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Der Capellmeister im Dianabad

Von Markus Vorzellner

Reflexionen
Das Denkmal von Carl Michael Ziehrer im Wiener Prater.
© Maclemo, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Von Karl Kraus der "Uncultur" geziehen, wurde er trotzdem zu einem Publikumsliebling: Zum 100. Todestag des Wiener Komponisten.


"Schmählicher als alle Schmach, die uns die Verpöbelung der politischen Sitten angethan, wäre die Erkenntnis, daß von einem Wienerthum, dessen musikalischem Geiste, als er in Johann Strauß webte und wirkte, Richard Wagner und Johannes Brahms einmüthig wie höchstens noch in der Verehrung des Musiktitanen Beethoven gehuldigt haben, nichts übrig geblieben ist, als was in der Uncultur Ziehrerscher Musikruditäten den adäquaten Ausdruck findet."

Der gnadenlose Kritiker meint sogar, Ziehrer seien alle ihm von wohlwollenden Kunstfreunden zugewiesenen Fähigkeiten abzusprechen: "Vor das Publicum gestellt, tat C. M. Ziehrer, was er konnte: componieren und dirigieren konnte er nicht, aber der wienerische Elan, mit dem er die Gesten eines Tanzmusikmeisters nachahmte, packte, und von einem Geberdenschwung hingerissen, wiegte sich eine Zuhörerschaft, in deren Ohren es noch von unvergänglichen Walzern klang, in der Hoffnung, die tönende Seele der Kaiserstadt, die sich in Schubert, Lanner und Strauß verkörpert hat, werde nach einer neuen Metempsychose dereinst Ziehrer heißen."

"Musikruditäten"

Dieser Autor, der mit Hilfe derart hypotaktischer Satzungetüme das musikalische Werk Carl Michael Ziehrers in den Bereich der "Uncultur" verdammt, ist niemand Geringerer als Karl Kraus, der 1902 in der November-Ausgabe seiner "Fackel" zum wiederholten Mal den Verlust wahrer Musikkultur auf wortgewaltige Weise bedauert.

Militärkapellmeister in voller Montur: Carl Michael Ziehrer, 1913.
© ullstein bild / Eugen Schöfer

Der Anlass, aus dem Karl Kraus heraus sich speziell diesem Produzenten von "Musikruditäten" zuwandte, ist in der zeitgenössischen Presse schnell gefunden. So schreiben die "Innsbrucker Nachrichten" am 13. November: "C. M. Ziehrer, dieser altbekannte, liebenswürdige Wiener Komponist, dessen Schöpfungen überall, wo echte Wiener Musik geschätzt wird, populär sind, feierte vor einigen Tagen ein Jubiläum: vierzig Jahre waren es, daß Ziehrer, noch nicht 20 Jahre alt, zum ersten Mal in die Öffentlichkeit getreten ist."

Vier Tage zuvor war im "Illustrierten Wiener Extrablatt" eine autobiographische Skizze Ziehrers aus Anlass dieses Jubiläums erschienen, das, etwas verfrüht, tags darauf im Theater an der Wien gefeiert werden sollte. In humoristischer Manier verweist Ziehrer in diesem Text auf das korrekte Datum: "Jetzt stocke ich, denn ich muss den verehrten Leserinnen und Lesern des ‚Extrablatt‘ ein Geständniß ablegen. Aber bitt schön, sagen Sie es nicht weiter. Morgen ist eigentlich nicht der ‚große Gedenktag‘ meines vierzigjährigen Taktschlagens. Wenn ich meinen Aufzeichnungen trauen darf, dann wäre es erst am 21. November Gelegenheit, meine Wenigkeit bengalisch zu beleuchten."

Der Grund für das enorme Interesse der Presse an diesem Ereignis ist im Prominentenstatus Carl Michael Ziehrers zu suchen, der sich im Jahr 1902 bereits durch zahlreiche Konzerte im In- und Ausland zum Publikumsliebling stilisiert hatte.

Das erste öffentliche Auftreten des 19-jährigen amtlich bestätigten Hutmachergesellen als Dirigent erfolgte am 21. November 1862. Dieses Konzert, bei dem auch zwei Eigenkompositionen des Debütanten erklangen, fand im seinerzeit prominenten Dianabadsaal statt, zu dem die Schwimmhalle des Dianabades umgestaltet werden konnte: Das Bassin wurde zugedeckt, und der gesamte Raum zum Tanz- und Konzertsaal verwandelt. Diese Modifizierbarkeit war notwendig geworden, weil der Badebetrieb per se nicht imstande war, die erforderlichen Gewinne abzuwerfen. Am 12. November 1860 war der "Saal" eingeweiht worden, zu den Klängen der Diana-Polka op. 95 von Josef Strauß, die in ihrer Hörner-Einleitung der römischen Jagd-Göttin Tribut zollt.

