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Wahrheit ohne Lüge?

Von Alexander Kluy

Reflexionen
Erzwungener Weltbürger: der spanisch-französisch-mexikanische Schriftsteller Max Aub (1903–1972).
© ullstein bild / Heritage Images / Index

Zum 50. Todestag von Max Aub am 22. Juli, der mit "Das magische Labyrinth" einen der großen Romanzyklen der Moderne schrieb.


"Ha muerte Max Ob." So die Meldung von Radio Nacional in Mexico am 22. Juli 1972. Der deutsche Nachname "Aub" erwies sich für mexikanische Zungen als zu fremd. Als wäre es noch ein posthumer Scherz dieses Schriftstellers.

Als Max Aub Mohrenwitz kam er am 2. Juni 1903 in der Cité Trévise, 9. Arrondissement von Paris, zur Welt. Sein Vater: ein deutscher Kaufmann und Handelsvertreter. Die Mutter Suzanne Mohrenwitz ist Französin und entstammt wie der Vater einer jüdischen Familie. Die Familie ist gutbürgerlich und areligiös. Entsprechend werden Max und seine jüngere Schwester Magda erzogen. Sie wachsen zweisprachig auf. In Paris wird Max auf das angesehene Collège Rollin, heute Collège-lycée Jacques Decour, geschickt.

Anfang August 1914 müssen die Aubs Paris verlassen. Als Deutsche sind sie mit Kriegsausbruch "unerwünschte Ausländer". Sie ziehen nach Spanien, lassen sich in Valencia nieder und büßen ihr Vermögen ein. Max lernt Spanisch und erfährt - er ist elf Jahre jung - zum ersten Mal, dass Status, Positionierung und Netze reißen können, dass Halt Gebendes über Nacht sich auflöst. Valencia, die Stadt am Mittelmeer, wird seine Wahlheimat, später wird er sich prononciert als valenciano bezeichnen.

1920 absolviert er die Matura. Sein Berufswunsch: Schriftsteller. Ein Studium schlägt er aus, entscheidet sich für den Beruf des Vaters und wird Handelsvertreter für Modeschmuck und Weißwaren. In den nächsten Jahren wird er in Spaniens Provinzen unterwegs sein. Er liest viel, hat literarische Magazine abonniert. Und er schreibt. Wann immer möglich, besucht er tertulias, diese besonderen künstlerisch-intellektuell-politischen Gesprächszirkel in Valencia und anderswo in Spanien, auch den prominenten Kreis im Café Regina in Madrid.

Picassos Auftraggeber

1926 dann die Heirat. 1929 wird er Mitglied der sozialistischen Arbeiterpartei. Mit der Ausrufung der Republik 1931 sind plötzlich Freunde und Bekannte in den Ministerien zuständig für Bildung und Kultur. Aub verfasst ein Memo über die Neuordnung der staatlichen Theater, wird Direktor einer Theatercompagnie, schreibt selbst Theaterstücke, organisiert einen Kongress antifaschistischer Autoren in Valencia, wird zum Kulturattaché in Paris ernannt.

Dort beauftragt er einen Maler namens Pablo Ruiz Picasso mit einem Bild für den spanischen Pavillon auf der Pariser Weltausstellung - Picasso wird es "Guernica" nennen. Mit André Malraux verfilmt er 1938 dessen Roman zum Spanischen Bürgerkrieg, "L’Espoir", auf Deutsch "Die Hoffnung".

Ein Jahr später siegt General Franco in Spanien, die Hoffnung auf eine Republik ist zerschlagen. Aubs Bibliothek, seine Bilder, Geschenke von Freunden, sind für ihn nun unerreichbar. Er bleibt in Frankreich, wird 1940 als "Kommunist" - was er nie war - denunziert, verhaftet und in französischen Lagern und Gefängnissen interniert. Bis zum Jahr 1958 - und da lebt er schon seit vielen Jahren in Mexiko - wird ihm aufgrund der im Krieg angelegten Akten die Einreise nach Frankreich verwehrt werden.

1941 wird er nach Algerien deportiert, soll als Strafgefangener an der Saharabahn schuften. Ihm gelingt im Mai 1942 die Flucht nach Casablanca, von dort entkommt er nach Mexiko. Im Oktober 1942 landet er in Veracruz, später siedelt er nach Ciudad de México (Mexiko-Stadt) um. Dort fasst er Fuß in der Filmbranche, erarbeitet Drehbücher, übersetzt Skripte, wird auf einen Lehrstuhl für Filmtheorie und Filmtechnik berufen.

