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Der dritte Arm des Laokoon

Von Wolfgang Ludwig

Reflexionen
Ludwig Pollak (1868-1943) in seinem Arbeitszimmer.
© Museo Barracco / Orietta Rossini

Der Fund des fehlenden Arms der berühmten Skulptur brachte dem Kunstexperten Ludwig Pollak Weltruhm.


Kurz vor dem 16. Oktober 1943 kamen die ersten Warnungen - ausgerechnet von der Deutschen Botschaft in Rom: Die Gestapo, seit einigen Wochen im Land, hätte eine Liste der aus Rom zu deportierenden Juden erstellt. Einige tausend sollten es sein, darunter auch Ludwig Pollak, Antikenforscher und Kunsthändler von Weltruhm. Dutzende Kunstinteressierte und Sammler hatte er beraten, hatte Ankäufe empfohlen oder davor gewarnt. Er war selber damit reich geworden und hatte andere noch reicher gemacht.

Pollak glaubte nicht, was ihm von wohlwollender deutscher Seite zugeflüstert wurde - ihm könne doch nichts passieren, er hätte doch niemandem etwas getan. Die wenigen ihm gut gesinnten Deutschen ließen aber nicht locker: Es sei wirklich ernst, und da Pollak nicht hören wollte, ergingen ihre Warnungen an den Vatikan, wo Pollak dank seiner Expertise im Vatikanischen Museum einen exzellenten Ruf genoss. Da dem Vatikan Souveränität zugesichert wurde, könne man ihn doch dort aufnehmen. Und der Vatikan war bereit zu handeln. Am Vorabend des Samstags, 16. Oktober, kam ein Monsignore mit Auto und Fahrer zur Familie Pollak an die Piazza di Santi Apostoli, wo er mit seiner zweiten Frau und drei Kindern im Palazzo Odescalchi ein Stockwerk bewohnte, und versuchte Pollak den Ernst der Lage klarzumachen. Doch Pollak erzählte stundenlang aus seinem Leben und von seinen Funden ... - bis es zu spät war.

Gespür für das Echte

Ludwig Pollak wurde am 14. September 1868 in Prag als Sohn einer Tuchhändlerfamilie in bescheidenen Verhältnissen geboren. Die aufgeschlossenen Eltern schickten ihn aufs Deutsche Gymnasium, wo er vor allem in den antiken Sprachen brillierte und sich für das klassische Altertum zu interessieren begann. Danach gab es für den jungen Mann keine andere Wahl, als Archäologie und Kunstgeschichte zu studieren, erst in Prag, dann in Wien. Doch richtig wohl fühlte er sich in Wien nie. Kaum waren Ferien, zog es ihn wieder nach Prag, die damals blühendste Stadt in der Monarchie. Über die Heimkehr am Beginn der Weihnachtsferien in Wien schreibt er im Tagebuch: "Wien, 15.12.1890 Früh um 8 Uhr vom Nordbahnhof weg. Der Zug fuhr schnell, dennoch für mich zu langsam. Endlich um 3 Uhr in Prag." Pollak blieb daher nach dem Ende der Monarchie zeitlebens tschechischer Staatsbürger ("Ich bin kein Deutscher, ich bin Tschechoslovak").

Erste Exkursionen während der Wiener Studienzeit führten ihn nach Italien. Da ihm nach dem Doktorat in Wien als Jude und noch dazu nach einem Disput mit einem Professor die akademische Karriere verwehrt blieb, gab es nur ein Ziel: Italien! Die Italien-Sehnsucht hatte ihn schon als Zwölfjährigen gepackt, als er von einem Hausknecht, der mit Radetzky in Italien gewesen war, einen alten Reiseführer geschenkt bekam. Pollak betrachtete das Buch als seine Bibel und Anregung fürs Leben. Auch der von ihm verehrte Goethe war schließlich in dem gelobten Land gewesen, und aktuell war die Stadt wegen der intensiven Grabungstätigkeit gegen Ende des 19. Jahrhunderts für Archäologen ohnehin ein Paradies.

