Zum Hauptinhalt springen

Der "Drei-Groschen-Tropfen"

Von Robert Sedlaczek

Reflexionen
Ein kleiner Weingarten über Wien, aber mit einer besonderen Geschichte geziert...
© Robert Sedlaczek

Vom "dichtenden Leutnant" Karl Anton Klammer und wie Bertolt Brecht einen Weingarten in Grinzing finanzierte.


Wolf Biermann im Stadttheater Walfischgasse. Erstaunlich jung geblieben und wie immer routiniert. Er hat sein Publikum sofort fest im Griff. Zwischen den Liedern Gescheites und Amüsantes. Der Liedermacher erzählt die Geschichte des Plagiatsstreits zwischen Bertolt Brecht und dem österreichischen Übersetzer Karl Anton Klammer.

Der Berliner Theaterkritiker Alfred Kerr deckte nach Erscheinen der Songs in Buchform auf, dass Brecht in der "Drei-Groschen-Oper" einige von Klammer übersetzte François-Villon-Texte wortwörtlich übernommen hatte, ohne den Übersetzer zu nennen. Kerr im "Berliner Tagblatt" vom 3. Mai 1929: "Brecht hat den wirklichen Nachdichter verhehlt." Am Ende kam es mit Brechts Bühnenverlag zu einer gütlichen Einigung. Sie sah vor, dass Klammer, der seine Übersetzungen unter dem Pseudonym K. L. Ammer veröffentlicht hatte, fortan im Promillebereich abzugelten sei. Aus der ersten, nicht unbeträchtlichen Honorarabrechnung kaufte sich Klammer einen Weingarten in Grinzing und etikettierte den aus den dortigen Trauben gekelterten Wein als "Drei-Groschen-Tropfen", eine Art finanzielle Herkunftsbezeichnung.

So weit, so bekannt. Aber Wolf Biermann wollte mehr wissen. "Kann mir jemand von euch sagen, wo sich dieser Weingarten befindet?" Schweigen im Publikum. "Wenn ich wieder nach Wien komme, würde ich ihn gerne aufsuchen."

Offizier & Übersetzer

Wohlan, die Recherche kann beginnen! In der Nationalbibliothek liegt das grafisch interessant gestaltete Etikett des "Drei-Groschen-Tropfens" auf: Ein Federkiel durchsticht eine Rebe, aus dem Schreibgerät fällt ein Tropfen in ein Weinglas herab. Auf dem Etikett steht: "Klammer-Riede am hohen Eck ob Grinzing" und der Jahrgang: 1931.

Ein Studienkollege arbeitet jetzt im Bezirksmuseum Döbling; er lässt für mich alle Riedenkataster durchforsten: das heutige und die alten aus der Zwischenkriegszeit. Das Ergebnis: Es gibt keine Riede dieses Namens, und es gab keine. Aber Moment, im Literaturarchiv der Nationalbibliothek ist doch der Klammer-Nachlass aufbewahrt! Wer hat ihn dem Archiv übergeben? Es wird wohl der Erbe gewesen sein.

Ein Mitarbeiter der Nationalbibliothek sagt am Telefon, er müsse sich zuerst kundig machen, wer das war und ob dieser mit mir reden wolle. Am nächsten Tag kommt die Antwort per Mail: "Ich bin mit Herrn Dr. Herwart Ankershofen, dem Neffen von Karl Klammer, in Kontakt getreten. Er freut sich auf Ihren Anruf."

Aus alten Zeitungsberichten, die mir der Bibliothekar zur Verfügung gestellt hat, geht hervor, dass Klammer im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts Gedichte von François Villon, Arthur Rimbaud und Maurice Maeterlinck übersetzt hatte; diese "Nachdichtungen von sprachlicher Meisterschaft und großer lyrischer Ausdruckskraft und Konzentriertheit" - so die Zeitung "Neues Österreich" - erschienen in den angesehenen Verlagen Insel, Hyperion und Diederichs.

Als Oberstleutnant im k.u.k. Dragonerregiment "Erzherzog Albrecht" Nr. 9 war er in Ostgalizien stationiert gewesen; heute gehört dieses Gebiet zur Westukraine und zu Südpolen. Klammer galt in Kreisen der Verleger, Redakteure und Literaten als "dichtender Leutnant in Polen". Dass ein k.u.k. Offizier ausgerechnet die Gedichte des zweimal zum Tode verurteilten und zweimal begnadigten Vaganten übersetzte, mag seither viele überrascht haben.