Von diesem und anderen Umbrüchen zu Beginn der 1860er Jahre konnte Ziehrer mehrfach profitieren: So lief der eben erwähnte Dianabadsaal dem Tanzsaal im "Sperl" den Rang ab.

Außerdem war Ende 1863 eine prominente Geschäftsverbindung, zerbrochen, da sich der Walzerkönig Johann Strauß und sein Bruder Josef mit ihrem Verleger Carl Haslinger aufgrund finanzieller Unstimmigkeiten überworfen hatten, was auch der Presse eine ausführliche Mitteilung wert war.

"Kostbare Vögel" Strauß

Auch der Nutznießer dieses Zerwürfnisses wird namentlich erwähnt: "Eine Separation der musikalischen Großhandlungshäuser Haslinger und Gebrüder Strauß hat stattgefunden, eine Verbindung ist gelöst, die weiland Herrn Väter Haslinger und Strauß eingegangen und die sich noch weiterhin von Kind auf Kindeskind hätte vererben können. Die Herren Gebrüder Strauß wandern nämlich mit ihren Compositionen aus der Firma Haslinger aus, werden Selbstverleger und Selbstverschleißer, und Haslinger läßt die kostbaren Vögel ziehen und hat sich - wie wir weiter hören - bereits um einen anderen Mann dieses Fachs umgethan und ihn auch gefunden. Der Gegenkandidat ist Capellmeister Ziehrer, der in kurzer Zeit mit seinen Compositionen und den Productionen seines Orchesters im Dianabadsaale großes Aufsehen erregt und dem eine besondere Dreivierteltactbegabung innewohnt."

Carl Michael Ziehrer, Badner Park-Polka, Titelblatt der Klaviernoten, opus 65 (1867)
© gemeinfrei

Ziehrer selbst erzählt in einer weiteren Skizze im "Neuen Wiener Tagblatt", wie er Carl Haslingers Aufmerksamkeit erregt habe. Im Lokal "Zum Rössel" auf der Wieden habe er im großen Saal konzertiert: "Ich mußte mich stets sofort ans Clavier setzen und dabei ging allemal ein Beifallssturm durch den Saal (...) als würde die Patti singen; ich spielte nur Strauß, und erst dann, wenn man mir gar keine Ruhe gab, improvisirte ich eigene Walzermotive. Mein ‚musikalisches Treiben‘ gelangte nun bis zu den Ohren Haslingers, und eines schönen Tages erhielt ich zu meiner größten Überraschung seinen Besuch."

Selbstüberschätzung

Dass in diesem zitierten Bericht wohl einiges an Selbstüberschätzung hervortritt, zeigt zum einen der gewagte Vergleich mit Adelina Patti, einem Sopran-Superstar dieser Zeit, und zum anderen der Umstand, dass die Schilderung des ersten Treffens mit Haslinger stark von jener Variante abweicht, die in der zitierten partiellen Lebensbeschreibung im "Illustrierten Wiener Extrablatt" zu lesen ist - was Karl Kraus nicht ohne Häme anführt.

In dieser Version hatte Haslinger ihn zum "Diner" eingeladen, bei welchem "unter den Theilnehmern (...) auch Liszt und Wagner" gewesen wären; Ziehrer wurde gebeten, dort einiges am Klavier zum Besten zugeben, aber sein Lampenfieber war so groß, dass er nicht merkte, wer ihm danach lobend auf die Schulter geklopft hatte - "war es Wagner oder Liszt". Aufgrund einer Mitteilung von Manfred Fuchs vom Liszt-Verein Raiding kann es als gesichert gelten, dass Franz Liszt sich zu diesem Zeitpunkt nicht in Wien aufgehalten hat.

Die Karriere schritt, parallel zum Selbstbewusstsein, unaufhaltsam voran: So fungierte Ziehrer 1865 als "Ballregent" der "Wiener Gartenbaugesellschaft"; 1867 wurde er zum Kapellmeister des Arbeiter-Bildungswerks ernannt.

