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Brüche im Packeis

Von Marc Tornow

Reflexionen
Vor den Häusern des westgrönländischen Ilulissat treiben Eisberge in den Atlantik.
© Marc Tornow

In Grönland belasten der Klimawandel und das koloniale Erbe die fragile Kultur der Inuit.


Die "Sarfaq Ittuk" erscheint wie ein Fremdkörper vor einer haushohen Wand aus Eisbergen. Einmal wöchentlich verkehrt die Fähre entlang der grönländischen Westküste und verbindet eine Handvoll Siedlungen mit der Hauptstadt Nuuk. Das Schiff ist kein Gigant und gerät bereits bei mäßigem Wind in den dunkelblauen Wogen des Atlantiks ins Schwanken. Drinnen im Selbstbedienungsrestaurant rutschen auf den Tischen die Teller mit Rentiergulasch und Heilbutt von links nach rechts, draußen ist das Eismeer der schroffen Kulisse des Ewigkeitsfjords gewichen, in dem alle paar Meilen schnaubend Buckelwale auftauchen. Schneebedeckt erstrahlen rund 1.000 Meter hohe Felsformationen in der gleißenden Mitternachtssonne und nirgendwo ist nur der kleinste Hinweis auf eine menschliche Behausung zu erkennen.

In dieser für Ortsfremde unwirtlichen Postkartenlandschaft mutet die Ortschaft Kangaamiut geradezu weltläufig an. Die weiß-rot lackierte "Sarfaq Ittuk" stoppt für wenige Minuten zwischen Felsen, per Beiboot gelangen einheimische Reisende von und an Bord. Der gewaltige Panzer des grönländischen Inlandeises wird hinter zwei Dutzend Holzhäusern in der Ferne sichtbar und die auch im Sommer frostigen Temperaturen täuschen darüber hinweg, dass derzeit eine große Schmelze im Gange ist: Die Gletscher schwinden immer schneller.

Begehrte Rohstoffe

In Grönland - flächenmäßig fast 26 Mal größer als Österreich - löst sich täglich so viel Eis auf, dass damit ganz Florida fünf Zentimeter hoch unter Wasser gesetzt werden könnte. Das sind Entwicklungen, die der Weltgemeinschaft Sorge bereiten, in denen die hier Ansässigen allerdings auch Chancen erkennen. Seit 2019 gewaltige Vorkommen an Seltenen Erden entlang der Südspitze Grönlands entdeckt wurden, geben sich globale Bergbaukonzerne in Nuuk die Klinke in die Hand.

"Was fremde Staaten hier wollen, ist eines. Eine Ausbeutung von Bodenschätzen kann andererseits nur erfolgreich sein, wenn das die Grönländer wollen und auch selbst in die Hand nehmen. Sonst haben nur einige wenige etwas davon und das Land tritt auf der Stelle", resümieren Experten wie Hans Peter Christensen von der Technischen Universität Dänemark. Er und sein Team verbindet eine Partnerschaft mit der Hochschule im grönländischen Sisimiut. Dabei geht es um Fragen von Infrastruktur- und Anlagenbau unter polaren Bedingungen und so simple Herausforderungen wie die einer funktionierenden Toilettenspülung bei Temperaturen von bis zu minus 40 Grad.

Das angeblich reichlich vorhandene Erdöl habe man jedenfalls - anders als in der kürzlich angelaufenen 4. Staffel der dänischen Polit-TV-Serie "Borgen" (Netflix) - bisher nicht auf der größten Insel der Welt entdecken können und auch bei der Ausbeutung von Seltenen Erden sollten dem Nutzen die Kosten in der außerordentlich herausfordernden Natur gegenübergestellt werden, geben die Fachleute zu bedenken.

