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"Schaut auf Bienen und Blumen"

Von Doris Neubauer

Reflexionen
Die "Gaia (Erde) Wald-Vorschule" vermittelt die Lehrkraft der Natur.
© Neubauer

Eine neuseeländische Privatschule bereitet die Kleinsten auf die Herausforderungen der Zukunft vor. Ein Besuch.


Die Grand Vue Road Nummer 49 ist leicht zu übersehen. Nur ein hölzernes Schild deutet darauf hin, dass sich am Ende der schmalen Einfahrt die "Gaia (Erde) Wald-Vorschule" befindet. Einmal abgebogen, eröffnet sich völlig unerwartet eine andere Welt: Hat gerade noch der hektische Verkehr der neuseeländischen Stadt Auckland dominiert, zieht jetzt der Anblick mächtiger Bäume in den Bann.

Aus dem Busch dringt den Besuchern beruhigende Musik entgegen. "Wir halten uns in einem von sechs einheimischen Wäldern Aucklands auf", sagt Darius Singh und fügt hinzu: "Das Besondere daran ist, dass er im Privatbesitz ist." Vor über fünf Jahren hat die Chrysalis Family of Early Childhood Education (ECE), die er mit seiner Frau Nikeeta gegründet hat, rund 4.050 Quadratmeter Grünland mitten in Neuseelands größter Stadt erworben. Im Juni 2022 konnte darauf, nach zwei Jahren Corona-bedingter Verzögerung, die erste "Gaia (Erde) Wald-Vorschule" der Welt in Betrieb gehen.

Seither lernen 125 Kinder im Alter bis zu 6 Jahren "von der Natur, mit der Natur und in der Natur", bringt der Vater eines 15-Jährigen die "Gaia (Earth) Education Philosophy®" auf den Punkt.

Bionik für Ingenieure

Völlig neu ist die Idee nicht. Schon in den 1960er Jahren hat das Team rund um NASA-Wissenschafter James Lovelock die sogenannte "Gaia"-Hypothese aufgestellt. Diese besagt, dass die Erde als sich selbst regulierendes System funktioniert und sich Veränderungen anpasst, um zu überleben. "Die Erde muss nicht gerettet werden", bezieht sich Singh auf wissenschaftliche Belege, dass in den letzten 500 Millionen Jahren rund 99 Prozent aller Arten bei fünf Massensterben ausgerottet wurden.

"Die Erde hat alles überlebt - und wird wieder überleben. Die richtige Frage ist: Werden wir überleben?" Wenn wir weitermachen wie bisher, stehen die Chancen schlecht. So trist die Aussichten sind, will der Sohn eines Lehrers künftigen Generationen eine Botschaft der Hoffnung vermitteln und sie auf die Herausforderungen vorbereiten: "Wir möchten zeigen, dass das Leben und die Natur immer Wege finden."

Dieses Prinzip machen sich zahlreiche Bereiche wie die Medizin, das Materialwesen und die Lebensmittelindustrie bereits zunutze. "Bei der sogenannten Bionik (Anmerkung: auch Biomimikry, Biomimetik, Biomimese) lässt man sich von der Natur inspirieren, um die Probleme der Welt zu lösen", erklärt der ehemalige Universitätsprofessor für Ingenieurswesen und Technologie-Management, "und auch Ingenieure wissen das seit langer Zeit."

Darius Singh erklärt das Konzept der "Gaia (Erde) Wald-Vorschule".
© Neubauer

Bei der Entwicklung des Hochgeschwindigkeitszuges Shinkansen in Japan etwa ließen die starken Schallwellen anfangs in den benachbarten Städten die Fenster zersplittern. "Man konnte das Problem nicht beheben", erzählt Singh, "bis einer der Ingenieure den Eisvogel beobachtete, der aus der Luft ins Wasser taucht, ohne Schockwellen zu kreieren. Er fragte sich, ob das mit dem langen Schnabel des Eisvogels zu tun hatte, und wandte buchstäblich dasselbe Design auf die Zugspitze an. Boom - eine halbe Million Jahre an Evolution hat das Problem gelöst", schmunzelt der Neuseeländer: "Wir müssen nicht versuchen, neue Antworten zu finden", lautet seine Schlussfolgerung, "alles ist bereits in der Natur vorhanden!"

