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Von Rembetiko bis Punk

Von Katharina Hirschmann

Reflexionen
Athen ist das Kreuz zwischen Osten und Westen, auch musikalisch.
© Cavan Images / Getty Images

Die griechische Hauptstadt ist ein Schmelztiegel der unterschiedlichsten Kulturen, was sich auch in der Musik widerspiegelt.


Exarchia. Ein Stadtteil Athens nördlich vom Zentrum. Der Abend ist angebrochen, die Straßen füllen sich, und mit ihnen die Tavernen. Aus der Ferne hört man Straßenmusiker, die langsam näherkommen. Ihre Klänge sind keinem eindeutigen Genre zuzuordnen - und doch klingt etwas Griechisches darin an.

Dann sind die Musiker auch schon in Sichtweite. Eine großgewachsene blonde Frau tanzt vor den Musikern her, den Hut als Zahlungseinladung vor sich ausgestreckt. Die gute Laune der Band ist ansteckend und hat so gar nichts mit manchen tristen Erscheinungen hierzulande zu tun, die Abend für Abend die Besucher in Gastgärten "unterhalten", indem sie ihren Instrumenten für ein paar Cent gequälte Töne abverlangen. Die Musik dieser Band versprüht Lebensfreude. Das Instrumentalensemble besteht aus mehreren Bouzoukis - daher der als griechisch identifizierte Klang -, einer Klarinette, verschiedenen Schlagwerken und einem Dudelsack.

Verströmen Lebensfreude: Sourloulou
© Sourloulou

"Wir sind Sourloulou", verrät die Tänzerin, "das bezeichnet auf Griechisch ein Mädchen, das gerne Spaß hat und sich den unernsten Dingen des Lebens hingibt." Ihre Musik ist, wie die Bandmitglieder selbst, grenzüberschreitend, und damit, das ist die erste Erkenntnis: typisch griechisch.

Denn Athen ist nicht erst seit den Flüchtlingsströmen der jüngsten Vergangenheit Durch- und Einzugsgebiet für verschiedene Kulturen. Seit jeher kamen hier Menschen aus allen Richtungen, manche sind weitergereist, viele sind geblieben. Der kulturelle Austausch ist Teil der griechischen Kultur, oder wie der Universitätsprofessor Nikolaos Maliaras sagt: "Athen ist das Kreuz zwischen dem Osten und dem Westen."

Das spiegelt sich auch in der Musik wider. Sie ist quasi die tönende Landkarte der griechischen Geschichte. An ihren Harmonien kann man die kulturellen Einflüsse ablesen, ihre Instrumente zeugen vom Völkeraustausch. Am Beispiel von Sourloulou ist es der Einfluss vom Balkan, aus der osmanischen und aus der griechischen Kultur. "Für uns ist es universell", sagt die Tänzerin.

Begonnen hat die musikalische Entwicklung, historisch betrachtet, mit dem Byzantinischen Reich und der Hauptstadt Konstantinopel, das Griechenland das gesamte Mittelalter hindurch umfasste und im 15. Jahrhundert zerfiel. Die byzantinische Musik zeichnete sich durch Einstimmigkeit aus. Instrumente gab es in der weltlichen byzantinischen Musik zwar auch, doch gibt es hiervon keine schriftlichen Überlieferungen.

Das byzantinische Musiksystem wird Octoechos genannt. Es basiert auf acht Modi: Sie sind die unmittelbaren Vorläufer der Kirchentonarten und beeinflussen als solche unsere westliche Musik - und nicht zuletzt die griechische Volksmusik. Das ist die zweite Erkenntnis: Griechische Volksmusik ist eine modale Musik und unterscheidet sich damit grundlegend vom Dur-Moll-System.

Dieser byzantinische Einfluss ist heute noch in der Kirchenmusik Griechenlands zu finden. Einstimmige Gesänge dringen aus den orthodoxen Kirchen auf die Straßen Athens, teils glaubt man, einen Muezzin zu hören. Die Skalen klingen eindeutig nach dem, was man landläufig als "orientalisch" bezeichnen würde, und versetzen einen mit einem Schlag in die osmanische Welt. Auch das hat seine Berechtigung, denn nach dem Zerfall des Byzantinischen Reichs kam das Osmanische Reich, unter dessen Herrschaft Griechenland bis zur Griechischen Revolution im Jahre 1821 stand.