1895 konnte er sich schließlich, zuerst von einem Stipendium unterstützt, als Privatgelehrter in Rom niederlassen. Bereits im Jahr darauf machte er sich einen Namen, indem er Vasenfragmente aufgrund feinster Stilelemente dem Töpfer Hieron (5. Jh. v. Chr.) zuordnen konnte. Das sollte seine Spezialität werden: antike Kunstobjekte Künstlern oder Epochen treffsicher zuzuordnen und ihren Wert zu bestimmen. Bald war Pollak als Berater und Händler sehr gefragt. Das Deutsche Archäologische Institut ernannte ihn zum Mitglied, ebenso das Archäologische Institut in Wien, Kaiser Franz Josef erhob ihn zum Kaiserlichen Rat, und unzählige Sammler suchten seine Expertise.

1898 machte der in Rom bestens vernetzte Pollak die Bekanntschaft des russischen Botschafters Aleksandr Nelidov. Dieser war davor Botschafter in Konstantinopel gewesen und hatte dort reichlich antiken Goldschmuck erworben. Ausfuhrbeschränkungen galten nur auf dem Papier und schon gar nicht für einen Botschafter. Da Nelidov kein Fachmann war, gab er Pollak den lukrativen Auftrag, Ordnung in die Sache zu bringen, die Stücke zu beurteilen und die Provenienz zu beschreiben. Geld spielte keine Rolle. Pollak ging monatelang für Nelidov auf Studienreise in den Nahen Osten, nach Griechenland und in die Türkei und erstellte für seinen Auftraggeber einen Katalog, der wegen seiner Genauigkeit international höchste Beachtung fand. Weitere Aufträge waren die logische Folge.

In Rom hatte Pollak das Vertrauen eines weiteren Privatsammlers erlangt, des Senators Giovanni Barracco, der eine umfangreiche ägyptische und antike Privatsammlung besaß. Durch Pollaks Beratung konnte er diese gezielt ergänzen und in Rom ein Privatmuseum aufbauen, dessen Leitung später Pollak übertragen wurde. Das heutige Museo Barracco liegt unweit der Piazza Navona und ist ein Teil der städtischen Musei di Roma. Zahlreiche Einkäufer europäischer und amerikanischer Antikenmuseen kamen nach Rom und ließen sich von Pollak persönlich beraten.

Ein Geistesblitz

1903 machte Pollak einen folgenreichen Spaziergang am Esquilin, auf dessen frisch parzellierten Hängen wohlhabende Römer Villen errichten ließen. Der obere Hügel war auch in der Antike eine beliebte Wohngegend von Schön und Reich, Nero wollte dort seine enorme Steuersummen verschlingende Domus Aurea errichten. Kein Wunder, dass bei den Bauarbeiten um 1900 jede Menge antikes Material zu Tage kam, das Steinmetze zur Weiterverarbeitung einfach behielten oder sich dubiose Händler unter den Nagel rissen und gleich daneben an improvisierten Ständen weiterverkauften. Kunstinteressierte konnten dort durchaus interessante Objekte um wenig Geld erstehen.

Seit 1960 erhebt die Zentralfigur wieder ihren originalen, aber unvollständigen Arm.
© W. Ludwig

Pollak fiel auf seinem Spaziergang bei einem dieser Steinmetze ein abgewinkelter Arm auf. Sofort hatte er ein Gefühl, dass es der "richtige" Arm des Laokoon sein müsse. Diese Skulptur, die den Todeskampf des trojanischen Priesters Laokoon und seiner Söhne mit einer Schlange darstellt, war 1506 ebenfalls am Esquilin gefunden worden und stand nun im Vatikanischen Museum. Eigentlich handelt es sich bei der Marmorplastik um eine gut gemachte Kopie des verschollenen antiken Originals, dessen Figuren nach Johann Joachim Winckelmann "edle Einfalt und stille Größe" ausstrahlten.

Allerdings war die Statue bei der Auffindung unvollständig: Es fehlte unter anderem der rechte Arm des Laokoon, was damals kein Problem darstellte. Schnell bildete man ohne Kenntnis des Originals einen Arm nach und passte ihn an die Figur an. Viele Kunstinteressierte erinnern sich heute noch an Fotos des Laokoon mit dem nach oben ausgestreckten rechten Arm. Pollak schrieb in einem Aufsatz über seinen Fund: "Gleich sah ich, dass es der rechte Arm eines Laokoon sei und erwarb ihn, um ihn vor dem sicheren Untergang zu retten."