Was für Naturvölker wie die indigenen Maori von Aotearoa in Neuseeland oder die Ureinwohner Amerikas seit jeher selbstverständlich war, gerät in der modernen Gesellschaft immer mehr in Vergessenheit: "Wir haben eine Generation von Kindern, die glauben, dass Karotten und Kartoffeln auf Bäumen wachsen, Milch aus dem Kühlschrank kommt und die versuchen, über die Seiten eines Buches zu wischen", zitiert Singh, der zwölf Jahre an der "Philosophie" gearbeitet hat, eine Studie der "British Nutrition Foundation" an 27.000 Kindern zwischen 5 und 16 Jahren.

Dass den Kleinsten insbesondere im urbanen Raum der Platz zum Spielen und damit die Verbindung zur Natur fehlt, hat weitreichende Folgen: In seinem 2005 erschienenen Buch "Last Child in the Woods" hat der US-Journalist Richard Louv bereits auf die Problematik von "Nature Deficit Disorder" hingewiesen. Je weniger Zeit junge Menschen in der Natur verbringen, desto enger werden ihre Sinne, sowohl physiologisch wie auch psychologisch, meint er. Ein Phänomen, das sich während der Covid-19-Pandemie deutlich bemerkbar machte: Laut einer Studie von Forschern der Universitäten Cambridge und Sussex zeigten die Kinder, die während des ersten Lockdowns verstärkt draußen spielten, weniger Verhaltensauffälligkeiten oder emotionale Probleme als andere Gleichaltrige.

Ob beim Schatzsuchen auf einem der vielen Pfade, die durch den Wald rund um die Vorschule führen, beim Geschichten-Vorlesen unter dem gigantischen Torara-Baum oder beim Planschen im recycelten Regenwasser - Zeit in der Natur steht für die kleinen Besucher der Wald-Vorschule deshalb täglich auf dem Programm.

Erinnerungen schaffen

Langweilig wird ihnen dabei sicher nicht: "Kiwis verstecken sich überall", zeigt Darius Singh auf metallene Exemplare des neuseeländischen Nationalvogels, "und hier haben wir ein Moa-Nest (Anm.: der größte Vogel Neuseelands, mittlerweile ausgestorben). Die Idee ist, dass die Kinder immer wieder etwas vorbeibringen und das Nest bauen. Eines Tages wird ein Lehrer vielleicht ein massives Ei hineinlegen. Und ein Freund von mir macht Drahtstrukturen für ein Museum. Er könnte für uns einen Baby-Moa bauen. Was wäre das für ein Erlebnis, wenn ein Kind sich monatelange um das Nest kümmert, dann taucht ein Ei auf und plötzlich ist tatsächlich ein Moa drin."

Wenn der Pädagoge von den geplanten Abenteuern für die Kleinsten erzählt, ist ihm der Spaß daran förmlich ins Gesicht geschrieben. Damit möchte er "ein oder zwei erinnerungswürdige Momente für die Kinder schaffen und ihnen so einen Leitfaden fürs Leben geben". Doch nicht nur für sie, auch für die Lehrerinnen und Lehrer, die Mütter, Väter, Onkel, Tanten und selbst die Nachbarn sollen die positiven Botschaften der Natur erfahrbar werden. So sind die Eltern angehalten, nach dem Abliefern ihrer Sprösslinge auf dem Gelände der Vorschule zu entspannen.

Die Lehrenden und das Kindergartenpersonal haben eigene Ruheräume mit Blick auf das Grün, und Nachbarn sind eingeladen, Obstbäume zu pflanzen und sich um den Gemeinschaftsgarten zu kümmern. Denn: Bei der "Gaia (Earth) Education Philosophy" steht zwar das Kind im Vordergrund, "doch es startet mit der gesamten Umwelt, dem Umfeld ums Kind, den Lehren, und den Erfahrungen, die das Kind macht".