Auch in der traditionellen griechischen Volksmusik, dem sogenannten Rembetiko, spiegelt sich dieser Einfluss wider. Die acht Modi, nach denen byzantinische Musik funktioniert, sind hier ebenfalls erhalten. Das typische Instrument des Rembetiko ist die Bouzouki. Dieses Lauteninstrument mit seinem birnenförmigen Korpus ist inzwischen untrennbar mit Griechenland verbunden, nicht zuletzt der berühmte Sirtaki wird auf ihr begleitet. Jener Tanz, den man hierzulande für die heimliche Nationalhymne Griechenlands hält, der aber erst 1964 von Mikis Theodorakis komponiert wurde - und zwar für den Film "Alexis Sorbas".

Anthony Quinn (l.) als Sirtaki-tanzender Alexis Sorbas
© Archiv

Die Tanzschritte wurden vereinfacht, weil Anthony Quinn angeblich nicht in der Lage war, den weit schwierigeren Schritten des fünftaktigen Pentosalis zu folgen. Er selbst behauptete, aufgrund einer Fußverletzung, die Legende hingegen sagt, er sei einfach ein schlechter Tänzer gewesen. Jedenfalls ist das die dritte Erkenntnis: Der Sirtaki ist zwar im Stile griechischer Volksmusik komponiert, aber eigentlich eine Filmmusik.

Zurück zur Bouzouki. Diese kam im Zuge der sogenannten kleinasiatischen Katastrophe hierher, der Auseinandersetzung zwischen dem Königreich Griechenland und dem anatolischen Teil des im Ersten Weltkrieg zerschlagenen Osmanischen Reichs zwischen 1919 und 1922. Diesen Umständen entsprechend ist der Grundcharakter der griechischen Volksmusik ein trauriger. Heute jedoch füllt sie die Herzen der Griechen mit Freude - und die Tavernen in Exarchia mit Besuchern. Tatsächlich ist es keine Seltenheit, in diesem Viertel Bars zu finden, in denen Rembetika gespielt werden.

Der griechische Himmel hängt voller Bouzoukis...
© Hirschmann

Das ist erstaunlich, denn Exarchia steht eigentlich für Revolution, und abgesehen von Rembetika hört man hier vor allem Punk-Rock. Exarchia, gerne auch "Anarchia" genannt, hat sich über Jahre selbst verwaltet. Die Polizei ließ man einfach draußen, was dazu führte, dass Kriminalität und Drogenhandel florierten. Das ist die Schattenseite.

Die Sonnenseite zeigt sich hingegen im "Parko", jenem Park, der 2016 in Eigeninitiative entstanden ist. Bewohnerinnen und Bewohner von Exarchia waren der Ansicht, in ihrem Stadtteil gebe es nicht genug Grünflächen. Kurzerhand brach man den Asphalt eines zen-tralen Parkplatzes auf und pflanzte in wochenlanger, schweißtreibender Arbeit Bäume und Sträucher, errichtete einen Spielplatz und setzte eine Rutsche in die Mitte und einen Zaun rundherum. Parko ward somit geboren und mit ihm ein Ort für öffentliche Veranstaltungen verschiedenster Art, von Lesungen über Konzerte bis zu Filmvorführungen.

Hier kommen Menschen zusammen - und das hat inzwischen auch die Polizei akzeptiert. Heute ist sie wieder in Exarchia präsent, was nicht nur für Wohlwollen sorgt. "Kill the cop inside of you", liest man etwa an einer Hauswand, an der auch das Bild eines Buben hängt, der hier 2008 von einem Polizisten erschossen wurde. Der damals 15-jährige Alexandros Grigoropoulos wird seither verehrt, und alljährlich wird an seinem Todestag, dem 6. Dezember, gegen Polizeiwillkür demonstriert. Überhaupt wird hier gerne und oft demonstriert. Flugblätter am Boden gehören genauso zum Stadtbild wie Graffiti und Parolen an den Wänden.

Gedenkstätte für Alexandros Grigoropoulos in Exarchia.
© Mendhak, CC BY-SA 2.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0>, via Wikimedia Commons

Dieses politische Engagement ist das Markenzeichen Exarchias. Auch die Vortänzerin von Sourloulou sieht sich als politische Aktivistin. Gemeinsam mit ihrem Tanzensemble tritt sie regelmäßig bei Demonstrationen auf, für das Klima oder gegen rechtsextreme Parteien. Musik und Politik scheinen hier Hand in Hand zu gehen. Auch die Musikerin Kristi Stassinopoulou bestätigt diese Annahme. Wenn auch ihre Musik jener von Sourloulou in nichts ähnelt, so eint sie doch ihr politischer Anspruch, wie die Musikerin erklärt.