Karl Anton Klammer in seiner Grinzinger Villa, circa 1956.
© Herwart Ankershofen, Privatbesitz

Als der Plagiatsstreit 1929, also zwei Jahrzehnte nach Erscheinen des Villon-Bandes, im Feuilleton hochkochte, versuchte Brecht zunächst abzuwiegeln. Es sei richtig, dass von den 625 übernommen Versen genau 25 mit jenen Klammers identisch sind. Und weiter: "Ich erkläre wahrheitsgemäß, dass ich die Erwähnung des Namens ,Ammer‘ leider vergessen habe. Das wiederum erkläre ich mit meiner grundsätzlichen Laxheit in Fragen geistigen Eigentums." Klammer wiederum wertete die Übernahme der Nachdichtungen als Beweis für deren Güte und ertrug es mit Gleichmut, ja sah in dem Disput einen heiteren Zwischenfall - "bis sich eines Tages der Inhaber eines Wiener Theatervertriebs bei mir einstellte, nachdem er mein Pseudonym K. L. Ammer gelüftet und meine Adresse im Fahndungsabteil der Wiener Polizeidirektion ermittelt hatte."

Bald darauf erschien der leitende Teilhaber von Felix Bloch Erben in Wien und schloss zu den von Klammer als "mäßig" bezeichneten Bedingungen ab. In Klammers "Erinnerungen", erschienen in der Zeitschrift "Hochland", heißt es dazu: "Die vereinbarten Tantiemen bescherten mir einen derart hohen Betrag, dass ich mir dafür einen Weingarten in Grinzing kaufen konnte. Seine goldflüssige Lese taufte ich pietätvoll Drei-Groschen-Tropfen. Wenn ich auch schon früher keine geradezu schlechten Honorare verdient hatte, mein Anteil an den Erträgnissen der ,Drei-Groschen-Oper‘ stellte alle in den Schatten. Ich beruhigte mein Gewissen damit, dass ich ein Viertel davon für wohltätige Zwecke hingab."

Jetzt kommt die Recherche in Schwung. Ich erfahre von Ankershofen dreierlei: dass die merkwürdige Riedenbezeichnung auf dem Etikett eine Hommage Klammers an seine Frau war, an Margarethe Hochenegg, aus altem Tiroler Geschlecht stammend, daher: "Klammer-Riede am hohen Eck"; dass Karl Klammer eine Villa in Grinzing besaß; und dass die von Brecht unfreiwillig finanzierte Parzelle aus Weingarten, Garten und Acker direkt vor dem Haus lag. Genau genommen war nicht Klammer der Käufer des Weingartens, sondern seine Frau, wie aus dem Kaufvertrag hervorgeht. Der damalige Kaufpreis von 9.000 Schilling entspricht in heutiger Währung rund 35.000 Euro.

Villa am Fuße des Kahlenbergs

Wir treffen uns in Hietzing und fahren mit dem Auto auf Schleichwegen nach Grinzing zum Unteren Schreiberweg. Dort angekommen, ist meine Enttäuschung groß. Der Weingarten ist straßenseitig eingezäunt und mit Büschen zugewachsen. Wie soll ich ein Foto des Weinbergs machen? Da öffnet sich plötzlich das elektrisch gesteuerte Tor des Hauses und ein Mann erscheint, sein Fahrrad neben sich herschiebend. Er wirft fragende Blicke auf uns und wir erklären, warum wir hierhergekommen sind und vor dem Tor stehen. Sofort entspinnt sich zwischen ihm und Ankershofen ein interessantes Gespräch über die Geschichte des Hauses.

"Mein Urgroßvater Carl Hochenegg hat die Villa in den Jahren 1912 und 1913 erbauen lassen", erzählt Ankershofen. "Er war Mitglied im Herrenhaus des Reichsrats. Deshalb durfte er im Wald- und Wiesengürtel bauen, direkt neben der damals noch existierenden Zahnradbahn auf den Kahlenberg." Carl Hochenegg war ein berühmter Elektrotechniker. Als ordentlicher Professor an der k.k. Technischen Hochschule erwarb er sich große Verdienste bei der Einrichtung und Gestaltung der elektrotechnischen Institute sowie bei der Elektrifizierung Wiens.