Mit Mitteln aus Dänemark wird die Infrastruktur verbessert.
© Marc Tornow

Die ambitionierten Pläne ruhen ohnehin derzeit. Seit 2021 Mute Egede von der links-grünen Partei Inuit Ataqatigiit (Gemeinschaft der Menschen) das Amt des Regierungschefs errang, haben Klima- und Umweltschutz eine höhere Priorität. Unlängst stoppte die Koalitionsregierung mit den Nationalliberalen die Vergabe neuer Konzessionen zur Öl- und Gasförderung, eine baldige Ausbeutung von Erzen wurde mit Verweis auf eine mögliche Umweltverschmutzung gebremst. Denn neben Niob oder Tantal, die in der Mikroelektronik Verwendung finden, verbirgt sich auch Uran unter dem abtauenden Permafrost. Eine Panne bei der Förderung könnte die Umgebung der Minen verseuchen. Nicht hinnehmbar, entschied Egede, auch wenn seine Heimat mit lediglich 57.000 Menschen äußerst dünn besiedelt ist.

Eine Öffnung der weltweit begehrten Rohstoffvorkommen für den Export könnte dem Inselstaat indes die finanziellen Mittel verschaffen, um sich endgültig aus der Abhängigkeit von Dänemark zu lösen. Mit umgerechnet jährlich etwa 500 Millionen Euro subventioniert die frühere Kolonialmacht etwa die Hälfte des grönländischen Haushalts. Davon werden in dem "autonomen Gebiet des Königreichs Dänemark" Kindergärten, Gesundheitsstationen, Sportanlage oder Straßenbeleuchtung gefördert. Dänen, auf Ferienbesuch im hohen Norden, schwärmen etwa von dem modernen Hallenbad in der Hauptstadt Nuuk.

Soziale Gräben

Doch für viele Familien aus den benachbarten Plattenbauvierteln der 1970er-Jahre ist der Eintritt in das hauptstädtische Schwimmbad mit etwa 7 Euro unerschwinglich. Im funktionalen Nuuk trennen sich häufig die Wege zwischen Menschen mit europäischen Wurzeln und indigenen Inuit. Etwa beim Lunch in der aschgrauen Einkaufstraße Imaneq, in der elegant gekleidete Damen aus den umliegenden Büros mit ins blonde Haar gesteckten Sonnenbrillen ein sündhaft teures Glas Weißwein zum Salat genießen. Eine Ecke weiter verkaufen Inuit auf Decken im Rinnstein ausgebreitete Habseligkeiten, um über die Runden zu kommen, und eine hochschwangere Inuit-Mutter verschafft sich und ihren drei Töchtern im Schnellrestaurant nebenan eine Mahlzeit.

Grau und funktional: das Zentrum der grönländischen Hauptstadt Nuuk.
© Marc Tornow

Für den Bruchteil des Preises einer Flasche Chablis kommen Pappteller mit Pommes frites und Røde Pølser auf den Tisch, die typisch dänischen Hotdog-Würstchen mit Remoulade und Röstzwiebeln. Fehlernährung wird zum Problem einer Gesellschaft, die in der rasant wachsenden Hauptstadt zwar die scheinbaren Annehmlichkeiten der westlichen Welt bekommt, darüber allerdings auch traditionelle Lebensformen mit einer jahrtausendealten Robben- und Fischjagd verliert.

Besonders frappierend erscheinen die gesellschaftlichen Risse in kleinen Siedlungen wie Tasiilaq an der Ostküste Grönlands. Zweimal wöchentlich verbinden Propellermaschinen die Hauptstadt mit einer Sandpiste auf der vorgelagerten Insel Kulusuk, von der aus es per Helikopter nach Tasiilaq geht. Bei gutem Wetter und wenn das Packeis günstig steht, bewältigen auch motorisierte Nussschalen die 24 Kilometer weite Passage durch ein lebensfeindlich anmutendes Eismeer. Die Verhältnisse ändern sich hier stündlich und wer Termine hat, sollte sorgfältig sein Weiterkommen planen.

