich erstaunlich schnell gewöhnt. Nein, ich weiß noch genau, wie weich meine Knie waren, als der 84-jährige Herr, für den ich in seiner Küche gerade sein Abendbrot bereitete, mit seinen 1,90 Metern plötzlich vor mir stand und mich fragte, ob ich nicht mit ihm ins Bett wolle.

Als ich dankend ablehnte, setzte er nach, ob ich dann nicht zumindest Freundinnen hätte, die weniger prüde wären als ich. Mehrere, wohlgemerkt. Irgendwie schaffte ich es glücklicherweise, ihn davon zu überzeugen, dass er stattdessen lieber sein Käsebrot essen solle. Letztlich war er auch damit zufrieden.

Lebensschule

Warum ich das damals gemacht habe? Eine Tätigkeit so nahe am Tod? So genau weiß ich das eigentlich nicht mehr, und ich glaube, eigentlich wusste ich es auch damals nicht. Jedenfalls habe ich nicht eine Sekunde an meine berufliche Karriere gedacht. Ich wollte arbeiten, während des Studiums etwas Geld verdienen und in andere Lebenswelten hineinschnuppern. Es war keine große Sache. Dass es das eigentlich doch war, weiß ich erst aus heutiger Sicht. Denn ich habe in dieser Zeit sehr viel über Menschen gelernt. Über den Gewinn, den man aus der Lebenserfahrung älterer Menschen ziehen kann, über einen respektvollen Umgang mit Leuten, die Hilfe brauchen, aber dennoch autonom sein wollen, über Stolz und Selbstachtung.

Ob junge Leute sich heute noch Hals über Kopf in ein Abenteuer schmeißen? Vermutlich schon. Meistens aber tun sie das "in der großen weiten Welt" und mit Vorliebe da, wo es Menschen (oder Tieren) besonders schlecht geht, um die Sozialromantik noch etwas zu verschärfen. Schildkröten retten in Indien oder Entwicklungshilfe im Senegal. Das Ausland steht hoch im Kurs. Es scheint, dass man heute vor allem Erfahrung sammeln und dabei gleichzeitig seinen Lebenslauf zimmern möchte.

Ich jedenfalls bereue nicht, Zeit an der Seite von Menschen verbracht zu haben, die den Großteil ihres Lebens schon hinter sich gebracht hatten. Es hat meine Demut geschult, den Blick fürs Leben geschärft. Denn nichts hält das Bild der fortschreitenden Zeit besser fest als ein Blick dorthin, wo das Leben an der Schwelle zum Tod Feste feiert. Von den Bewohnern, die ich kannte, sind inzwischen alle tot. Ja, selbst die Pfleger von damals sind bereits im Ruhestand. Sie werden vielleicht die Nächsten sein, die hier einziehen.

Katharina Hirschmann, geboren 1986, arbeitet als Pädagogin und freie Journalistin in Wien.