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So pummert Österreich

Von Wolfgang Machreich

Reflexionen
Die Pummerin bei ihrer Ankunft vor dem Stephansdom am 26. April 1952.
© Erzdiözese Wien

Aus Kriegsrelikten hergestellt, wurde die neue Glocke vor 70 Jahren von Linz nach Wien in den Stephansdom gebracht.


Es ist lange nach Mitternacht, aber noch immer drängen sich Menschen am Wiener Stephansplatz. Alles andere als eine gewohnte Szenerie in dieser Zeit. "Der Dritte Mann" und sein Wien sind noch nicht lange vorbei, der Film hatte erst im Jahr davor einen Oscar gewonnen. Da gesellt sich in dieser Nacht des 27. April 1952 zu der auf der Zither gespielten Filmmusik ein von den Wienern lange vermisster Klang dazu: "Endlich, jetzt ist es so weit", spricht Rundfunkreporter Hans Wuschko mit einer in Tonalität und Stil zwischen Fußballreportage und Opernkritik hin und her wechselnden Stimme ins Live-Mikrofon.

"2 Uhr 40 Minuten, zum ersten Mal erhebt die neue Pummerin auf Wiener Boden probeweise ihre Stimme." Wuschko und die Menge am Stephansplatz halten den Atem an. "Die Glocke hängt still", raunt der Reporter ins Mikro, als müsste er aufpassen, dass ein zu forsches Wort nicht noch die ganze Aktion zum Scheitern bringt. Hammerschläge sind zu hören. "Ein langes, dickes, starkes Seil ist um den Klöppel gebunden", meldet sich Wuschko, beschreibt, was er sieht.

"Vier oder fünf Arbeiter, ich kann es von hier nicht ausnehmen, ich musste mich weiter zurückziehen, setzen nun langsam den Klöppel in Schwingung." Ein tiefer Atemzug. Pause. Die Reporterstimme nimmt Haltung an. Mit einem feierlich-würdevoll vorgetragenen Satzakkord übergibt Hans Wuschko die Glocke an die Stadt: "Bisher hat Wien seine neue Pummerin gegrüßt, nun grüßt die Pummerin zum ersten Mal Wien: Pummmm, pummmm..."

Abschied mit Folklore

Florian Bauchinger, Domführer von St. Stephan, vor der größten Glocke des Landes.
© Wolfgang Machreich

Bis ins 19. Jahrhundert wurde die Pummerin mit weichem B geschrieben, sagt Florian Bauchinger, "das passt auch besser zu ihrem Klang, sie klingt doch weich, sie macht ,bummm‘ ..." Bauchinger ist Domführer zu St. Stephan. Die Pummerin und er haben den gleichen Arbeitsplatz. Und die zwei kommen von gleich her: Beide sind gebürtige Oberösterreicher. Ein Flecken "Hoamatland" in Wien. Während er von dem mit dieser Glocke zusammenhängenden Heimatgefühl erzählt, lehnt der Domführer lässig an der Metallbrüstung des eisernen Glockenstuhls. Komfortzone Nordturm.

In Oberösterreich werde die Erinnerung an die Pummerin hochgehalten, sagt Bauchinger: "In meiner Schulzeit haben wir uns mit der Klasse selbstverständlich den Glockenring beim Landhaus in Linz angeschaut." Ein ins Pflaster eingelassener Metallring mit 3,14 Meter Durchmesser vor dem oberösterreichischen Regierungssitz erinnert an den Ort, wo die Pummerin am 25. April 1952 mit viel weltlicher und kirchlicher Folklore verabschiedet wurde. Nachdem sie einige Monate lang als Hauptattraktion einer Ad-hoc-Landesausstellung Zigtausende zum "Gemma Pummerin-Schaun!" lockte.

Tausende standen auch entlang des Wegs Spalier, bestaunten den auf einem Tieflader von zwei Zugfahrzeugen über die Landstraßen geschleppten 20 Tonnen schweren metallenen Riesen. Oberösterreichs Landeshauptmann Heinrich Gleißner war beim Triumphzug dabei und zählte noch mehr Publikum: "Wir kommen an die Grenze in Enns", erzählte er in einer Radiosendung, "alles in Extra-Uniform, die Russen gegrüßt, die Amerikaner gegrüßt, keiner gefragt nach einem Ausweis, und die Königin von Österreich ist durchgefahren, an einer Million Menschen vorbei."

