Zum Hauptinhalt springen

Der Dichter der Sklaven

Von Stefan Haderer

Reflexionen
Antonio de Castro Alves (1847-1871) auf einem Zeitungsfoto von 1868.
© Public domain / via Wikimedia Commons / Urheber unbekannt (Ausschnitt)

Vor 150 Jahren starb Antonio de Castro Alves, der für die Abschaffung der Sklaverei in Brasilien kämpfte.


Antonio de Castro Alves war ein Freiheitskämpfer und einer der bedeutendsten Romantiker im Brasilien des 19. Jahrhunderts. Seine Verse inspirierten Liberale und Bürgerrechtler. Mit nur 16 Jahren begann der Sohn eines Arztes sein berühmtes episches Werk "Die Sklaven". Er wurde zu einem Sprachrohr der Republikaner, die für das Ende der Sklaverei kämpften.

Doch erst nach seinem frühen Tod verwandelten sich seine melancholischen Balladen in Kampfparolen, die schließlich zum heiß ersehnten gesellschaftlichen Umbruch führten: Als Schlusslicht unter den westlichen Nationen schaffte Brasilien die Sklaverei 1888 ab. Damit erfüllte sich der größte Wunsch des Poeten, der noch heute im ganzen Land Kultstatus genießt.

Die Fazenda Cabaceiras, in der Antonio Frederico de Castro Alves am 14. März 1847 das Licht der Welt erblickt, ist ein unscheinbares Anwesen: Am wildromantischen Fluss Paraguaçu im Nordosten Brasiliens steht das kalkweiße, ebenerdige Haus des Arztes und Medizinprofessors Antonio José Alves und seiner Frau Clélia Brasília da Silva Castro. Das Paar hat sich im Sertão kennengelernt, jener einsamen Baumsavanne im Bundesstaat Bahia.

 

Doch die Idylle des bezaubernden Ortes trügt: Die Gesellschaft im Norden des Landes, das die Portugiesen kolonialisiert haben, ist konservativ und feudal. Für die Großgrundbesitzer ist die Haltung schwarzer Sklaven auf den Plantagen und in den herrschaftlichen Casa grandes eine Selbstverständlichkeit. Die Ausbeutung dieser Menschen, die einst von Afrika nach Amerika verschleppt wurden, gilt als der Wirtschaftsmotor für Brasilien, das sich 1822 für unabhängig erklärt hat. Bis zu 1.000 Sklaven arbeiten auf den Fazendas unter unvorstellbar unmenschlichen Bedingungen.

Sprudelnder Geist

Die Familie Castro Alves gehört zwar nicht zu den Kaffeebaronen und Plantagenbesitzern, aber zur wohlhabenden Mittelschicht. Antonio José hat Europa bereist, bis er sich mit Clélia bei Curralinho ansiedelte, einem Städtchen, das seit 1900 den Namen des berühmten Dichtersohnes trägt. Als Zweitgeborener wächst Antonio sorglos mit drei Brüdern und drei Schwestern auf. Als die Familie in die Provinzhauptstadt Salvador zieht, verliert der Zwölfjährige seine Mutter. Er wird mit seinem älteren Bruder José ins Lyzeum geschickt. Trotz dieses ersten Schicksalsschlags ist Cecéu, wie die Mitschüler Antonio rufen, ein aufgeweckter Schüler.

Rui Barbosa, hier in seiner Zeit als Finanzminister (1889).
© Public domain / via Wikimedia Commons / Urheber unbekannt

"Ich spüre in mir das Sprudeln des Geistes", sagt Antonio einmal über seine frühe dichterische Begabung. Er saugt die Werke von Victor Hugo, Heinrich Heine und Lord Byron förmlich auf. Dabei hilft ihm sein Sprachentalent. Im Gymnasium schließt Antonio auch Freundschaft mit Rui Barbosa, der als Schriftsteller und Finanzminister in die Geschichte Brasiliens eingehen wird.

Anfangs sind es nur Liebesgedichte, Spielereien eines Pubertierenden, der sich in eine Freundin aus früher Kindheit verschaut hat. Die Poesie lenkt den Buben vom unsteten Familienleben ab. 1862 heiratet der Vater ein zweites Mal. Nach der Reifeprüfung schreiben sich die Brüder José und Antonio an der Rechtsfakultät in Recife ein. Für Antonio hat das Jusstudium aber keine Priorität. Wenig überraschend fällt er bei der Aufnahmeprüfung zweimal durch.

