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Edles Weiß der Steilwand

Von Wolfgang Machreich

Reflexionen
Als Symbol alpiner Identität verehrt, als Heilpflanze geschätzt: das Leontopodium nivale.
© W. Machreich

Der 14. Juli ist der Tag des Edelweiß. Keine Bergblume ist ideologisch so aufgeladen wie der "Stern der Alpen".


Pathos und Posse liegen beim Edelweiß oft nah beieinander. Das zeigt die Anekdote, wie der Deutsche und Österreichische Alpenverein 1870 zu ihrem Vereinsabzeichen gekommen sind. Im Gegensatz zu späterer Überhöhung bis hin zur Sakralisierung dieses Symbols nimmt sich diese Entstehungsgeschichte wunderbar altbacken im Wortsinn aus: Der Münchener Mineraloge, Maler und Alpenvereins-Schriftleiter Karl Haushofer soll "im Zuge einer sich dehnenden Sitzung den Entwurf des Alpenvereins-Edelweiß aus dem Teig einer Semmel" modelliert haben.

Weit entfernt von solch profaner Herkunft siedeln die Entstehungslegenden des Edelweiß und zeigen das Anpassungsgenie des Korbblütlers. Am Berg wie in den Ebenen. Oben ausgesetzt der Höhensonne, dem Wind und dem Wetter, unten eingesetzt am ideologisch-politischen Parkett, eingebettet in Liebesgeschichten & Heiratssachen. Was immer und überall gleich bleibt, was alle Interpretationen trägt, ist die dreifaltige Edelweiß-DNA aus Blut, Schweiß und Tränen.

Abzeichen des Österreichischen Alpenvereins.
© W. Machreich

Diese vergießen je nach Erzählstrang Eisjungfrauen oder Schneeköniginnen. Die Ersteren aufgrund der Untreue ihres geliebten Jägers. Vor ihrem Verzweiflungssprung in den Tod zaubern sie mit ihren Tränen Edelweißsterne in die Bergschroffen, die jeden, der danach greift, abstürzen lassen und so ihren Liebeskummer rächen. Die Schneeköniginnen locken als eine Art Berg-Sirenen mit Gesang und Schönheit Abenteurer in die Gipfelregionen. Stürzt der Alpin-Odysseus ab, vergießen die weißen Frauen mit kaltem Herz eine Träne, aus der das Edelweiß erblüht.

Adelige Passion

Dass der bayerische Heimatschriftsteller Ludwig Ganghofer 1886 in seiner (später mehrfach verfilmten) Erzählung "Edelweißkönig" neben dieser Femme fatale einen nicht weniger unheilvollen Blumenpatriarchen etabliert, ändert am verheerenden Schicksal der hochalpinen Blumenpflücker nichts. Das Gendern des Edelweißadels ist aber berechtigt, da sowohl Damen wie Herren der Hocharistokratie das Edelweiß zu ihren Lieblingsblumen zählten.

In Ganghofers Heimat verehrte König Ludwig II. das Edelweiß. Mit dem als exzentrischen Bauherrn von Neuschwanstein und weiteren Schlössern bekannten "Märchenkönig" geht auch die Vereinnahmung der Bergblume für Propagandazwecke einher. Auf Ansichtskarten wird der "Kini" als "Bayerns Edelweiß" gefeiert, auf königlich-bayerischen Bierkrügen und Kaffeetassen, Ansteckern sowie anderen "Ludwigelei"-Devotionalien ziert die Bergblume sein Bild.

Ludwigs Cousine Sissi, die Kaiserin von Österreich, hatte ebenfalls ein Faible für den "Stern der Alpen". Die Brillantsterne im Haar der jungen Kaiserin auf dem von Franz Xaver Winterhalter 1865 geschaffenen Staatsporträt sollen bewusst an Form und Anmut des Edelweiß angelehnt sein.

Auch Franz Joseph schätzte das edle Weiß - eine der wenigen gemeinsamen Leidenschaften, die das Kaiserpaar teilte und die die Macher der "Sissi"-Filme mit ihrem untrüglichen Gespür für Herz-Schmerz-Szenen nützten. Im zweiten Teil der Trilogie ("Sissi - Die junge Kaiserin", 1956) klettert Franzl für Sissi in die Steilwand, um ihr ein Edelweiß zu pflücken.

