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Eine erfolgreiche Emigration

Von Bernhard Wenzl

Reflexionen

Henry Kreisel musste 1938 Wien verlassen, in Kanada gelang ihm eine Karriere als Professor und Autor. Zum 100. Geburtstag am 5. Juni.


"16. Mai 1940. Um 12:30 Uhr werde ich von der Arbeit weggerufen und mir wird mitgeteilt, dass ich interniert werde. Fünf Stunden im Rathaus von Leeds, dann Pontrefract. Baracken voll Schmutz und Staub. Wir schlafen auf dem Boden. Essen sehr gut. Wir dürfen Besucher empfangen. Meine Mutter kommt zu Besuch, und ich schreibe ein Gedicht darüber. Jeden Tag werden wir zwei Stunden an die frische Luft gebracht. Wir haben Varieté und klassische Konzerte. Auch die eigenen Leute unterhalten uns. Es gibt einen hervorragenden Geiger, der jeden Abend spielt. Wir sehen ihn nicht, wir hören nur den Klang seiner Geige."

Mit diesen Zeilen beginnt der damals 17-jährige Henry Kreisel sein "Diary of an Internment". Die tagebuchartigen Aufzeichnungen schildern seine Inhaftierung in England und Internierung in Kanada. Kurz nach dem "Anschluss" an Nazi-Deutschland ist ihm die Ausreise aus Österreich gelungen. Seither arbeitet er als Schneidergehilfe in einer Kleiderfabrik im nordenglischen Leeds.

Als Hitler Großbritannien angreift, wird er zum feindlichen Ausländer erklärt und in einem Sammellager auf der Isle of Man festgesetzt. Im Juli 1940 wird er mit 1.500 Personen auf einem Schiff nach Ostkanada verbracht. Den ersten Monat verbringt er in einem Lager nahe Trois-Rivières, die achtzehn folgenden Monate in einem Lager bei Fredericton.

Zwiespältige Stadt

Henry Kreisel wird als Sohn einer jüdischen Mittelstandsfamilie am 5. Juni 1922 in Wien geboren. Er verlebt eine behütete Kindheit und Jugend in der Leopoldstadt. Mit den Eltern und dem um zwei Jahre jüngeren Bruder unternimmt er gerne Ausflüge an die Donau und in den Prater. Schon früh interessiert er sich für Literatur und verfasst Gedichte und Geschichten. Als Gymnasiast besucht er regelmäßig das Burgtheater und die Staatsoper.

Doch im Mai 1938 führt ein antisemitischer Zwischenfall an der Schule dazu, dass fortan dem Unterricht fernbleibt. Mit Unterstützung einer Verwandten kann er im Juli 1938 nach England emigrieren; sein Bruder folgt im Jänner 1939, seine Eltern kommen nach der Enthaftung aus den Konzentrationslagern Dachau und Ravensbrück im August 1939 nach.

Im viele Jahre später erschienenen Aufsatz "Vienna Remembered" erinnert Kreisel sich an seine frühere Heimatstadt: "Die letzten vier Monate meines Lebens in Wien haben viel von der Zuneigung, die ich für die Stadt hatte, ausgelöscht, und bis heute sind meine Gefühle für Wien sehr ambivalent geblieben. Es ist eine Stadt des Lichts, doch immer wieder erlischt das Licht und die Dunkelheit verschlingt die Stadt. Es ist eine Stadt der Musik und des Tanzes, aber die Musik wird kakofonisch und die Tänzer verwandeln sich in fratzenhafte und bedrohliche Gestalten. Es ist eine Stadt mit eleganten Straßen und schicken Geschäften, doch plötzlich ist sie voll rasender berauschter Mörder."

Für Kreisel bedeutet das Ende seines bisherigen Lebens in Österreich den Beginn seiner späteren Karriere in Kanada. In Leeds besucht er die Abendschule, um seine lückenhaften Englischkenntnisse zu verbessern. In Fredericton pflegt er regen Umgang und Austausch mit Künstlern, Intellektuellen und Wissenschaftern, liest viel Literatur und schreibt eigene Texte. Etwa arbeitet er an dem unvollendet gebliebenen Bildungsroman "The Torch of Hate".