Damit positive Erfahrungen in der Natur so vielen wie möglich offenstehen, bietet die private Vorschule ein Stipendium für Familien mit finanziellen Schwierigkeiten an. Außerdem steht der Wald auch anderen Kindergärten und Schulklassen kostenlos für Ausflüge zur Verfügung, damit sie so ebenfalls die (Lehr-)Kraft der Natur erleben können.

Letzteres passiert laut Singh und seiner Frau, die als frühkindliche Erzieherin, Managerin und Lehr-Mentorin tätig ist, nicht nur in der Natur selbst. Auch das Design des Schulgebäudes und seiner Räume soll die Konzepte von Mutter Erde erfahrbar machen: "Das Gebäude hat die Form eines Blatts und funktioniert wie ein solches", erklärt der ehemalige Businessmanager und Start-up-Gründer, "es betreibt durch die Solarpanels am Dach Photosynthese, absorbiert und recycelt Regenwasser wie ein Lotusblatt und atmet durch das natürliche Ventilationssystem selbst."

Das blattförmige Gebäude der Vorschule von außen.
© Gaia

Die vier Klassenzimmer, die jeweils einem Naturelement zugeordnet sind, sollen durch ihren Aufbau ebenfalls eine Verbindung mit Mutter Erde schaffen. So ist der Raum für die bis 1-Jährigen dem Element "Erde" gewidmet, haben sie doch ihre Hände und Füße stets auf dem Boden. Im Klassenzimmer für die bis zu 2-Jährigen hingegen ist alles auf Veränderung ausgerichtet: "Die ersten Schritte, die ersten Worte - in keiner Lebenszeit sonst passiert so viel körperliche Entwicklung", weiß Singh, "der Wasser-Raum spiegelt dieses Fließen wider und soll die nächste Entwicklungsstufe anregen."

Diese äußere Hülle der Lehr- und Lernumgebung ist in der Gaia-Philosophie ein wichtiges Element, das nach Ansicht des Ehepaars Singh in anderen Konzepten - wie Waldschulen - fehlt. Doch es ist nur eine von drei Ebenen. Eine weitere sind die täglichen Aktivitäten und der Lehrplan. Hier sind die zwanzig Erziehenden und Lehrenden der Vorschule angehalten, die Lehrinhalte durch Beispiele in der Natur anschaulich zu machen. Letzteres gilt auch für die dritte Ebene der Philosophie: die Qualitäten und Werte.

Geschichten erzählen

"Die V-Formation von Vögeln ist das perfekte Führungsmodel. Wir glauben zu wissen, was Führung bedeutet, aber die Vögel zeigen uns, wie es wirklich geht: Sie sind in ständiger Kommunikation, und wenn der Anführer müde wird, dann weiß der hinter ihm fliegende Vogel, dass es Zeit ist, nach vorne zu kommen und zu übernehmen. Der frühere Anführer wiederum kann nach hinten fallen und Pause machen. Er muss kaum etwas tun, weil er von dem ständigen Auftrieb der anderen angeschoben wird. Dieses rotierende Führungsmodell lässt sie laut wissenschaftlichen Berechnungen bis zu 170 Prozent weiter kommen, wenn sie die Ozeane überqueren."

© Neubauer

Für Darius Singh machen Geschichten wie diese deutlich, welche Qualitäten wir von der Natur lernen können. 24 Eigenschaften und Werte sollen in der Wald-Vorschule an die Kleinsten vermittelt werden. Dass Geschichten-Erzählen dafür am besten geeignet ist, zeigen Erziehungssysteme wie Reggio Emilia, Montessori oder Waldorf seit Jahrzehnten. Und auch im Konzept des Ehepaars Singh spielen Stories eine essen-zielle Rolle. Dadurch sollen neben Führungsqualitäten Prinzipien wie Vormundschaft, Wandlungsfähigkeit, Respekt und Kommunikation gelehrt werden.

"Schaut auf Bienen und Blumen", verweist Singh auf eine andere Qualität, die die Erde in allen Jahreszeiten vorlebt: "Die zwei sind nicht einmal von der gleichen Art und kommen dennoch miteinander aus." Die Natur nachzuahmen wäre tatsächlich wünschenswert - nicht nur für die Kleinsten.

Doris Neubauer, geboren 1978, ist freie Journalistin, Geschichtenerzählerin und Reisende.