Zum Hauptinhalt springen

Hegel, ein "Drei-Liter-Philosoph"?

Von Otto A. Böhmer

Reflexionen

Hegel war bekanntermaßen ein Liebhaber des Weins.- Eine fiktive Annäherung an das Thema.


Woran soll man sich als Philosoph festhalten? G. W. F. Hegel auf einer Lithografie von Julius Ludwig Sebbers - mit einer kleinen, nahrhaften Ergänzung . . .
© Illustration: WZ-Montage

Die Ordnung, die er zur Feier der Welt errichtet hatte, war brüchig geworden. Mit einem Mal gab es Schlupflöcher, Verwinkelungen, Nischen. Seine Gedanken durften nun, ungestraft, umherziehen, sie schweiften ab, drehten sich im Kreise, der ein anderer Kreis war, dunkles, untergründiges Terrain, nicht der Kreisgang des Denkens, an dem seine ganze Philosophie hing.

Er hatte einen insgesamt unguten Verdacht: Der Geist des Weines war schuld, jener allererste enthusiasmierende Beweger, der sein Leben anschob, ein unsichtbarer, unermüdlicher Brandbeschleuniger des Wissens, nichts hielt ihm stand, aber dann war er lastend geworden, das eigene Gewicht drückte ihn herunter, brachte ihn in träge Sesshaftigkeit; der Geist, frei gestelltes, Gott gleiches Medium, wurde wieder Geist des Weines, der hartnäckige Rückstände erkennen ließ, vom Weingeist blieb nur der Weinstein. Er setzte sich ab, an den Gläsern, in ihm, verknotete den Fluss der Gedanken und des Blutes.

Strenger Medikus

"Man konnte sagen, dass er zu viel soff, so hatte es zumindest sein früherer Hausarzt Dr. Schulte-Langen, ein grober Westfale, ausgedrückt, dem er daraufhin den Laufpass gab. Für die Wahrheit war er selbst verantwortlich, der Philosoph, nicht ein rotwangiger, plumpschädeliger Medikus, der sich allerdings an die vermuteten Tatsachen hielt.

"Wenn ich Sie so anschaue", hatte er gesagt, "wenn ich Sie so anschaue, Sie hochrühmlicher Mensch, sehe ich Bedenkliches. Ihre Augen stehen hervor, sind gallertartig und trübe. Ihre Hände zittern, auch wenn Sie sich nur an Ihrer ungepflegten Perücke kratzen. Ihr Atem geht unverhältnismäßig schwer, Sie haben Schorf an der Backe, der entweder von fortgesetzter Unreinlichkeit herrührt oder das Resultat einer schlecht verheilten Wunde ist, die Sie sich im täglichen Suff zugezogen haben. Sagen Sie nichts, es kann gegen Sie verwendet werden. Ich kenne Leute wie Sie, Herr Professor Hegel, sie verbergen sich hinter einer zweifelhaften Ruhmseligkeit, die dazu beiträgt, über offensichtliche Laster hinwegzusehen, was aber ein wachsamer Mediziner nicht durchgehen lässt. Unsereins sieht sehr viel genauer hin als ein Philosoph, der sich im Spekulativen herumtreibt. All Ihre sogenannten Beschwerden, Magendruck, Völlegefühl, saures Aufstoßen, Herzrasen, flagrante Nervosität, bis hin zu Haar- und Zahnausfall und Ihre verschiedenen, plötzlich auftretenden Absenzen, haben nur eine Ursache, das Saufen."

"Wenn ich Sie so anschaue", hatte der Medikus gesagt, "wenn ich Sie so anschaue, Sie hochrühmlicher Mensch, sehe ich Bedenkliches....": Georg Wilhelm Friedrich Hegel, porträtiert von Jakob Schlesinger, 1831

"Ich saufe nicht", hatte Hegel daraufhin kraftlos erklärt, dabei rumorte doch schon die Wut in ihm, "ich trinke ab und zu ein Glas Wein. Zu den Mahlzeiten, beispielsweise".