In diesem Filmausschnitt kulminieren mehrere Themenstränge aus der Symbolgeschichte des Edelweiß, schreibt der Experte für Alltagskulturen an der Universität Zürich, Tobias Scheidegger, in seiner Studie zum "Mythos Edelweiss": Die Blume steht hier als Sinnbild für die Alpennatur, als aristokratische Blume und todesgefährlicher Liebesbeweis.

© W. Machreich

Auf Schein und Sein dieser kaiserlichen Morgengabe wird noch zurückzukommen sein. Bemerkenswert ist, dass sich die Habsburger auch bei der Integration des Edelweiß in die Bildsprache des österreichischen Kaisertums als PR-Profis zeigten. "Einen Grund für den nationalen Beigeschmack, den die Liebe zur alpinen Flora in Österreich in diesem Jahrhundert gewonnen hat, mag man", laut dem österreichischen, in der Schweiz lehrenden Kulturwissenschafter Bernhard Tschofen, "in der habsburgischen Tradition sehen, die Erzählung des Österreichischen näher an das Alpine heranzurücken und die entsprechenden Symbolsysteme zu favorisieren."

Ohne die Vorarbeit des Salzburger Naturforschers Karl von Moll wäre diese Verschiebung im Symbolhaushalt der Habsburgermonarchie jedoch schwerer gefallen. Mit seinem früheren, biederen Namen "Löwenfüsschen", "Filz-" oder "Wollblume" hätte es die krautige Pflanze wohl kaum zu großer Popularität geschafft. Das gelang erst mit dem stolzen Namen "Edelweiß". Insofern führt eine Entwicklungslinie vom Salzburger Moll zum US-Welterfolg "Sound of Music". Dass US-Präsident Ronald Reagan beim Staatsbesuch von Bundespräsident Rudolf Kirchschläger den Filmhit "Edelweiss" als vermeintliche österreichische Bundeshymne spielen ließ, amüsierte sogar die "New York Times".

Geister und Durchfall

Die erste schriftliche Erwähnung des Edelweiß findet sich im Buch "Naturhistorische Briefe über Oesterreich, Salzburg, Passau und Berchtesgaden" aus dem Jahr 1785. Von Moll beschreibt ein Gespräch mit einem Zillertaler Bauern. Thema war die Heilmethode, sollte eine Kuh an geschwollenem Euter leiden. "Ich mache Rauch von Edelweiß und Edelraute in den Stall", erklärte der Bauer, "(...) da kann um alle Welt kein Geist und kein Gespenst in den Stall." Die schützende Wirkung des Edelweiß galt damit als bewiesen, so wie die Ursprungsregion des Namens vom Tiroler Zillertal über das Pustertal bis in den Salzburger Pinzgau und Pongau.

Aber nicht nur gegen Geister kam das Edelweiß in der Volksmedizin seit Urzeiten zum Einsatz. Eine Prise des getrockneten "Bauchwehblüml" in Wasser eingesotten, sollte gegen Durchfall helfen; in Milch und mit Butter und Honig verabreicht, verspricht es Linderung bei "Leibschneiden". Moderne wissenschaftliche Untersuchungen beweisen die antibakterielle, entzündungshemmende Wirkung der Edelweiß-Blüten, -Blätter und -Wurzeln. Der gesundheitliche Nutzen ist auch der Grund dafür, dass ein Grazer Kosmetikunternehmen 2016 den 14. Juli zum "Internationalen Tag des Edelweiß" ausrief. Damit soll der Schutz der Blume propagiert werden sowie der Anbau auf Feldern in steirischen Höhenlagen, um Rohstoffe für Hautpflegeprodukte zu gewinnen.

Für Edelweiß-Puristen seit Ende des 19. Jahrhunderts ein Frevel: Dem damals schon zum Verkauf kultivierten Edelweiß wurden seine edlen Eigenschaften abgesprochen. Eine Schweizer Naturschutzzeitschrift dämonisierte 1884 das gezüchtete Edelweiß als "Monster" und 1910 warf der k.k. Botanik-Journalist Ernst Moritz Kronfeld dem nicht in steiler Wand wachsenden Edelweiß vor, dass es "seine hohe Geburt verleugnet und zu einem Proletarier der Niederung wird".