Herwart Ankershofen vor jenem Weingarten, der aus den Brecht-Tantiemen angekauft wurde.
© Robert Sedlaczek

Die stattliche Villa Klammers sollte allerdings nicht lange von der Anhöhe des Kahlenbergs auf Wien hinunterblicken. "Im März 1945, am Ende des Zweiten Weltkriegs, wurde sie von US-Bombern dem Erdboden gleichgemacht. Die Amerikaner wollten das nahe gelegene Wasserwerk zerstören, damit die zahlreichen Brände in der Stadt nicht gelöscht werden können, und zerbombten stattdessen die Villa; in einem Sachbuch über den Bombenkrieg in Wien ist der Angriff ausführlich dokumentiert." Ankershofen hatte sich damals in dem Haus befunden. Er konnte sich mit anderen Familienmitgliedern gerade noch in den Keller retten.

Nach dem Krieg wurde das Haus neu erbaut - und wechselte mehrmals den Eigentümer. Darunter war auch Resi Hammerer, die erfolgreiche Skirennläuferin und Gründerin einer hochwertigen Modelinie. Der Herr mit dem Fahrrad, der uns das Gartentor geöffnet hatte, war der Schwiegersohn von Resi Hammerer.

Auch der Weingarten ist in neuen Händen. "Ich musste ihn in den 1960er Jahren verkaufen, weil ich keinen Weinbauern fand, der bereit war, ihn in Drittelpacht zu bewirtschaften; zu Zeiten Klammers ging das problemlos." Drittelpacht heißt: Ein Drittel des Ertrags erhält der Eigentümer des Weinbergs, zwei Drittel der Pächter. In diesem Fall kelterte der Pächter aus dem Ertragsteil des Eigentümers den "Drei-Groschen-Wein". Wegen der geringen Größe des Weingartens, laut Grundbuchauszug sind es heute rund 1.500 Quadratmeter, kam die überschaubare Menge Weines wohl nicht in den Verkauf, sondern wurde in der Familie konsumiert und an Freunde verschenkt.

Ich kenne inzwischen reich bebilderte Zeitungsberichte aus den 1930er Jahren: ein Foto, wie die Villa damals aussah; eine junge Dame, die eine Flasche des Drei-Groschen-Weines stolz in die Kamera hält; ein Bild, das den Weingartenbesitzer im gediegenen Ambiente seiner Villa zeigt. Klammer war geschäftsführender Gesellschafter des großen kartographischen Verlages Freytag & Berndt und auch auf den Society-Seiten zu Gast. Allerdings musste er mit dem Übersetzen Schluss machen, "(...) weil mich meine dienstlichen Obliegenheiten zu sehr in Anspruch nahmen. Außerdem heiratete ich."

Berühmte Briefpartner

Was blieb, war ein Briefwechsel mit berühmten Literaten seiner Zeit. "Ich bin mir dessen bewusst, dass ich im deutschen Schrifttum ein Outsider war, kein eigener Baum, sondern nur eine Art Schlingpflanze wie Efeu oder Liane. Und doch: Wenn ich die literarische Korrespondenz überschaue, die sich dabei ergab, muss ich staunen, wie reichhaltig diese sorgfältig verwahrte und behütete Sammlung hochwertiger Dokumente ist. Außer den bereits erwähnten Briefen von [Richard] Dehmel und [Detlev von] Liliencron habe ich solche von Stefan Zweig, von Gustav Falke, Stefan George, der mir, ,wie jedem der Jungen ein Gedeihen in Stille und Ehrfurcht‘ wünschte."

Alexander Lernet-Holenia diente in Klammers Dragonerregiment; sie wurden Freunde, wobei Lernet-Holenia zunächst gar nicht wusste, dass er den inzwischen berühmt gewordenen Übersetzer K. L. Ammer vor sich hatte, dessen Rimbaud-Nachdichtungen er so sehr schätzte.

Brecht hat übrigens den Plagiatsstreit in einem Sonett angesprochen, das der Verlag Gustav Kiepenheuer 1930 einer Neuausgabe von Klammers Villon-Übersetzung voranstellte: "Hier habt ihr aus verfallendem Papier / noch einmal abgedruckt sein Testament / (...) / Nehme jeder sich heraus, was er grad braucht! / Ich selber hab mir etwas herausgenommen ..."

Lieber Wolf Biermann! Für deinen nächsten Wien-Besuch würde ich gern einen Termin arrangieren: an einem malerischen Ort Wiens, mit literarhistorischem Hintergrund und einem wunderschönen Blick auf die davor ausgebreitete Stadt.

Robert Sedlaczek ist Journalist, Sprach-Kolumnist der "Wiener Zeitung" und Sachbuchautor.