Der junge Mann will seine künstlerische Begabung weiterentwickeln. Er tauscht sich mit anderen Literaten aus und publiziert in einer Zeitschrift sein Gedicht "Die Zerstörung von Jerusalem". Die Handschrift des jüdischen Poeten Heinrich Heine ist in Antonios Klagelied, das von der Eroberung der heiligen Stadt durch den babylonischen Herrscher Nebukadnezar II. handelt, unverkennbar. Das allgemeine Echo fällt positiv aus.

An der Universität werden Castro Alves die Gräben in der brasilianischen Gesellschaft stärker denn je bewusst. Die Fazendeiros halten eisern am System der Sklaverei fest. In den liberalen Städten regt sich aber Widerstand bei den Republikanern, die sich gegen das Monopol der Sklavenhalter auflehnen. Der fortschrittliche Kaiser Pedro II. befürwortet eigentlich die Abschaffung der Sklaverei. Als Vierzehnjähriger hat er den Thron seines unglücklichen Vaters Pedro I. geerbt. Dieser musste in seine Heimat Portugal zurückfliehen und hinterließ seinem Sohn einen politischen Scherbenhaufen.

Dreißig Jahre später steht Pedro II. vor einem Dilemma: Wie kann er die Wirtschaftskraft seines riesigen Reiches, das sich auf die Ausbeutung der Sklaven stützt, aufrechterhalten und diesen Menschen gleichzeitig die Freiheit schenken? Der Kaiser entschließt sich also, das System nur schrittweise zu reformieren, was seine Beliebtheit weder bei den Plantagenbesitzern noch bei den Republikanern erhöht. 1850 unterzeichnet er ein Gesetz, das den Sklavenhandel, nicht aber die Haltung von Sklaven verbietet. Am Ende wird sich Pedros Politik der "Freiheit auf Raten" als fatal für die Monarchie erweisen.

Antonio beobachtet dieses starre Regime mit Sorge. In Recife nimmt er an einer illegalen Versammlung der Republikaner teil, welche die Polizei auflöst. Auch Antonios Schulfreund Rui Barbosa fordert die Abschaffung der Sklaverei. Die beiden Männer gründen eine "Gesellschaft der Abolitionisten" und die Zeitschrift "A Luz".

Antonio de Castro Alves (1865).
© Public domain / via Wikimedia Commons / Urheber unbekannt

Zur gleichen Zeit schreibt Antonio tiefsinnige und berührende Gedichte für seine späteren Zyklen "Das Sklavenschiff" und "Die Sklaven". Eines erzählt von einem Entflohenen, der seine Brüder zum Widerstand aufruft. Es erinnert an jene Schwarzen, die den Fängen der Sklavenjäger entkommen und es in die Quilombos, freie Siedlungen im Dschungel, schaffen. Nur wenigen gelingt aber die Flucht, die meisten enden am Pranger.

Im Leben des Poeten jagt ein Schicksalsschlag den nächsten: Antonios Bruder José nimmt sich mit nur 19 Jahren das Leben. 1866 stirbt auch der Vater. Wie seinen Eltern macht Antonio ein Lungenleiden zu schaffen, das sich zunehmend verschlechtert. Dennoch rezitiert er seine Gedichte bald schon in Theatern. Dort verliebt er sich in die zehn Jahre ältere portugiesische Schauspielerin Eugenia Camara, die seine Muse wird. Das Paar reist nach Rio de Janeiro und São Paulo, wo Antonio sein Rechtsstudium wieder aufnimmt und wichtige Kontakte mit einflussreichen Intellektuellen knüpft.

Sehnen nach Freiheit

Der Vortrag seines langen Gedichtes "Das Sklavenschiff" ist für Castro Alves ein voller Erfolg. In seinen Versen spiegeln sich ein noch nie da gewesenes Pathos und die kulturelle Entfremdung der versklavten Afrikaner wider. Antonio ist der erste Dichter, der sich bewusst des Schicksals der Sklaven annimmt und den Verdammten in den Senzalas, den erbärmlichen Sklavenhütten, eine Stimme verleiht.