Max Aub auf einem Mural in Valencia - mit einem zu Herzen gehenden Zitat.
© Joanbanjo / CC BY-SA 3.0 / https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0 / via Wikimedia Commons

Es ist der dritte Neuanfang innerhalb von etwas mehr als einem Vierteljahrhundert für Aub. Und der dritte Kontinent für ihn. Seine Produktivität explodiert nach der Ankunft. Er schreibt Gedichte, Kriegs- und Hafterinnerungen, Theaterstücke, Aufsätze und Essays und Zeitungsartikel und buchlange Literaturgeschichten und projektiert ein großes, ja ein gigantisches Projekt, "El Laberinto mágico", das magische Labyrinth. Schreibende Kollegen spötteln über den unentwegt schreibenden Aub - das deutsche "Mohrenwitz" hat er schon länger abgelegt -, es würde jeden Morgen bei ihnen zusammen mit der Tageszeitung ein neues Aub-Buch eintrudeln.

Stupend fleißig ist er bis zu seinem Tod am 22. Juli 1972 - wie kolportiert wird, während eines Kartenspiels. 1964 hat er mit "Juegos de Cartas" ein Text-Kartenspiel herausgebracht, bei dem ein Roman fortlaufend auf die Rückseiten der Spielkarten geschrieben steht und nach lautem Rundum-Vorlesen nach dem Zufallsprinzip ist zu erraten, wer die wiederkehrende Hauptfigur mit dem recht pompösen Namen Máximo Ballesteros ist.

Die seit dem Jahr 2001 erscheinende Edition der "Obras Completas de Max Aub", der Gesammelten Werke, ist 2019 bei Band 19 angelangt. Wobei zu sagen ist: Nicht wenige der Bände bestehen aus zwei, manche, wie der Band mit nachgelassener Prosa ("La narrativa apócrifa"), aus drei Teilen. Jeder Band erreicht fast 1.000 Seiten. Nicht in der Werkausgabe enthalten sind die Tagebücher und die gedruckte Korrespondenz. Inzwischen kümmert sich eine rührige Literaturstiftung in Segorbe, Provinz Valencia, um Max Aub.

Im spanischsprachigen Raum bekannt, ist er hierzulande trotz einiger Übersetzungen seit den 1990er Jahren beim Lesepublikum nie als der große Autor angekommen, der er ist, und fast vergessen. Etwas, was ihn lebenslang mit Blick auf das faschistische Spanien selbst schmerzte.

Spiel des Wahren

1958 wird Aub, der Exilautor, bekannt durch sein Künstler-Buch "Jusep Torres Campalans". Noch nie von diesem Maler aus Katalonien, einem der Pioniere des Kubismus und gutem Freund Picassos gehört? Es ist eine Romanbiografie, die sogar zwei Ausstellungen, eine in Mexiko, eine in New York City, auslöst - obwohl es den Maler Jusep Torres Campalans gar nicht gibt.

© ullstein bild / Heritage Images / Index

Es ist ein avantgardistisches Erzählexperiment, einige Jahre, bevor sich in Paris die Gruppe "Oulipo" um Raymond Queneau, Georges Perec, Italo Calvino - der 1979 mit "Se una notte d’inverno un viaggiatore" ("Wenn ein Reisender in einer Winternacht") vielleicht den raffiniertesten europäischen postmodernen Roman schreiben sollte - formiert und mit Sprache, Grammatik und Formenrepertoire zu spielen beginnt, und 23 Jahre vor Wolfgang Hildesheimers Romanfiktion um den fiktiven Kunstpsychologen namens Marbot.

"¿Cómo puede haber verdad sin mentira?", wie kann es Wahrheit geben ohne Lüge. Diesen Satz platziert Aub vor der aus Prolog, Danksagung des Künstlers, Annalen, Biografie, Gesprächen mit Campalans und Werkkatalog mit Zeichnungen und Gemälden (natürlich allesamt von Aub) kombinierten Fake-Biografie, die seit 2019 in einer sehr guten, fein kommentierten spanischen Neuauflage vorliegt.

