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Znojmo - Vom Glück, mehr als doppelt zu sehen

Von Thomas Sautner

Reflexionen
"Znaim, ich sehe dich doppelt!" - Diesen berühmten tschechischen Spruch kann man dank Spiegelung in der Innenstadt anschaulich werden lassen.
© HNZMRN - stock.adobe.com

Ein Besuch auf den Plätzen, in den Gassen und Büchereien der südmährischen Stadt Znaim.


Vidlaci, Leute mit Mistgabeln, so nennen die Prager die Znaimer zuweilen. Was die von solchen Hauptstadtallüren halten, ist Aufklebern abzulesen, die Znaimer mit Prager Auto-Kennzeichen präsentieren wie eine Ehrenurkunde: Ich bin aus Znojmo! Geschrieben steht das nicht etwa in tschechischer Schriftsprache, sondern in mährischem Dialekt.

Berühmter Spruch

Kurzum: Die Znaimer haben längst zu ihrem Selbstbewusstsein gefunden. Und dass sie keine einfältigen Provinzler sind, beweist der Umstand, dass sie sich eine andere Unterstellung, nämlich des Öfteren zu tief ins Weinglas zu sehen, geschäftstüchtig und humorig zu eigen gemacht haben: Znojmo, vidím tě dvojmo! - Znaim, ich sehe dich doppelt! Den Spruch kennt beinahe jeder in Tschechien. Er spült jährlich zigtausende Touristen in die Gegend, die seine Gültigkeit am eigenen Leib zu erproben durchaus gewillt sind.

Wobei es auch ohne die geringste Illumination möglich ist, Znojmos Charme doppelt zu genießen. Jedenfalls an einem konkreten Punkt in der Innenstadt. Es funktioniert so: Gehen Sie die Obrovká-Straße hinauf bis zum Horní Náměstí, stellen Sie sich ganz dicht an die spiegelnde Auslagenscheibe des Bat’a-Schuhgeschäfts und nun drehen Sie sich um und blicken nach unten zum Rathausturm. Voilá: Zwei Türme erscheinen Ihnen. Znojmo, vidím tě dvojmo! - Znaim, ich sehe dich doppelt! Und das mit 0,0 Promille.

Freilich geht’s auch anders. Riesling, Sauvignon Blanc und Grüner Veltliner sind die typischen Rebsorten, die von den hunderten Weinbauern der Region gekeltert werden. Verkostet werden sie unter anderem beim jährlichen Weinlesefest am zweiten Wochenende im September - von 80.000 bis 90.000 in die Altstadt einfallenden Besuchern. Die Einwohner der Innenstadt flüchten in der Regel zeitgerecht. Und während die Wehrtürme und Stadtmauern also einst dafür sorgten, fremde Horden abzuhalten, locken sie nun.

Zehn historisch sehenswerte Türme habe die Stadt, sagt die sympathisch rührige Stadtführerin Lucie Binko. Alleine daran ist zu erkennen, wie bescheiden die Znaimer sind, denn zwei Dutzend Türme sind es bei nur etwas gutem Willen gewiss - wohlgemerkt, ohne doppelt zu sehen. Aber vielleicht ist es gerade diese bescheidene Herzlichkeit, die Besucher unmittelbar einnimmt für diese Stadt, die von den Pragern früher bloß links liegen gelassen wurde auf dem Weg ins mondäne Wien, auf dem Weg in den vielversprechenden Süden.

Ins Bild der Bescheidenheit Znojmos passt vortrefflich die - bitte imaginieren Sie an dieser Stelle einen Trommelwirbel - die Okurka! Ja, die berühmte Znaimer Gurke. Hinter ihrer Erfolgsgeschichte steht zuallererst eine jüdische Familie, deren Name auch in Österreich einen vortrefflichen, gaumenglücklichen Klang hat: Felix. Es war ihr Gemüse- und Konserven-Unternehmen, das die Znaimer Gurke ab 1868 zur Berühmtheit machte.

Doch dann kam 1938, die Nationalsozialisten besetzten Böhmen und Mähren. Firmenchef Herbert Felix floh gerade noch rechtzeitig nach Schweden, seine Eltern wurden im KZ Ausschwitz ermordet. Bruno Kreisky, der spätere Bundeskanzler Österreichs, war es, der den Emigranten Hans Felix zwanzig Jahre später dazu ermutigte, Felix Austria zu gründen. Felix hatte einen triftigen Grund, Kreisky Gehör zu schenken. Er war sein Cousin.

Znaimer Autoren

2007 wurde Herbert Felix, spät aber doch, die Ehrenbürgerschaft Znojmos verliehen. Sein Znaimer Landsmann, der kurz nach ihm geborene Freizeitdichter Hans Zuckriegl schrieb der Gurke die zeitenüberdauernde Fähigkeit zu, Trost zu spenden: "Eine Gurke aus dem Znaimer Land ist in der ganzen Welt bekannt. Ihre edle Säure nimmt jede Trauer von dir."