Wenn man in Athen geboren ist, so Stassinopoulou, trage man diesen Aktivismus gewissermaßen in sich. Denn politisch haben die Bewohnerinnen und Bewohner von Athen einiges mitgemacht. Wie etwa die bereits erwähnte kleinasiatische Katastrophe von 1922, die von einem enormen Bevölkerungsaustausch in Form von Millionen Flüchtlingen begleitet wurde. Unmittelbar an den Zweiten Weltkrieg schloss der Bürgerkrieg an, es folgte die bis in die 1970er Jahre andauernde Monarchie sowie die Militärdiktatur von 1967 bis 1974. Dazu kamen der Jugoslawienkrieg vor der Tür, der Griechenland von Europa abkapselte, und die Wirtschaftskrise, in der sich das Land seit Jahren befindet, die noch dazu von ständigen Flüchtlingsströmen begleitet wird.

Punk gehörte in Kristi Stassinopoulous Jugend zum guten Ton. Sie sei damit aufgewachsen, ebenso wie mit Rembetiko, der städtischen griechischen Volksmusik. Beide Musikrichtungen seien fest in ihr verwurzelt, genauso wie der politische Ton als Grundakkord. Als echte Athenerin könne man sich dessen nicht erwehren. Auch wenn ihre Texte eigentlich von alltäglichen Dingen handeln. Ihre Karriere begann in den 80er Jahren, als sie Griechenland beim Eurovision Song Contest vertrat. Damals war ihre Musik kommerziell und gefällig, wie sie selbst sagt. Heute hat sie sich längst in die alternative Szene zurückgezogen, in der sie gemeinsam mit ihrem Mann, Stathis Kalyviotis, seit Jahren als Duo erfolgreich ist.

Musikalisch werden die zwei nicht nur vom Punk ihrer Jugend und vom Psychedelic Rock beeinflusst, sondern vor allem von der griechischen Volksmusik. Eine größere Rolle als der Rembetiko spiele für sie und ihren Mann die Dimotika, die griechische Volksmusik vom Land, die sich der Natur widmet, den Klängen des Meeres und der Wellen. "Greekadalia" heißt eines ihrer Alben, das die Verschmelzung der Genres namentlich abbildet.

Westlicher Einfluss

Aber wo bleibt bei all dem der Einfluss des Westens, könnte man spätestens hier fragen. Er hat in Griechenland relativ spät Eingang gefunden, erklärt Universitätsprofessor Nikolaos Maliaras. Denn im 19. Jahrhundert gab es starke nationale Bestrebungen. Ausnahmen sind jene Inseln, die nicht dem Osmanischen Reich unterlagen, sondern zu Italien oder Frankreich gehörten. Diese konnten die westeuropäische Entwicklung in der klassischen Musik früher antizipieren und beeinflussten damit in weiterer Folge wiederum die griechische Musiklandschaft.

Während man sich also erst noch gegen den westlichen Einfluss sträubte, war es anschließend genau umgekehrt: Klassische Komponistinnen und Komponisten fürchteten, in ihren Werken nicht westlich genug zu sein, weshalb man traditionelle Elemente vermied. Denn die klassische Musik hatte in Griechenland selbst einen schweren Stand, weshalb es vor allem galt, außerhalb des Landes Erfolg zu suchen.

Heute komponiert man anstandslos traditionelle Volkslieder zu Tanzbeats oder modale Tonarten in der Oper. Griechenland beweist damit nicht nur den Mut, unterschiedliche kulturelle Einflüsse, sondern auch Traditionelles und Zeitgenössisches zu verknüpfen - und erweist sich damit nicht nur als Kreuz zwischen Ost und West, sondern auch zwischen der Vergangenheit und der Zukunft. Das ist die vierte Erkenntnis.

Hinweis:
Von 14. bis 17. Februar läuft in der Ö1-Sendung "Radio-Kolleg" jeweils um 9.45 Uhr ein Beitrag über die Musikstadt Athen.

Katharina Hirschmann, geboren 1986, Studium der Romanistik und Germanistik, arbeitet als freie Journalistin in Wien.