So verspielt das anmutet, Aub, dem Mann mit drei Staatsbürgerschaften, geht es stets um Wahrheit und Spiel, um das Spiel der Lüge im Spiel des Wahrerzählens. In immer wieder neuen Konstellationen umkreist er es, probiert es immer wieder kreativ aus. So bringt er nach einer Israel-Reise im Jahr 1967 eine Anthologie heraus, "Imposible Sinai", ein Lesebuch, das, glaubt man dem Vorwort, aus übersetzten arabischen und hebräischen Gedichten besteht, auf die Aub während seines Aufenthalts stieß. Tatsächlich stammen alle Texte von ihm selbst, in diversen Tonarten verfasst und in höchst unterschiedlichen Modulationen durchexerziert.

Mit solchen klarverspielten apokryphen Experimenten stand er nicht ganz allein da. Der Lissabonner Fernando Pessoa erfand ein halbes Dutzend von Schriftstellern, in deren Namen er mit unterschiedlichem Temperament Bücher schrieb. Original und Kopie, Authentizität und Erfindung, das durchbrach Aub lebenslang.

Dabei ist er zeitgleich hochpolitisch, als Flüchtling, als Exilant, als Fremder, dem bis 1969 die Rückkehr nach Spanien verwehrt blieb. Als ihm damals von den franquistischen Behörden eine Reise gewährt wird, führt er natürlich ein Tagebuch, mit einem ironisch vordersinnigen Titel, "El pollo ciego", Das blinde Huhn.

Dass ein spanischer Literaturwissenschafter vor einigen Jahren ein Buch über ihn schrieb und diesem den Titel "Max Aub y la escritura de la memoria", Max Aub und die Schrift der Erinnerung, gab, trifft den fundamentalen, obsessiv betriebenen wie befeuernden Impetus Aubs: sich zu erinnern, die Welt an Verluste zu erinnern, an Kriege und an Verluste der Moral, der Menschlichkeit. Alles andere als leichtfertig wird er gleich zu Beginn dieser Studie Primo Levi und Elie Wiesel gleichgestellt, den Zeugen von KZ-Haft und Entmenschlichung, Jorge Semprún und Wassili Grossman, dem Autor von "Leben und Schicksal", und dem österreichischen Essayisten Jean Améry.

Ruinen Europas

... seinerzeit bei Eichborn erschienen.

Für Antonio Muñoz Molina, unter den lebenden Romanciers aus Spanien neben Javier Marías wohl der interessanteste - Muñoz Molina wird heuer im Oktober, als Vertreter des Literatur-Gastlandes Spanien, auf der Frankfurter Buchmesse die Eröffnungsrede halten -, ist Max Aub eine ungeheuerliche, ungeheuerlich überragende Figur des kulturellen Europas, weil er die Ruinen Europas beschrieb, dies vor allem in seinem gewaltigen, gewaltig ausgreifenden sechsteiligen Romanzyklus "Das magische Labyrinth", dessen deutsche Übersetzung einst vor 20 Jahren pünktlich zu Aubs 100. Geburtstag geschlossen vorlag und heute nur noch antiquarisch zu finden ist.

Max Aub, so Muñoz Molina, habe stets hochbewusst das aufgeschrieben, was war, und das, was spielerisch entstand. Als seine Aufgabe habe er verstanden, nicht nur Zeugnis abzulegen, sondern auch zu verstehen, Zeuge zu sein und es in Formen der Literatur umzuwandeln.

Am Ende von "Bittere Mandeln" (1966), dem 815-seitigen Schlussband von "Das magische Labyrinth", meldet sich im Buch Max Aub selbst zu Wort, als Humanist. "Nie werde ich diesen Roman schreiben", liest man da, "und auch keinen anderen. Die wahrhaftige Dichtung ist die Tragödie. Diese Tage in Alicante, dieser Hafen, diese Menschenmenge, dieses Labyrinth sind bestimmt die größte Tragödie, die ich in meinem Leben erleben kann. Die Dichtung. Für mich ist das die Dichtung: diese Anhäufung auswegloser Schicksale, Auge in Auge mit dem Selbstmord. Das ist nichts Neues in der Geschichte, im Gegenteil: Das hat sich wiederholt, auf die eine oder andere Weise, in allen Breitengraden, unter ganz unterschiedlichen Bedingungen."

Alexander Kluy ist Journalist, Kritiker, Autor. Zahlreiche Veröffentlichungen zu literatur-, kunst- und kulturhistorischen Themen.