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"Vogel fliegt, Mensch läuft"

Von Heiner Boberski

Reflexionen

Am 19. September wären die Lauf-Legende Emil Zátopek und seine Frau, die Speerwerferin Dana Zátopková, beide 100 Jahre alt.


21. August 1968: Truppen des Warschauer Pakts besetzen die Tschechoslowakei und beenden den "Prager Frühling". Die um einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" bemühte Regierung wird entmachtet. Zu jenen, die in dieser Lage Widerstand leisten, gehört ein Oberst der Armee. Als er von der Invasion erfährt, eilt er in Zivil auf den Prager Wenzelsplatz und verurteilt vor tausenden Demonstranten den Einmarsch mit scharfen Worten. Später kommt er in Uniform wieder, klettert auf einen russischen Panzer und fordert die Besatzung zur Rückkehr in die Sowjetunion auf.

Der Offizier heißt Emil Zátopek. Er hat auch das im Juni 1968 veröffentlichte "Manifest der 2.000 Worte", mit dem prominente Bürger der Tschechoslowakei auf Reformen drängten, unterzeichnet. Zátopeks Handeln - in Interviews pocht er auf die Souveränität der CSSR und fordert sogar den Ausschluss der Sowjetunion von den Olympischen Spielen 1968 in Mexiko - ist freilich zum Scheitern verurteilt. Man bezichtigt ihn illegaler Aktionen und wirft ihn aus der Armee und aus der Partei. Er muss sich als Müllmann und später als Wanderarbeiter im Bergbau durchschlagen, entgeht aber wegen seiner früheren Verdienste einer Haftstrafe.

Zátopeks Leistungen als Langstreckenläufer sind in der Tat einzigartig. Er wird am 19. September 1922 in Kopřivnice als siebentes von acht Kindern eines Schreiners geboren. In jungen Jahren vermeidet er sportliche Aktivitäten, gilt aber als fleißiger Schüler - und spricht später viele Fremdsprachen, nämlich Französisch, Englisch, Russisch, Deutsch, Ungarisch, Spanisch, Finnisch, Indonesisch und Serbokroatisch.

Siege und Rekorde

Die von seinen Eltern angestrebte Ausbildung zum Lehrer scheitert an den Hochschulgebühren, Emil erlernt stattdessen bei den Bata-Werken in Zlín das Schuhmacherhandwerk. Vom Sport will er sich am liebsten drücken. Nur auf ausdrücklichen Befehl seines Chefs startet Zátopek 1941 bei einem von den Bata-Werken organisierten Lauf, bei dem er Zweiter wird. "Von da an lief ich einfach weiter", erzählt er später. In dem nur wenig älteren Jan Haluza (1914-2011), selbst Läufer und promovierter Jurist, findet er bis 1944 einen hervorragenden Trainer.

1950 wird Haluza wegen seiner kritischen Haltung zum kommunistischen Regime zu sechs Jahren Zwangsarbeit in Uranbergwerken verurteilt. Erst nach 1989 wird er rehabilitiert und knapp vor seinem Tod - er überlebt seinen Schützling Zátopek um mehr als zehn Jahre - mit einem Orden ausgezeichnet.

Zátopek hat durch Haluza, dessen Verurteilung ihn schockiert und dem er als Freund verbunden bleibt, das Intervalltraining gelernt, das er ab dem Kriegsende allein in fast unvorstellbarem Ausmaß praktiziert. Bald stellen sich Erfolge ein - nationale Rekorde und Titel, aber auch Spitzenränge und Siege bei internationalen Veranstaltungen. Bei den Olympischen Sommerspielen 1948 in London siegt er im 10.000-Meter-Lauf, wobei er seine Gegner mit kräftigen Zwischenspurts zermürbt, über 5.000 Meter holt er nach einem packenden Duell mit dem Belgier Gaston Reiff die Silbermedaille. 1950 wird Zátopek auf beiden Langstrecken überlegen Europameister. Schon 1949 hat er den ersten seiner 18 Weltrekorde aufgestellt.