Die enorme Zahl dürfte seiner Hochstimmung geschuldet sein, und der Freude darüber, dass der Konvoi zwar vom strengen Blick eines über der Wachstation hängenden Stalin-Porträts gemustert, ansonsten aber von den Sowjetsoldaten an der Zonengrenze formlos durchgewunken wurde. Die Begeisterung über die Riesenglocke und ihre geradezu ikonische Wirkung verdeutlicht eine Beobachtung Gleißners: Die Eltern haben ihre Kinder zur Glocke hin gehoben und sie aufgefordert: "Greifts’s an!" Am Nachmittag des 26. April in Wien, beschließt Gleißner seine Radioerinnerung, "wurde die Pummerin als Geschenk des Landes Oberösterreich übergeben".

Die Pummerin auf der Reise.
© Erzdiözese Wien

Wobei die Glockenspende alles andere als glatt über die Bühne ging: Honoriges Publikum in großer Zahl hatte sich im Oktober 1950 auf der Zuschauertribüne in St. Florian versammelt, um dem Glockenguss zu applaudieren. Doch statt Applaus war schneller Kehraus angesagt. Nach dem Anstich floss heiße Glockenspeise aus und setzte die Tribüne in Brand. "Dass die Pummerin beim ersten Mal misslungen ist, ist ganz stark politisch begründet gewesen", sagt Christof Grassmayr und blickt hinter die Kulissen dieses Glockenkrepierers.

Der Seniorchef der gleichnamigen Glockengießerei in Innsbruck beruft sich für diese Einschätzung auf Gespräche mit Arbeitern der Glockengießerei St. Florian, die ihm erzählten, die Vorbereitungen zum Guss hätten sehr schnell stattfinden müssen. Als Motiv für den Zeitdruck nennt Grassmayr die Bundespräsidentenwahl 1951 und dass Kandidat Gleißner mit der von ihm initiierten oberösterreichischen Pummerin einen guten Wahlkampfstart einläuten wollte. Bundespräsident wurde zwar der andere Kandidat (Theodor Körner), aber von der vermeintlichen Wahlkampfhilfe profitiert Österreich immer noch.

Politisch punziert

Gefragt nach dem Auslöser für den Pfusch beim ersten Guss, zitiert Grassmayr Schillers "Glocke": "Fest gemauert in der Erden / Steht die Form, aus Lehm gebrannt." - "Aber die haben vor lauter Hudeln die Form nicht ausreichend fest gemauert, deswegen ist die Glockenspeise unten ausgeronnen."

Nicht nur ihre Herstellung, bereits die Metall-Melange, aus der die Pummerin gegossen wurde, ist durch und durch politisch punziert. Domführer Bauchinger zeigt hinauf zu den sechs Türkenköpfen auf der Glockenkrone, die auch den Kern der Glocke symbolisieren. Die neue Pummerin ist aus den Resten der alten Pummerin gegossen, die aus den von der Türkenbelagerung zurückgelassenen Kanonen geformt war. "Gegossen bin ich aus der Beute der Türken, als die ausgeblutete Stadt nach tapferer Überwindung der feindlichen Macht jubilierte. 1711", lautet eine Inschrift auf der Pummerin, die sich auf das Herstellungsdatum ihrer Vorgängerin bezieht.

"Geborsten bin ich in der Glut des Brandes. Ich stürzte aus dem verwüsteten Turm, als die Stadt unter Krieg und Ängsten seufzte. 1945", beschreibt ein zweiter Text den Anlass für den Neuguss. In dem Glockensturz entdeckt Domführer Bauchinger eine für die thematische Umwidmung der neuen Pummerin nicht unwichtige "Ironie der Geschichte": "Als die alte Pummerin in Folge des Dombrands am 12. April 1945 um halb drei Uhr am Nachmittag vom Südturm in die Tiefe stürzte, zertrümmerte sie das dort stehende "Türkenbefreiungsdenkmal." Ein Fingerzeig gegen Krieg und Kriegsjubel schlechthin?