Doch Pollak behielt den Fund vorerst für sich, um Beweise zu finden, dass es wirklich das passende Stück sei. Erst 1904 war er ganz sicher und brachte den Arm in den Vatikan. Am 7.3.1904 notierte er im Tagebuch: "VM (Anm.: Vormittags) brachte ich den Laokoonarm in den Vatican. Die Custoden waren nicht wenig erstaunt." Der Vatikan ließ sich mit der Überprüfung Zeit und fügte den abgewinkelten Arm erst in den 1950er Jahren im Zuge einer Restaurierung an die Statue. Seit 1960 ist Laokoon mit abgewinkeltem Arm in den Vatikanischen Museen zu besichtigen.

. . . zuvor war der rekonstruierte Arm gen Himmel gestreckt.
© Hallwyl Museum / Public domain / via Wikimedia Commons

Pollak war jetzt zweifellos ein Grandseigneur in der römischen Archäologie. Seit Jahrzehnten lebte er nun in Rom (mit Unterbrechung während des Ersten Weltkriegs). In den Räumen privater Sammler ging er ein und aus und identifizierte quasi im Vorbeigehen immer wieder antike Funde als wertlos oder enorm bedeutend - wie im Hause des Russen Gregor Stroganow, der eine zufällig erworbene Athena-Statue lieblos neben dem Kücheneingang platziert hatte. Pollak ordnete sie dem Griechen Myron zu. Heute ist diese Athena im Frankfurter Liebieghaus zu bewundern.

In den späten Dreißigerjahren war die Welt eine andere geworden. Pollak nahm durchaus zur Kenntnis, was in Deutschland passierte, fühlte sich aber in seiner "Antikenwelt" in Rom sicher. Er bekannte sich deutlicher zu seinem Judentum und musste deswegen auch Schmähungen hinnehmen, indem ihm von neu eingesetzten und politisch entsprechend ausgerichteten Leitern deutscher Einrichtungen in Rom der Zutritt verweigert wurde. Einer dieser dubiosen Nazi-Günstlinge war der Kunsthistoriker Leo Bruhns, der ab 1934 Direktor der Bibliotheca Hertziana, einer von der deutschen Mäzenin Henriette Hertz 1913 in Rom gestifteten kunsthistorischen Bibliothek wurde und der Ludwig Pollak nach persönlichen Intrigen mit Hausverbot belegte. Im Zuge der Judendeportation 1943, von der auch Pollak betroffen war, beteiligte sich Bruhns an einem groß angelegten Diebstahl jüdischer Kulturgüter in Rom und verbrachte diese nach Deutschland. Für seine "besonderen Verdienste" erhielt Bruhns 1953 das Große Verdienstkreuz mit Stern der Bundesrepublik Deutschland.

Seiner Welt verbunden

Das Museo di Scultura Antica Giovanni Barracco bewahrt den Nachlass Ludwig Pollaks.
© Orietta Rossini

Hans von Trotha veröffentlichte kürzlich bei Wagenbach den Roman "Pollaks Arm" über Pollaks letzte Stunden in Rom, über seine (fiktiven) stundenlangen Diskussionen mit einer vom Vatikan geschickten Person - so lange, bis es im frühen Morgengrauen an der Tür des Palazzo Odescalchi klingelte. Unverständlich erscheint es dem Betrachter heute, wie Pollak trotz Warnungen sich und seine Familie dem Verderben ausliefern konnte. Doch dem Leser wird auch klar: Es war Pollak einfach unmöglich, wegzugehen, aus seinem Haus, seinen Sammlungen, seiner Stadt, seiner Welt ... dann lieber der Untergang. Trotzdem stellen sich Fragen: Warum gerade Pollak? Wären es andere römische Juden nicht auch wert gewesen, gerettet zu werden, auch wenn sie keine Kunstkenner waren? Hätte Pollak nicht wenigstens seine Frau und seine Kinder in den sicheren Vatikan schicken können?

Pollak, seine Familie und die anderen römischen Juden wurden wenige Tage nach der Festnahme nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Sein Nachlass ist im Museo di Scultura Antica Giovanni Barracco aufbewahrt.

Wolfgang Ludwig, geboren 1955, unterrichtet nach langjähriger Tätigkeit in Südosteuropa in Wien und schreibt Kulturreportagen.