Zátopeks Laufstil ist unverwechselbar: Ständig scheint er dem Zusammenbruch nahe, mit schmerzverzerrtem Gesicht, heraushängender Zunge und geballten Fäusten dreht er seine Runden, sein Keuchen trägt ihm den Beinamen "tschechische Lokomotive" ein. Er selbst kommentiert das so: "Ich habe mir gesagt, das ist nicht Eiskunstlauf oder Turnen, da gibt es keine Haltungsnoten. In der Leichtathletik gewinnt, wer vorne ist. Lächelnd oder mit verbissenem Gesicht wie ich."

Der humorvolle Tscheche gestaltet Training und Ernährung nach eigenem Gutdünken. Sein Lieblingsessen sind Haferflocken, Bohnen, Erbsen und Linsen, dazu trinkt er Bier. Hinter seinen Erfolgen steht sein eiserner Wille, kein Betreuerstab mit findigen Sportmedizinern. Keiner kann sich so quälen wie er, und jahrelang ist ihm auch keiner gewachsen. Zátopek lässt die Weltrekorde purzeln, sammelt zahlreiche Titel und Medaillen und bleibt über 10.000 Meter - als erster Athlet läuft er diese Strecke unter 29 Minuten - sechs Jahre ungeschlagen.

Vor den Olympischen Sommerspielen 1952 in Helsinki setzt Zátopek ein starkes Zeichen gegenüber der Staatsführung. Als man seinen Landsmann Stanislav Jungwirth nicht für die Spiele nominieren will, weil dessen Vater regimekritische Schriften verteilt hat, droht Zátopek mit einem Startverzicht. Ein solcher Schritt ist gewagt, erst zwei Jahre zuvor hat man einen Großteil des erfolgreichen CSSR-Eishockeyteams wegen "staatsgefährdender Hetze" zu langjährigen Strafen verurteilt. Doch Zátopek, von dem man Medaillen und einen Prestigegewinn erhofft, kann Jungwirths Teilnahme tatsächlich durchsetzen.

Erfolgs-Ehepaar

Bei den Spielen in Helsinki vollbringt Emil Zátopek ein davor nie gelungenes Kunststück: Er gewinnt Gold über 5.000 Meter, 10.000 Meter und - als Debütant auf dieser Distanz - im Marathon. Als er mit dem neuen olympischen Rekord von 2:23:03,2 das Marathonziel passiert, zeigt der sonst so verbissen wirkende Zátopek ein feines Lächeln. Seine Erkenntnis: "Wenn du laufen willst, lauf eine Meile. Wenn du ein neues Leben kennenlernen willst, dann lauf Marathon."

In seiner Heimat wird er triumphal gefeiert, zum Major befördert und mit dem Orden der Republik ausgezeichnet. Wegen seines Einsatzes für Jungwirth zitiert man ihn zwar noch wegen "Insubordination" ins Innenministerium, lässt aber die Anschuldigung aufgrund seiner sportlichen Erfolge fallen.

Am 24. Oktober 1948 hat Zátopek die Speerwerferin Dana Ingrová geheiratet, mit der ihn, wie er schmunzelnd erzählt, einiges verbindet: "Meine Frau ist am gleichen Tag wie ich geboren, sie gewann am gleichen Tag wie ich eine olympische Goldmedaille und, stellen Sie sich vor, sie hat auch am gleichen Tag wie ich geheiratet."

Es ist der 24. Juli 1952, als Emil Zátopek und Dana Zátopková, jeweils mit olympischem Rekord, gleichzeitig den Olympiasieg erringen, er über 5.000 Meter, sie im Speerwerfen, bei dem Österreichs Olympiasiegerin von 1948, Herma Bauma, Neunte wird. Diesen Erfolg können die beiden am 25. August 1954 bei der Europameisterschaft in Bern wiederholen, als Emil über 10.000 Meter siegt und Dana wieder den Speer am weitesten wirft. Für gute Freunde zeichnet Zátopek zu seinem Autogramm gerne einen Mann, der vor einer Frau mit Speer davonläuft - er sei deshalb so schnell gelaufen, um nicht vom Speer seiner Frau getroffen zu werden.

Der Tscheche erobert nicht nur mit seinen Leistungen, sondern auch mit seiner Warmherzigkeit und seinem Schwejk’schen Witz die Herzen der Menschen in aller Welt. Konkurrenten werden ihm zu engen Freunden, zum Beispiel Gaston Reiff, dessen Grab er als alter Mann noch besucht, der Deutsche Herbert Schade, der Brite Gordon Pirie oder der Franzose Alain Mimoun. Sportsgeist ist ihm wichtiger als Erfolg: "Groß ist der Sieg, noch größer ist die Freundschaft."