"Zu den Mahlzeiten?", höhnte der Arzt. "Dann darf Ihre Existenz wohl als eine einzige, langanhaltende Mahlzeit bezeichnet werden. Sie sind, wenn ich das so sagen darf, ein Drei-Liter-Philosoph."

"Wie bitte?"

"Ich will damit sagen, dass Sie mindestens drei Liter Wein am Tag trinken."

"Nie und nimmer."

Der Mann hatte recht, leider, aber er hatte kein Recht, es zu sagen. Hegel hielt nicht viel von Aposteln, am wenigsten von Gesundheitsaposteln, die ihr flüchtiges Dasein mit Regularien und Exerzitien durchzogen und sich dabei der Hoffnung hingaben, ein paar Zeittakte länger zu leben.

Der Mensch als Gefäß

Er gestattete sich lieber das bewährteste und verlässlichste aller Vergnügen, für das sich, auch von den Anfangsgründen her, gesundheitspolitische Motive ins Feld führen ließen. Schließlich hatten schon die Alten die Zuträglichkeit des Weines entdeckt, sie wussten, dass er die Gefäße weitete, die Laune anhob, das Denken beflügelte. Auf Mengenangaben hatten sie tunlichst verzichtet, von Schäden war keine Rede. Der Mensch gleicht, wenn er im Geist aufnahmebereit ist, einem Gefäß, das nicht überlaufen kann. Dennoch wäre weniger mehr gewesen, wusste er; er selbst durfte sich das zugestehen, nicht aber eine Maultasche von Arzt, der die Welt nur als Ärztemuster begreift.

"Ich möchte Sie bitten zu gehen", sagte Hegel. "Und bitte gehen Sie gleich."

"Sie setzen mich vor die Tür?"

"Es wäre schön, wenn Sie das selbst besorgen könnten."

"Sie werden Schwierigkeiten bekommen", sagte Schulte-Langen und packte seine Gerätschaften in eine abgewetzte Arzttasche. "Der Alkohol lagert sich im Gehirn ab, er beeinträchtigt Ihre Denkfähigkeit, mit der es allerdings, Ihrem Fach entsprechend, ohnehin nicht weit her sein kann. Vielleicht reicht Ihr Lebenswandel noch für ein fortgeschrittenes Alter, wer weiß, nicht jeder, der willentlich sündigt, wird gleich bestraft. Ich prophezeie Ihnen das siebhafte, nicht das triebhafte Gedächtnis; Sie werden eines schlechten Tages mehr Löcher in Ihren Hirnwindungen haben als Ihnen lieb ist, und jedes dieser schwarzen Löcher steht für schmerzhaftes Scheitern, für den Absturz eines Gedankens. Das werden Sie am Anfang noch wehleidig registrieren, danach werden Sie gar nichts mehr registrieren, denn Ihr Bewusstsein hat sich sang- und klanglos verabschiedet. Sie werden ein Wrack sein, Herr Professor Hegel, ein gutmütiges, versoffenes Wrack, ein Mann für die Pflege. Guten Tag."

Da ging er, der Arzt, und ward, Gott sei Dank, nicht mehr gesehen. Hegel stand am Fenster, sah die Lichter der Nacht; ein fernes Raunen war in der Stadt, das von der Zeit sprach, die noch kommen sollte. Er liebte diese Dämmer- und Dunkelstunden, er liebte die bergende Nacht. Alles wurde ihm leicht dann, das System, das er nach besten Kräften entworfen hatte, verlor sich in den Tiefen der Seele, der er erst jetzt, im fortgeschrittenen Alter, verhaltene Aufmerksamkeit schenkte, es ging ja nicht anders; wer zu früh absteigt zur Seele, kommt darin um.

Ordnungssinn

Hegel starb aber dann (vermutlich) nicht an den Folgen (s)einer Alkoholsucht, sondern an den Nachwirkungen einer Choleraepidemie, die Berlin heimgesucht hatte; im Tod war er nun nicht mehr der Älteste, wohl aber einer der berühmtesten Männer Preußens, die dahingerafft wurden.