© Wolfgang Machreich

"Aus der Glocke des Siegs über die Türken ist eine Friedensglocke geworden. Die Maria der neuen Pummerin ist nicht mehr die Generalissima des Entsatzheers, sondern die Friedenskönigin", sagt Bauchinger und zeigt auf eine weitere Inschrift, in der es nach Auflistung der geistlichen, politischen und handwerklichen "Väter der Glocke" heißt: "Geweiht der Königin von Österreich, damit durch ihre mächtige Fürbitte Friede sei in Freiheit. 1951." Noch eine Frau spielt für die neue Pummerin eine wichtige Rolle: Die Ziseleurin Gertrude Stolz in St. Florian gab den Texten, Ornamenten und Wappen auf der Glocke ihre Prägnanz - quasi für die Ewigkeit.

Glockengießer Grassmayr will diesen Zeithorizont durchaus wörtlich verstanden wissen: "Die alte Pummerin wurde 1711 gegossen, und wenn der Brand des Doms nicht gewesen wäre, würde die heute noch läuten." In der Pfarrkirche St. Martin im Ybbsfelde, sagt Grassmayr, "hängt die älteste Glocke Österreichs, gegossen 1200, die noch der Funktion nachkommt, uns Menschen zu rufen und zu mahnen". Laut Wikipedia ist diese ebenfalls dem Frieden geweihte Glocke zudem die "älteste Oktavglocke der Welt" - und somit eine Vorfahrin aus der Tonfamilie der Pummerin.

Mit einem Schlagton c plus 4/16 (vier Sechszehntel eines Ganztons) ist die Pummerin "eine einwandfreie Oktavglocke mit Mollterz und vollkommen ausgeglichener Innenharmonie". Bei deren Spiel der Domführer ins Schwärmen kommt: Er sei schon oft während des Läutens heroben gewesen und habe den "angenehmen, tiefen Klang genossen". Bauchinger wagt den Vergleich, dass die alte Pummerin "sicher optisch ein Meisterwerk war, aber klanglich haben wir uns mit der neuen definitiv verbessert".

Klöppel im Museum

Ein schwieriges Thema, in das sich der Domführer, von der Höhe des Nordturms beflügelt, da hineinwagt. Der Glockengießer, auf den Vergleich angesprochen, runzelt die Stirn: "Das ist so, wie der Kaiserschmarrn von der Großmutter besser schmeckt als der von der Mutter, das sind so Gefühlssachen", schraubt Grassmayr den Klangjubel des Domführers runter: "Es kann mir keiner sagen - es gibt ja auch nicht mehr viele, die die alte Pummerin gehört haben -, die alte war klanglich besser als die neue. Man kann die Pummerin wiegen, man kann den Durchmesser messen, aber der Klang ist nicht messbar."

Auf die Frage, wie Glockengießer einen bestimmten Ton in die Glocke reingießen, damit auch der gewollte geläutet wird, antwortet Grassmayr erneut in Küchenlatein: "Wir haben als Kinder in der Küche die Suppenhefen aus Blech ausgeliehen; je größer der Hafen, desto tiefer der Ton. Unsere Kunst ist, dass wir der Glocke einen ganz bestimmten Ton geben, und das muss ich berechnen."

© Erzdiözese Wien

Neu berechnet, geschmiedet und ausgetauscht wurde 2011 der Klöppel der Pummerin - mit großem Erfolg, der Grassmayr freut: "Ich hatte immer Angst, dass Wiener sagen: ‚Heast, so viel besser ist der a ned!‘ Aber die waren so zufrieden, dass sie uns sogar den alten Klöppel geschenkt haben. Der steht jetzt bei uns im Glockenmuseum in Innsbruck."

In Wien läutet seither der neue Klöppel die Pummerin - zu ausgewählten Anlässen. Einer davon ist der Kirchweihtag am 23. April. Aufgrund des Osterdatums und dadurch nötiger Anpassungen des Kirchenkalenders wird dieses Kirchweih-Pummern in diesem Jahr am 25. April stattfinden, erklärt Bauchinger.

Läutet die Pummerin an solchen außergewöhnlichen Tagen, wird oft in der Dompfarre angerufen und gefragt, ob der Papst oder ein Bischof gestorben seien. Doch heuer ist der Anlass dafür ein freudiger: Die Pummerin feiert sich selbst und ihren runden Einstand in Wien. Reporter Wuschko würde sagen: "Heute grüßt die Pummerin so wie seit 70 Jahren Wien: Pummmm, pummmm ..."

Wolfgang Machreich ist freier Autor und Journalist.