Auch Zátopek bleibt von Krankheiten und Verletzungen nicht verschont, was sich bei ihm in der Vorbereitung auf Olympia 1956 in Melbourne auswirkt. Er strebt die Titelverteidigung im Marathon an, wird aber nur Sechster und lässt nun seine Karriere ausklingen. Seit 1950 ist er im Prager Verteidigungsministerium tätig, wo er bis 1968 bis zum Oberst aufsteigt und unter anderem Konzepte zur körperlichen Ertüchtigung der Soldaten erarbeitet.

Die Ideale des Sozialismus sieht Zátopek positiv, er wünscht sich aber mehr Freiheit und Demokratie und hat, wie ein Zitat belegt, auch eine religiöse Ader: "Wir sollten eigentlich jeden Morgen Karl Marx lesen, damit wir unsere Regierung besser verstehen. Ich tue das nicht, denn meine Lektüre ist die Bibel. Darin finde ich Kraft, das zu tun, was ich für richtig halte. Alles in der Welt ist vergänglich, nicht aber die seelische Kraft der Verbindung mit Gott."

1968 verändert sein Leben, er wird degradiert und muss niedrigste Arbeiten verrichten. Seine oft wochenlangen Einsätze fern von Prag führen zu familiären Konflikten und Alkoholismus. Erst nach öffentlicher Selbstkritik, die ihm die Dissidentenbewegung übel nimmt, erhält er einen erträglichen Job im Sport-Dokumentationszentrum in Prag. Mit politischen Äußerungen hält er sich nun zurück, 1982 geht er in Pension. Nach der Samtenen Revolution von 1989 wird Zátopek offiziell rehabilitiert, seine Popularität und das mediale Interesse an ihm steigen wieder sprunghaft an.

Lebensweisheit

In seinem eigenhändig gebauten Haus im Prager Stadtteil Troja verbringt er seinen Lebensabend und erlebt noch viele Ehrungen und Einladungen. Durften die Zátopeks vorher nur eingeschränkt ins Ausland reisen, so sind sie nun wieder häufig in Europa und Übersee zu Gast. Am 21. November 2000 erliegt Emil Zátopek im Prager Armeespital den Folgen eines Gehirnschlages. In Läuferkreisen hat ihn neben seinen unglaublichen Leistungen vor allem ein Satz in seinem farbigen Deutsch unsterblich gemacht: "Vogel fliegt - Fisch schwimmt - Mensch läuft ..."

Dana Zátopková stirbt erst am 13. März 2020 in Prag. Auch sie, die vom Handball zur Leichtathletik gekommen und kinderlos geblieben ist, würde am 19. September ihren 100. Geburtstag feiern. Als Speerwerferin erringt sie 1952 Olympiagold, 1960 Olympiasilber und zweimal (1954 und 1958) den Titel Europameisterin, ehe sie als Trainerin und Sportfunktionärin tätig wird.

In einem Interview mit dem Westdeutschen Rundfunk zeigt sie 2016 viel Lebensweisheit. Angesprochen auf ihren Vater, der zwei Jahre in Nazi-Konzentrationslagern überlebte, sagt sie: "Ich kann bis heute nicht so gut darüber sprechen. Menschen können große Verwüstungen anrichten, aber diese darf man nicht in die eigene Seele eindringen lassen. Es ist besser, zu vergeben."

Aktuell bleibt ihre damalige Warnung vor bedenklichen Entwicklungen im Spitzensport: "Ich habe natürlich die Olympischen Sommerspiele in Rio de Janeiro von Anfang bis Ende im Fernsehen verfolgt. Aber ich muss sagen: Der Sport als Kern der Spiele soll dabei im Mittelpunkt stehen. Wir müssen mittlerweile mehr denn je aufpassen, damit der Sport nicht zu einer Zirkusveranstaltung verkommt."

Heiner Boberski, geboren 1950, war Chefredakteur der "Furche", von 2004 bis 2015 Redakteur bei der "Wiener Zeitung" und ist Verfasser zahlreicher Sachbücher, u.a. "Mythos Marathon" (2004).