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Das große Meckern

Von Christian Hütterer

Reflexionen
Roccaverano-Ziegen, naturnah gehalten in den piemontesischen Hügeln.
© Christian Hütterer

Ziegen, Käse, bäuerliche Tradition und ein wenig "dolce vita" - eine Woche bei einem Ziegenzüchter im Piemont.


So sieht er also aus. Vor mir steht Gian Vittorio Porasso, den ich bisher nur durch einige Mails und ein kurzes Telefonat kannte. Anfang 50, schlank und in seiner bunten Outdoorjacke wirkt er, als käme er gerade von einer Wanderung. Aber der Schein trügt, denn hinter ihm steht eine ganze Herde Ziegen, die von Hunden umkreist wird. Porasso ist nämlich Ziegenzüchter und Käsemacher in Castelnuovo di Ceva, einem kleinen Nest in den Bergen, die das Piemont von Ligurien trennen. Was mich hierher verschlagen hat? Die Neugier und der Wunsch, einmal etwas ganz anderes als den Wiener Alltag zu erleben.

Das Internet ist voll mit Plattformen, die Kontakte aller Art herstellen. Eine davon trägt den Namen WWOOF und diese Abkürzung steht für "Worldwide Opportunities on Organic Farms". Kurz gesagt handelt es sich um ein weltweites Netzwerk von Bauernhöfen, das all jene, die sich für Landwirtschaft interessieren, und die Betreiber von kleinteiligen oder ökologischen Höfen zusammenbringen soll. Der Deal beim sogenannten Wwoofen ist folgender: Die Freiwilligen bringen ihre Arbeitskraft ein und helfen den Bauern, im Gegenzug bekommen sie nicht nur Kost und Logis, sondern auch Einblicke in das Leben auf dem Land und in die Produktionsweise des jeweiligen Hofes.

Zurück aufs Land

Wie ich hier bei Gian Vittorio Porasso gelandet bin? Er ist einer jener Landwirte auf der Plattform, die Käse produzieren, und die Vorstellung, dabei selbst Hand anlegen zu können, gab den Ausschlag, diese Woche bei ihm zu verbringen. Es war aber nicht nur die Aussicht auf neue Erfahrungen, die mich nach Castelnuovo führte, ich wollte diese Gelegenheit auch dazu nutzen, um das schon eingerostete Italienisch wieder aufzupolieren. Aber welcher durchschnittliche Schüler weiß, was "Lab", "Huf", "melken" und "Käsebruch" auf Italienisch heißen? In den letzten Wochen vor der Abreise hieß es also, jene Vokabel zu lernen, die einem im herkömmlichen Sprachkurs nicht unterkommen.

So weit die Vorgeschichte, damit zurück in die piemontesischen Berge. Porassos Familie stammt aus kleinen Dörfern in dieser Gegend, seine Eltern zogen aber mit ihrem damals drei Jahre alten Sohn nach Turin, um in der Großstadt Arbeit zu finden. Es folgten Jahre der Schule und des Studiums. Anfang dreißig war der mittlerweile diplomierte Architekt mit seinem Leben in der Stadt unzufrieden. Immer öfter erinnerte er sich daran, dass er als Bub gerne bei den Großeltern in den Bergen und in der Natur gewesen war. Langsam reifte sein Entschluss, wieder aufs Land zurückzukehren. Der erste Schritt dazu war, ein altes Bauernhaus zu kaufen, und zum Einstand schenkte ihm ein Freund sieben Ziegen der Rasse Roccaverano, die damals schon sehr selten geworden und vom Aussterben bedroht war.

Gian Vittoria Porasso, flankiert von zwei seiner georgischen Hirtenhunde, die die Herde vor Wölfen schützen.
© Christian Hütterer

Bis zur endgültigen Entscheidung, die Stadt zu verlassen und aufs Land zu ziehen, sollte es aber noch dauern - und so lebte Porasso ein Leben zwischen den beiden Welten. Am Tag arbeitete er in einem Architekturbüro in Mailand, nach Dienstschluss setzte er sich ins Auto, fuhr auf seinen Hof und kümmerte sich um die Ziegen. Dass dieses anstrengende Leben nicht lange gut gehen konnte, war klar, und so musste er bald eine Entscheidung treffen. Sie fiel für die Ziegen, für den Käse und für die Natur. Seitdem lebt Porasso auf seinem Hof und von den Produkten, die er mit seinen Ziegen erwirtschaftet.

Schon vor dem Umzug stand eine weitere Entscheidung an, nämlich wie er seinen Hof bewirtschaften sollte. Massentierhaltung und Produktion in großen Mengen entsprachen nicht Porassos Vorstellung, also entschied er sich für das Motto "klein, aber fein". In seiner Herde leben etwas mehr als einhundert ausgewachsene Ziegen, dazu kommen über dreißig junge Geißen. Sie alle sind Roccaverano, eine Rasse, die nach einer Gemeinde im Piemont benannt und bestens an die regionalen Bedingungen angepasst ist.