Kulturwissenschafter Scheidegger bezeichnet diese Kämpfe als Stellvertreterkrieg, der auf die Verteidigung der kulturellen und politischen Vorherrschaft des Bürgertums zielte, das "seine privilegierte gesellschaftliche Stellung durch die erstarkte Arbeiterbewegung bedroht sah. Um die Blume entspannte sich also ein ideeller Klassenkampf."

Auch das Gipfelkreuz trägt das Emblem des Edelweiß.
© W. Machreich

Mit dem wachsenden Alpentourismus im 19. Jahrhundert nahmen auch die Klagen über maßloses Edelweiß-Pflücken zu. Schutzbestimmungen folgten. Auf der Generalversammlung des Alpenvereins 1874 wurde zum Pflückverzicht aufgerufen: Jedes Vereinsmitglied wolle sich "des Tragens der Edelweissblüthe enthalten und im Kreise seiner Bekannten dahin wirken, sich ebenfalls des Ankaufs und des Tragens der Edelweissblüthe zu enthalten".

Wie wenig derartige Aufrufe beherzigt wurden, zeigen die Berichte über Fahndungserfolge von Bergwachtstreifen, die als quasi-polizeiliche Edelweiß-Sheriffs den Pflanzenräubern nachstellten. Drogenkurieren gleich versuchten die Blumen-Aficionados ihre Beute in Feldflaschen, Jausenboxen mit doppeltem Boden oder in aufgekrempelten Hemdärmeln und unter den Schweißbändern ihrer Hüte vom Berg zu schmuggeln.

Auch als die politischen Systeme wechselten, behielt das Edelweiß seine Anziehungskraft und ideologische Aufladung: Es marschierte auf Uniformen, Mützen und Helmen in die Schützengräben des Ersten und Zweiten Weltkriegs, war genauso Lieblingsblume des Führers wie Namensgeber der antinazistischen Widerstandsbewegung "Edelweiß-Piraten" und ist bis heute ein Werbeträger schlechthin für Kunst wie Krempel aus der Alpenregion.

Wobei das Edelweiß als Symbol für Patriotismus keiner botanischen Überprüfung standhält. Der "Stern der Alpen" ist ein Migrant, wie Kronfeld 1910 sein Publikum aufklärte: "Mit Staunen wird man hören, dass selbst das liebe Edelweiss, das Sinnbild der Alpen und des Alpensports, ein Kind des heissen Zentralasiens ist."

Beweis der Liebe

© W. Machreich

Und noch ein Edelweiß-Klischee stimmt nicht: Die todesmutige Kletterei um dieser Blume willen haben erst Touristen propagiert. Den Einheimischen war bis zu den von den Zugroasten ausgelösten Edelweiß-Boom die Alpenrose der sinnfälligere Liebesbeweis.

So lässt Hermann Hesse seinen liebestollen Peter Camenzind sagen: "Zwar wußte ich an mehreren Hängen auf schmalen Erdbändern Edelweiß stehen, aber diese duft- und farblose, krankhafte Silberblüte war mir stets seelenlos und wenig schön erschienen. Dafür kannte ich ein paar vereinsamte Alpenrosenbüsche, in die Furche einer kühnen Fluh verweht, spätblühend und verlockend schwer zu erreichen ..." Doch egal ob Almrausch oder Edelweiß, die schmerzhaften Folgen ihrer Eroberung waren die gleichen: "Da denn der Jugend und Liebe nichts unmöglich ist, gelangte ich mit zerschundenen Händen und krampfigen Schenkeln schließlich zum Ziel."

Ein Schicksal, das Franz Joseph erspart geblieben sein dürfte, glaubt man den Recherchen von Kronfeld zum kaiserlichen Edelweiß-Ringen in den Steilwänden oberhalb des Pasterzengletschers im Sommer 1856. Franz Josephs Blumen-Beute bekam Sissi mit den Worten geschenkt: "Das erste in meinem Leben, das ich selbst gepflückt." Beim Abstieg nach Heiligenblut streckte jedoch ein einheimischer Bub der Kaiserin einen Strauß frischer Alpenblumen mit der treuherzigen Erklärung entgegen: "Majestät, da haben’s Edelweiß und Rauten, wannås a Liebhaber davon sein."

Womit bewiesen ist, dass auch bei der Edelweiß-Verehrung kaiserlichen Geblüts Pathos und Posse eng beieinanderliegen.

Wolfgang Machreich lebt als freier Autor und Journalist in Wien.