Autorin Petra Dvořáková
© phil.muni.cz

Wer solch Erquickliches lesen möchte, wird in einer der drei Buchhandlungen Znojmos oder der Stadtbücherei bestens bedient. Hier finden sich auch die Werke Znaimer Autoren, etwa der zeitgenössischen Literatin Petra Dvořáková, des Heimatliteraten Jiři Swoboda und jene des sagenumwobenen, 1823 via Wien und Stuttgart in die USA geflüchteten und steckbrieflich gesuchten Znaimers Carl Anton Postl, der es als Charles Sealsfield zu internationaler literarischer Bekanntheit brachte.

Baroness & Porno-Folk

Die wohl bedeutendste Schriftstellerin Znojmos indes löst in der Bevölkerung nach wie vor gemischte Gefühle aus. Und das nicht wegen ihres Werks, sondern alleine deshalb, weil sie einen deutschen Namen trug: Marie von Ebner-Eschenbach. Dabei zeigt sich gerade an ihrer Person und ihrem Werk, wie absurd nationale Ressentiments sind - diesseits und jenseits aller Grenzen.

Geboren wurde das Mädchen Marie 1830 als Baroness Dubský. Nachdem ihre Mutter starb, wurde Marie von ihrer Stiefmutter Gräfin Xaverine Kolowrat-Krakowsky erzogen, und zwar in des Mädchens neuer Muttersprache: französisch. Zudem sprach Marie österreichisches Deutsch und Tschechisch. 1848 heiratete sie Moritz von Ebner-Eschenbach, lebte in Znojmo auf Schloss Lysice sowie in der Innenstadt. 1856 schließlich zog sie dauerhaft nach Wien. Begraben aber wurde die Dichterin ihrem Wunsch gemäß in der südmährischen Familiengruft in Troubky-Zdislavice.

Die Sprach- und Gesellschaftsgrenzen zeitlebens überschreitende Schriftstellerin kämpfte bis zuletzt gegen vorurteilsbehaftetes Denken und Handeln an, ihre psychologischen Erzählungen gehören in diesem Genre zu den wichtigsten deutschsprachigen Beiträgen des 19. Jahrhunderts. Und viele ihrer Beobachtungen erscheinen gerade dieser Tage verblüffend aktuell: "Es würde", schrieb sie, "viel weniger Böses auf Erden geben, wenn das Böse niemals im Namen des Guten getan werden könnte."

Wie überall gibt es in Znojmo freilich auch heute noch Künstler, die wild umstritten sind. Für den landesweit aktuell bekanntesten Znaimer Kunstschaffenden genieren sich viele regelrecht. Und verschweigen ihn, wenn möglich. Sein Name ist Záviš. Und sein Beiname lautet: Der Prinz des Porno-Folk. Ja, richtig gehört: des Porno-Folk. Dass ein nicht milde gewordener Alt-Hippie mit dem schmückenden Beinamen Prinz des Porno-Folk das Enfant terrible des beschaulichen Znojmos ist, muss wohl nicht groß verwundern. Seine Songs strotzen vor ... nun, sagen wir: ungeschminkten Intimausdrücken.

Überhört wird aber gerne, dass Záviš auch gesellschaftliche Tabuzonen bloßlegt. Und dass manche Zustände, die er thematisiert, durchaus obszöner sind als seine Texte. "Wenn Bettler und arme und obdachlose Menschen vorbeiziehen", singt Záviš, "und ihre Prozession endlos ist, werden die majestätischen Bürger, sobald dies geschieht, Grund zum Nachdenken haben." Wer Záviš’ Kraftmeierei und Zorn nicht nachvollziehen kann, weiß wenig über Liebe, über Freiheit, Menschlichkeit und den verzweifelten Wunsch nach Leben. Noch ist der landesweit bekannteste Dichter Znojmos nicht Ehrenbürger seiner Stadt. Ihm wird’s egal sein. Scheiß-schwanz-fotzen-egal.

Masken & Mystik

"Was nennen die Menschen am liebsten dumm?", fragte Marie von Ebner-Eschenbach vor mehr als hundert Jahren. "Das Gescheite, das sie nicht verstehen."

Ein anderer augenscheinlich unterschätzter Künstler der Stadt heißt Oskar Pafka. Er war Maler und Grafiker, hinterließ Sgraffitos in Znojmo, Praha und im österreichischen Kirchberg an der Pielach. Seine allegorischen Gemälde bedienen sich der Mystik, um hinter die Masken von scheinbar Gut und scheinbar Böse zu blicken. Nicht los kam Pafka auch den Fängen der Sinnlichkeit und der Begierde. Seinem Werk ist anzusehen, dass der Künstler ein Zeitgenosse Klimts und Schieles war, und Oskar Kokoschkas.