Immer wieder vergleicht er deren Sehnsucht mit dem Freiheitstrieb eines Zugvogels, wenn er dichtet: "Ich bin wie der traurige Reiher, der am Ufer des Flusses wohnt. Der kalte Tau, der morgens mich benetzt, lässt meinen Leib erschaudern ... Er fliegt, der blaue Vogel, durch die Lüfte so frei." Auch Antonio sieht sich als rastlosen Kondor. Der stolze, weitsichtige Vogel wird zum Sinnbild für die dritte Generation der romantischen Dichtung in Brasilien, den Condorismo.

Einer der wohl berühmtesten brasilianischen Autoren, José de Alencar, ist von der Wortgewalt des "Dichters der Sklaven" hingerissen. "In seinem Werk schlägt das erhabene Gefühl nationalen Stolzes, diese Seele, die nur großen Dichtern und großen Staatsbürgern zu eigen ist", schwärmt er nach einer Begegnung in Rio. Noch sind es allerdings nur wenige Auserwählte, die den traurigen Hymnen von Freiheit und unerfüllter Liebe lauschen.

Antonio verfasst 1867 sein einziges Drama "Gonzaga", in dem Eugenia die Hauptrolle im Theater von São Paulo spielt. Die Beziehung zu jener Frau, die Castro Alves am stärksten in seinem Leben beeinflusst hat, zerbricht kurze Zeit später. Antonio versucht, sich in São Paulo von diesem schmerzlichen Verlust abzulenken. Auf einer Jagd entlädt sich eines Tages sein Gewehr und er erleidet eine Schusswunde am linken Bein. In seinem Delirium verfasst der Dichter düstere Verse.

Posthumer Ruhm

Noch zu Lebzeiten erlebt Castro Alves die bisher erste Veröffentlichung seines lyrischen Werkes "Espumas Flutuantes". Auch darin ist die unerwiderte Liebe ein wiederkehrendes Thema. Die Entzündung am Fuß verschlimmert sich und Antonio sieht seinen Tod bereits vor Augen. Im Sommer 1870 amputiert ein Arzt sein Bein wegen der schwachen Lungen ohne Narkose. Vom milderen Klima in Bahia erhofft sich der Patient Genesung. Er tritt seine letzte Überfahrt an, bis er am 6. Juli 1871 im Alter von 24 Jahren der Tuberkulose erliegt.

Sein früher Tod und seine politischen Verse machen Castro Alves erst posthum zu einem Helden des Widerstands gegen die Sklaverei und die Monarchie. In den Hafenspelunken von Bahia, in den Straßen von Rio und bei öffentlichen Versammlungen rezitiert und skandiert man Antonios Gedichte jetzt immer lauter. Seine Gesänge sind zu Schlachtrufen geworden wie einst in der Französischen Revolution, deren Verfechter er immer bewundert hat.

Ihre Unterschrift beendete die Sklaverei: Prinzessin Isabella, Regentin von Brasilien (1887).
© Public domain / via Wikimedia Commons / Marc Ferrez (Ausschnitt)

Im Sterbejahr von Castro Alves sind die Republikaner bereits eine so starke Kraft, dass ein neues Gesetz verabschiedet werden muss: Durch das "Gesetz des freien Bauches" kommt jedes Kind frei zur Welt. 1885 wird allen Sklaven über 60 die Freiheit gewährt. Ungefähr 720.000 Sklaven gibt es zu der Zeit noch in Brasilien, das als einziges westliches Land weiter an der Sklaverei festhält. Unter den Kaffeebaronen regt sich indes großer Unmut und die einst Kaisertreuen wenden sich erbost von ihrem Souverän ab.

Als Pedro II. schließlich verreist und seiner Tochter Isabel die Regierungsgeschäfte überlässt, will sie nicht länger zögern. Mit einer goldenen Feder unterzeichnet sie am 13. Mai 1888 die Lei Áurea, die der Sklaverei in Brasilien ein Ende setzt. Der größte Wunsch von Castro Alves hat sich endlich erfüllt. Die Maßnahme besiegelt letztlich auch das Schicksal der Monarchie: Kaum ein Jahr später wird Kaiser Pedro II. nach einem Militärputsch gestürzt und die Republik wird ausgerufen.

Stefan Haderer ist Kulturanthropologe und lebt in Wien.