Konzertreise in die USA

1885 errang er die Position des Militärkapellmeisters der Kapelle des Hoch- und Deutschmeister-Regiments No.4, welche Ziehrer in den kommenden neun Jahren von Erfolg zu Erfolg führen sollte. Eine Konzertreise zur Weltausstellung nach Chicago im Mai 1893 brachte der Militärkapelle auch in den USA großes Ansehen, aber ebenso Ziehrers Entlassung als Militärkapellmeister, da dieser den von seiner Dienststelle genehmigten Urlaub stark überzogen hatte. Ein Komitee hatte noch während der Reise den böhmischen Kapellmeister Wilhelm Wacek als Nachfolger eingesetzt, der die Hoch- und Deutschmeister weiterhin leiten und ihnen sogar in Buenos Aires Auftritte ermöglichen sollte. Der enttäuschte Ziehrer gründete eine eigene Kapelle, wodurch seine musikalische Aktivität und damit seine Popularität weiter bestehen konnte.

Zu dieser Zeit wandte sich Ziehrer erneut einem Genre zu, das ihm erfolgversprechend schien, der Operette. Im Sommertheater von "Venedig in Wien" brachte er 1898 und 1899 je ein Werk heraus; das zweite, "Die Landstreicher", ist auch heute noch mitunter zu erleben, nicht zuletzt durch zwei Melodien: "Das ist der Zauber der Montur" und das Tenorlied "Sei gepriesen, du lauschige Nacht".

Auch in diesem Genre ist Ziehrer sehr auf den eigenen Erfolg bedacht: So ersucht er in einem Brief vom 16. Dezember 1904 den Kritiker des "Neuen Wiener Journals", Leopold Jaobson, die Sonntag-Nachmittag-Vorstellung seines "Schätzmeister" zu rezensieren, der wenige Tage zuvor zum ersten Mal über die Bühne des Carltheaters gegangen war: "Lieber Herr Jacobson! Bitte bitte schön um einige Zeilen Notiz über die nächste Sonntag-Nachmittag-Vorstellung meines ‚Schätzmeister‘; Sie können mir damit so ungemein viel nützen. Ihrem Sie hochschätzenden ergebenen Ziehrer". Die erbetene Kritik Jacobsons lässt sich nicht auffinden. (Jacobson wurde knapp vierzig Jahre später in Theresienstadt ermordet.)

Hofballmusikdirektor

Die Karriere Ziehrers fand ihren krönenden Abschluss in den Abendstunden der österreichisch-ungarischen Monarchie. Am 4. Jänner 1907 wurde er zum letzten

Die Tafel am Gebäude des Postamtes Wien 3, Maria-Eis-Gasse (beim Rochusmarkt) während der Zeit des Abrisses des Postamtsgebäudes am Rochusmarkt März/April 2015.
© Josef Moser, CC 4.0, via Wikipedia

k.u.k. Hofballmusikdirektor ernannt - ein Amt, das die Strauß-Dynastie von jeher für sich in Anspruch genommen hatte: Johann Strauß Vater, Johann Strauß Sohn und Eduard Strauß hatten dieses Amt vor ihm bekleidet. Seinen 70. Geburtstag feierte Ziehrer am Vorabend des Ersten Weltkrieges in seinem kleinen Haus in Baden, auf dem heute eine Tafel an dieses Ereignis erinnert.

Nach dem Krieg verlor der Komponist nicht nur seine kaiserlich-königliche Funktion, sondern, wegen der um sich greifenden Inflation, auch sein gesamtes Vermögen. Er starb verarmt am 14. November 1922 in seinem Wohnhaus am Rochusmarkt, das 1945 zerstört wurde, dessen unästhetischen Nachfolgebau jedoch eine Gedenktafel ziert.

Wie die "Neue Freie Presse" am 16. November 1922 mitteilte, hätten sich "die ehemaligen Deutschmeister zur Teilnahme an der Leichenfeier um halb 2 Uhr nachmittags bei der Rochuskirche auf der Landstraßer Hauptstraße" versammelt - jene Formation, der Ziehrer bis zu seiner Entlassung vorstand und mit deren Namen sein Nachfolger Wacek nach dem Ende der Monarchie eine neue Kapelle ins Leben rief, die über Julius Herrmann und Horst Winter bis in die unmittelbare Gegenwart fortdauert.

Markus Vorzellner lebt als Pianist, Musikpublizist und Pädagoge in Wien.