Zu jener Zeit fasst er den Entschluss, in Kanada zu bleiben und Autor zu werden. Seine Werke will er nur noch auf Englisch verfassen. Als Vorbild dient ihm der britische Schriftsteller Joseph Conrad, der einer polnischsprachigen Familie aus dem Gebiet der heutigen Ukraine entstammte.

Im November 1941 begibt sich Kreisel nach Toronto, nachdem er vorzeitig aus dem Internierungslager entlassen wird. Zunächst erlangt er am Harbord Collegiate Institute die Hochschulreife, hinterher nimmt er das Studium der englischen Literatur an der University of Toronto auf. 1947 erwirbt er den Master of Arts. Anschließend wechselt er als Englischdozent an die University of Alberta in Edmonton, wo er 1950 zum Assistant Professor und zwei Jahre später zum Associate Professor ernannt wird.

Ein von der Royal Society of Canada verliehenes Stipendium erlaubt es ihm, an der University of London über "The Problem of Exile and Alienation in Modern Literature" zu dissertieren. Nach seiner Promotion kehrt er an die University of Alberta zurück, wo er 1959 zum Full Professor befördert wird.

Illusionen beiderseits

Neben seiner akademischen Laufbahn verfolgt Kreisel konsequent schriftstellerische Ambitionen. Bereits 1948 wird sein erster Roman in Kanada veröffentlicht. "The Rich Man" erzählt vom 53-jährigen jüdischen Auswanderer Jakob Grossmann. Nach mehr als 30 Jahren Schufterei in einer Kleiderfabrik von Toronto entschließt er sich, im Frühjahr 1935 seine Mutter und Schwestern in Wien zu besuchen. Obwohl er nur über geringe Ersparnisse verfügt, reist er in einem weißen Alpaka-Anzug auf einem Luxusdampfer nach Europa.

Der Wieser Verlag hat Henry Kreisels Roman "The Rich Man" 2021 in der deutschsprachigen Erstübersetzung von Sebastian Raho unter dem Titel "Das ist dem Walzer doch egal" veröffentlicht (289 Seiten, 21,- Euro).
© Wieser Verlag

Bei seiner Ankunft in der Donaumetropole erscheint er den mittellosen Familienmitgliedern als (erfolg)reicher Geschäftsmann: "Für sie war jeder wohlhabend, der in Nordamerika lebte. Diese Schlussfolgerung brauchte keinen Beweis, denn es war offensichtlich." Allmählich weicht die Freude über das Wiedersehen der Enttäuschung über sein Unvermögen, die jüngste Schwester mit drei Kindern nach dem Unfalltod ihres Manns finanziell zu unterstützen.

Kreisels Roman bietet nicht nur vielsagende Eindrücke von der jüdischen Kultur in Wien, sondern auch aussagekräftige Einblicke in die zeitgenössischen Vorstellungen von Österreich und Kanada. Während Jakob Grossmann blind dem Bild vom heiter beschwingten Leben in der Walzerstadt vertraut, glauben seine Verwandten fest an den beruflichen Aufstieg in der Neuen Welt. Angesichts der wirtschaftlichen Situation des Besuchers und des bedrückenden Alltags im austrofaschistischen Staat erweisen sich ihre Erwartungen als illusionär.

Gegen Ende herrscht die Angst vor der politischen Entwicklung im Land, die der später Verunglückte so umreißt: "Hitler will Österreich haben, und ich sehe nichts, was ihn dabei aufhalten könnte. Ich glaube, früher oder später wird er mit Mussolini einen Pakt aushandeln. Dann fällt ihm Österreich zu wie eine reife Frucht."

Kreisels universitärer Werdegang umfasst viele beachtliche Karriereschritte. 1961 wird er zum Leiter des Englischinstituts an der University of Alberta ernannt. Diese Stelle behält er bis 1967, als ihm das Amt des stellvertretenden Dekans für Doktoratsstudien übertragen wird. Von 1969 bis 1970 ist er Fakultätsdekan, danach für fünf Jahre Vizepräsident der Universität. 1975 wird er zum Universitätsprofessor berufen und folgt einer Einladung zu einer Gastprofessur am renommierten Wolfson College der Universität Cambridge. Nach seiner Rückkehr nach Edmonton lehrt und forscht er an den Instituten für Komparatistik und für Theaterwissenschaft.