Hegel brachte, Weingeist hin oder her, der Philosophie einen Ordnungssinn bei, der ihr zuvor bei Kant schon nahegelegt worden war; dieser Ordnungssinn wurde nun systematisiert und zum großen Ganzen aufgerundet. Eine solche Unternehmung konnte wohl nur von einem sehr deutschen Philosophen, einem wagemutigen Beamten der Philosophie in Angriff genommen werden, wobei Hegels Denkansatz, nämlich "die Gedanken Gottes vor der Schöpfung" zu denken, bereits eine vom Tiefsinn ummantelte Ungeheuerlichkeit darstellt: In seinem System sollten diese Gedanken zu höchster Vernünftigkeit und zum Abschluss eines Selbsterkennungsprozesses gelangen, dessen eigentliche Antriebskraft der "Geist" ist.

Geist findet vorwiegend im Bewusstsein statt; er bildet die unendliche Vielfalt der Welt der Gedanken im Kopf, deren andere Seite, die Realität, das Objekthafte, von Hegel keineswegs geleugnet wird. Die Wirklichkeit jedoch bedarf immer eines Wissens, um zu sich selbst zu kommen; erst als gewusste Wirklichkeit ist sie "vernünftige" Wirklichkeit. Hegel, ein versierter Dialektiker, hantiert meisterhaft mit Gegensätzen, die er methodisch in den Prozess eines Denkens integriert, das alles formt und bestimmt. Subjektiver und objektiver Geist, individuelles und überindividuelles Bewusstsein gehen ineinander über, so dass der Einzelne immer nur ein Rädchen bleibt im Gang der abschnurrenden Weltgeschichte, die als geistiges Monumentalgeschehen vom Anbeginn aller Tage bis zum Schöpfungsende reicht.

Das Individuum ist kaum mehr als ein Bewusstseinsträger, dessen Wert sich an seinesgleichen, d.h. an unendlich vielen anderen kleinen Bewusstseinsträgern bemisst; seine persönliche Befindlichkeit, sein Glück und sein Behagen interessieren nicht, weshalb Hegel auch schreiben kann: "Die Weltgeschichte ist nicht der Boden des Glücks. Die Perioden des Glücks sind leere Blätter in ihr . . ."

Hegel & Hegel

Hegel ist in seiner ganzen überschäumenden Biederkeit, in der gleichwohl auch immer das Unerhörte mitschwingt, eine der seltsamsten und zugleich interessantesten Figuren der Philosophiegeschichte. Kein anderer Philosoph hat es gewagt, die Welt derart rigoros in Gedanken zu pressen, und bei keinem anderen Philosophen liegt das Großartige, das Gewaltige so nah am Gemütlichen wie bei Hegel. Zwei Seelen, könnte man sagen, wohnten in seiner Brust, woraus sich, bedenkt man in diesem Zusammenhang

Hegels regelmäßigen Weinkonsum, eine gewagte These ableiten ließe: Es gab womöglich zwei Hegel in einem, den Abenteurer des Geistes und den Bürger, der sich zufrieden im Ruhm einhauste; ein Hegel & Hegel also, der seine Dialektik verinnerlichte und leibhaftig werden ließ.

Im Übrigen konnte Hegel, dessen Schriften nicht gerade spannend sind, bei guter Tagesform auch die knappe, pointierte Form bedienen; dann gelangen ihm Einsichten wie "‚Erkennen wollen, ehe man erkenne, ist ebenso ungereimt wie schwimmen zu lernen, ehe man sich ins Wasser wage" oder die feine Rede vom "Zerfließen der wirklichkeitslosen schönen Seele . . . in sehnsüchtiger Schwindsucht." Prost!

Otto A. Böhmer, geboren 1949, lebt als Schriftsteller in der Nähe von
Frankfurt am Main. Autor u.a. von "Hegel & Hegel oder der Geist des
Weines" (Erzählung. Klöpfer & Meyer, 2011). Zuletzt von ihm
erschienen: "Brüder im Geiste - Heidegger trifft Höderlin" (Verlag Karl
Alber, 2019).