"Entlang der Ostküste verläuft von der Arktis bis in den Atlantik über 4.000 Kilometer ein Eisstrom", sagt Robert Peroni. Dem Südtiroler Bergsteiger gelang 1983 als Erstem die Durchquerung des grönländischen Inlandeises von Nord nach Süd, ohne Hilfsmittel. Der heute 78-Jährige betreibt eine beschauliche Unterkunft am Rande jenes Eismeeres, das immer mehr abenteuerlustige Touristen anzieht.

Da sind der Norweger Helge und der Australier James, die eben 600 Kilometer auf Skiern von West- hierher nach Ostgrönland unterwegs waren; belgische Abiturienten, die ihre Kajaks an einer Abbruchkante des Helheim-Gletschers zu Wasser lassen und binnen einer Woche allein durch das Eismeer zurück nach Tasiilaq paddeln wollen; und die Deutsche Gabriele, die für drei Wochen gekommen ist und mehrere Tage bei einer Inuit-Familie leben möchte. Für sie alle ist Peroni so etwas wie der Dreh- und Angelpunkt in der Wildnis. Er kann Boote und Ausrüstung beschaffen, weiß, wo die Eisbären lauern, und verschafft wissensdurstigen Reisenden einen Internetzugang.

Als Peroni und sein indigenes Team im Speisesaal Walfleisch-Steaks servieren, heulen unten im Dorf die Schlittenhunde. Die Vierbeiner sind bekannt dafür, im Rudel mühelos Lasten über 60 Kilometer am Tag zu transportieren - und werden dennoch immer weniger gebraucht.

Welche Zivilisation?

In Gesellschaft der traditionsreichen Hunde tobt sich gerade die örtliche Jugendmannschaft auf dem Fußballplatz aus. Das grell-grüne Spielfeld, das mit Mitteln aus Kopenhagen eingerichtet wurde, soll das öffentliche Leben fördern. Das ist auch nötig, denn zwischen sandigen Wegen und einfachen Holzhäusern herrscht gesellschaftlich Eiszeit - mit Alkoholismus, häuslicher Gewalt und Selbstmorden. Mit statistisch 30 auf 100.000 Menschen jährlich hält Grönland den traurigen Weltrekord bei Suiziden. Es mangelt an Perspektiven und mit den Touristen werden für die Menschen hier die luxuriösen Annehmlichkeiten jenseits des Eismeeres sichtbar.

Zwischen den sandigen Wegen von Tasiilaq leuchtet der Kunstrasen des Fußballplatzes.
© Marc Tornow

Die Grönländer könnten sich zwar überallhin frei bewegen, nur brauchen sie dafür ein festes Boot und Technik - für die meisten unbezahlbar, wie auch ein Flugticket in die Hauptstadt Nuuk, heißt es in Tasiilaq. Dort legen wöchentlich die Versorgungsschiffe der Reederei Royal Arctic an und bringen abgepackte Lebensmittel sowie Maschinen und Ersatzteile. Doch es fehlt an einer nachhaltigen Müllentsorgung, und so türmen sich hinter Robert Peronis Pension meterhoch die Abfall- und Schrottberge der Siedlung. Stürme wirbeln Plastikfolien und andere Hinterlassenschaften moderner "Errungenschaften" hinaus in die fragile Natur.

Der Helikopterpilot Jens Larssen bringt es auf den Punkt: "Wenn wir Versorgungsflüge in abgelegene Dörfer unternehmen, begrüßen uns unbekannte Inuit mit offenen Armen. Einige haben vorher noch nie einen Hubschrauber gesehen und sie bitten uns in ihre Hütten, geben uns von den besten Vorräten, die sie da haben. Wenn wir dann wieder starten und zurückkehren, frage ich mich oft, ob wir in die Zivilisation fliegen oder soeben die Zivilisation verlassen."

Marc Tornow, Jahrgang 1972, lebt als Journalist und Autor in Hamburg und ist vor allem zu entwicklungspolitischen Themen tätig.