Besondere Verdienste erwirbt Kreisel sich bei der Etablierung der kanadischen Literaturwissenschaft als eigenständiger akademischer Disziplin. Seine Aufsätze "Problems of Writing in Canada" und "The Prairie: A State of Mind" gelten bis heute als Grundlagentexte der Kanadistik.

Zusätzlich zu seinen akademischen Aufgaben übernimmt Kreisel zahlreiche Funktionen in regionalen und nationalen Gremien. Von 1959 bis 1960 ist er als Präsident der Association of Academic Staff an der University of Alberta und von 1962 bis 1963 als Präsident der Association of Canadian University Teacher of English tätig. Ab 1963 leitet er für zwei Jahre den Canada-Council-Ausschuss zur Vergabe von Doktoratsstipendien im Fach englische Literatur. Von 1966 bis 1969 sitzt er als Preisrichter in der Governor-General’s Award Jury for Literature. 1966 wird er in den Verwaltungsrat und 1977 in die Bewertungskommission der University of Alberta gewählt. 1987 berät er den Staatssekretär für Multikulturalität in Ottawa zur Gründung eines Heritage Languages Institute in Westkanada.

Trotz der hohen Arbeitslast kann Kreisel sein schriftstellerisches Schaffen fortsetzen. In diesen Jahren entstehen zahlreiche Kurzgeschichten, die von Begegnungen zwischen Menschen aus unterschiedlichen Welten erzählen, aber erst 1981 im Sammelband "The Almost Meeting and Other Stories" gedruckt werden.

Mit der Veröffentlichung seines zweiten Romans 1964 wendet sich Kreisel den heiklen Fragen von Mitschuld und Verantwortung für den Holocaust zu. Im Mittelpunkt der Handlung von "The Betrayal" steht der junge jüdische Geschichtsprofessor Mark Lerner. Seine klaren Positionen geraten ins Wanken, als ein KZ-Überlebender aus Europa 1952 in Edmonton eintrifft und einen persönlichen Rachefeldzug gegen seinen vermeintlich gewissenlosen Denunzianten führt. Was anfangs als eindeutiger Verrat unter NS-Verfolgten erscheint, wird nach und nach zu einem undurchsichtigen Fall von Opfer- und Täterschaft.

Ehrungen und Preise

Für seine Leistungen als Professor und Autor wird Kreisel mit einer Reihe von Preisen und Ehrungen ausgezeichnet. 1960 erhält er die Präsidentenmedaille der University of Western Ontario in London und 1983 den Literaturpreis der J.I. Segal Foundation in Mon-treal. 1960 wird er zum Mitglied des Internationalen Instituts für Kunst und Literatur in der Schweiz und 1970 zum Mitglied der Royal Society of Arts in Großbritannien ernannt. 1986 verleiht ihm die University of Alberta den A.C. Rutherford Award für seine hervorragende Lehrtätigkeit und die Provinzregierung in Edmonton den Sir Frederick Haultain Prize für seine außerordentlichen Beiträge zur Kunst. Nach seiner Emeritierung 1987 wird er mit einer der höchsten kanadischen Auszeichnungen, dem Order of Canada, gewürdigt.

Henry Kreisel stirbt am 22. April 1991 im Alter von 68 Jahren. Das Begräbnis auf dem jüdischen Friedhof von Edmonton setzt den Schlusspunkt unter sein bemerkenswertes Leben, das mit der Geburt, Kindheit und Jugend in Wien begonnen hat. Dazwischen liegt nicht nur die Ausreise aus Österreich, sondern auch die Inhaftierung als feindlicher Ausländer in England und die monatelange Internierung in Kanada. Mit seiner späteren Karriere als Professor und Autor ist ihm etwas gelungen, das vielen jüdischen Flüchtlingen verwehrt geblieben ist: eine erfolgreiche Emigration.

Bernhard Wenzl studierte Literatur- und Kulturwissenschaft und ist als Web Content Manager tätig. Sein Hauptinteresse gilt moderner englischsprachiger Literatur.