Dass sich dieser Tage auch Dutzende blutjunge Denkerinnen und Denker und Malerinnen und Maler und Schriftstellerinnen und Schriftsteller in Znojmo tummeln, ist abgesehen von ihrem Genius womöglich auch einer nach außen hin unscheinbaren Institution zu verdanken, der Stadtbibliothek. Sie lädt diese Künstlerinnen und Künstler, Schulkinder allesamt, mehrmals jährlich ein, um Kreativität zu erleben, Neues auszuprobieren, Spannendes zu entdecken. Zuvorderst freilich: sich selbst.

Ausgestellt sind ihre Texte und Zeichnungen auf bunten Blättern in der St. Nikolaus-Kirche, deren Pfarrer dafür der imaginäre Große-Galeristen-Literaturhaus-Preis gebührt. "Lieber Gott", schreibt etwa Pepík, "während des Karnevals werde ich als Teufel gehen, ich hoffe, das macht dir nichts." Rundum an der Pinnwand finden sich die erfrischend poetischen Gedanken seiner Freunde, etwa diese:

"Lieber Gott, mein Opa hat gesagt, als er geboren wurde, warst du schon hier. Wie alt bist du?" (Daniel)

"Lieber Gott, in Religion hat man uns gelehrt, was du machst. Aber was machst du, wenn du Urlaub hast?" (Janka)

"Lieber Gott, warum bist du nie im Fernsehen?" (Micha)

"Lieber Gott, Weihnachten sollte früher sein, weil die Kinder können nicht so lange brav sein." (Bětka)

Oh ja, nicht nur die Kinder.

Flussab- & aufwärts

"Wir Erwachsene glauben oft", sagt Jana Sikorová, die Direktorin der Stadtbibliothek Znojmo, "dass Kinder unterrichtet werden müssen, zuvorderst aber müssen wir darauf achten, ihre Offenheit und ihren Wissensdurst nicht zu zerstören."

St.- Nikolaus-Kirche (auch Dom des Heiligen Nikolaus oder Nikolaikirche) mit der Wenzelskapelle (rechts) in Znaim.
© Uoaei1, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Die Znaimer St. Nikolaus-Kirche, die heute auch als Kinder-Gedanken-Galerie dient, wurde etwa zu jener Zeit erbaut, als Kolumbus irrtümlich in der Neuen Welt anlandete. Die Kanzel der Kirche ist außergewöhnlich. Sie ist einer wuchtigen Weltkugel nachgebildet, zeigt also unseren Planeten, der damals zwar keine Scheibe mehr war, aber noch weit davon entfernt, rundum erkannt zu werden. Ähnlich wie heute.

Znojmo indes, wie jeder andere Ort ebenso im Zentrum der Welt wie an ihrem äußersten Rand, blickt von seinen gewiss zwei Dutzenden Türmen hinunter ins Flusstal und sieht der Dyje, der Thaya, beim Fließen zu. Um etwas zu erfahren über sich, sieht es abwechselnd flussab- und flussaufwärts, in die Vergangenheit und in die Zukunft. Und die Stadtregierung, weil besonders die Touristen das mögen, lädt Künstler ein, zu Jazz-, und Klassikfestival, zum Šraml- und zum großen Weinlesefest.

Und die Menschen werden fröhlich sein und feiern und tanzen und Znaimer Bier und Znaimer Wein trinken. Und abseits, in einem Kellerlokal, wird Záviš, der Prinz des Porno-Folk, ganz für sich allein eines seiner dreckigen Lieder singen, und in einem Hinterhof wird die Wahl-Znaimerin Petra Dvořáková mit einer ihrer Kolleginnen vielleicht Texte lesen, und Einheimische und Touristen werden sich, wenn sie Glück haben, columbusgleich in den Gassen verirren, und werden staunen wie die Znaimer Künstlerkinder, und werden Ohren spitzen und Augen machen und nicht nur doppelt sehen, sondern weiter, grenzüberschreitend weiter, bis in neue Welten.

Thomas Sautner, geboren 1970, ist Schriftsteller und Essayist. Er wuchs in Gmünd an der österreichisch/tschechischen Grenze auf und lebt heute in seiner Heimat, dem nördlichen Waldviertel, sowie in Wien. Neben zahlreichen Erzählungen erschienen von ihm u.a. die Romane "Fuchserde", "Fremdes Land", "Das Mädchen an der Grenze" und zuletzt "Die Erfindung der Welt".

Sein Beitrag über Znaim ist entstanden im Rahmen eines tschechisch/(nieder)österreichischen Interreg-Projekts (Schriftsteller schreiben über die benachbarte Region) und in einem zweisprachigen Sammelband erschienen unter dem Titel "Worte über Orte. Bibliotheken im Nachbarland". Mit weiteren Texten von Gertraud Klemm, Ferdinand Schmatz, Lydia Steinbacher  Markéta Pilátová, Iva Procházková,  Marek Šindelka und Marek Toman. (Übersetzungen von Helena Novak, Marketa Klikova, Kathrin Janka und Julia Miesenböck), 150 Seiten. Erhältlich unter: www.literaturhausnoe.at