Porasso hält seine Tiere so extensiv wie möglich, soll heißen, dass sie so viel Zeit wie möglich draußen verbringen und nach Herzenslust frische Triebe und Kräuter knabbern. Sobald die Ziegen im Freien weiden, sind auch mehrere beeindruckende Hunde bei ihnen, denn während in Österreich die Rückkehr des Wolfes in den letzten Monaten für hitzige Debatten sorgte, war er in Italien nie weg. Porasso hält deswegen georgische Hirtenhunde und jeder Wolf sollte es sich gut überlegen, ob er sich wirklich mit ihnen, allen voran mit dem mächtigen Rüden Boko, anlegen will.

Auch im Winter versucht Porasso, seine Tiere möglichst naturnah zu ernähren. Er verzichtet auf Silage, also eingelagertes Futter, und setzt lieber auf Heu von benachbarten Höfen. "Meine Roccaverano geben bei weitem nicht jene Mengen an Milch, die Ziegen in intensiver Haltung produzieren", erklärt Porasso, aber durch die naturnahe Haltung und frische Fütterung ist die Milch von Porassos Ziegen besonders aromatisch. Dies wiederum macht die geringere Menge wett - und lässt sich auch im Käse schmecken.

Aus der Region

À propos Geschmack: Piemont ist als Region der Feinschmecker bekannt. Trüffel aus Alba sind gesuchte Delikatessen, Barolo und Asti sind weltweit für ihren Wein berühmt, dazu kommen ausgefallene Wurst- und natürlich Käsesorten, Nüsse, Pralinen, Kirschen, Birnen, Reis aus der Poebene - das Gebiet bietet also für alle etwas. Die Vielfalt, zahlreiche traditionelle Rezepte und der Stolz auf die Produkte der Region tragen dazu bei, dass Essen und Trinken im Piemont mehr als nur Nahrungsaufnahme sind, sondern regelrecht zelebriert werden.

So kommt es wenig überraschend, dass gerade im Piemont, wo der Genuss zur Lebensart wurde, Slow Food entstand. Im Jahr 1986 gründete Carlo Petrini in den Weinbergen der piemontesischen Stadt Bra diese Bewegung, die sich für genüssliches, regionales und bewusstes Essen einsetzt und die Agrarindustrie und ihre Produkte - allen voran das Fast Food, das auf Italienisch den wenig schmeichelhaften Namen cibo spazzatura, also Müllessen, trägt - verdammt. Bekannt wurde Slow Food, als seine Mitglieder vor der Spanischen Treppe eine lange Tafel mit italienischen Spezialitäten aufbauten, um gegen die Eröffnung der ersten Filiale von McDonald’s in Rom zu demonstrieren.

Käse aus dem Hause Porasso.
© Christian Hütterer

Mittlerweile ist diese Bewegung weltweit aktiv und hat auch in Österreich zahlreiche Anhänger gefunden. Ihre Zentrale ist noch immer im Gründungsort Bra und in der nahe gelegenen Ortschaft Pollenzo wurde im Jahr 2004 mit der Universität der Gastronomischen Wissenschaften eine neue und damals einzigartige Bildungseinrichtung gegründet.

Auch Gian Vittorio Porasso hat sich dem Slow Food verschrieben und immer wieder kommen Studentinnen und Studenten von der Uni in Pollenzo auf seinen Hof, um dort über Ziegenhaltung und vor allem die Käseproduktion zu lernen. Dort treffen sie auf einen Mann, der sich voller Überzeugung seinem neuen Lebensstil widmet - und sich selbst als Radikalen bezeichnet: "Ich bin radikal, wenn es um naturnahe Haltung meiner Ziegen geht, wenn es um die Qualität meines Käses geht, wenn es um meinen Lebensstil geht."

Seinen Praktikanten und Besuchern will Porasso mitgeben, dass es neben der Konsumgesellschaft auch andere Lebensformen gibt, wobei er aber nicht alle Neuerungen von Haus aus verdammt, sondern vielmehr versucht, den Bogen zwischen Tradition und Innovation zu spannen. Und so ist bei aller Abgeschiedenheit etwa das Handy Teil seines Lebens, weil es ihm ermöglicht, mit seinen Kunden in Kontakt zu bleiben.

Die Sommer verbringt Porasso mit seinen Ziegen in einem Ort namens Paraloup. Dabei handelt es sich um eine Siedlung, die auf 1.360 Meter Seehöhe in einem abgelegenen Tal nahe der Grenze zu Frankreich liegt. Im Lauf der Zeit verlor die alpine Landwirtschaft an Bedeutung, der Weiler wurde aufgegeben und die Gebäude verfielen. Im Jahr 1943 füllte er sich wieder mit Leben, er wurde nämlich zu einem Sammelpunkt italienischer Partisanen.

Vor einigen Jahren kaufte eine Stiftung Paraloup, um die Ortschaft zu restaurieren und als regionales Kulturzentrum der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Der Namensgeber dieser Stiftung, Benvenuto Revelli, hatte sich im Zweiten Weltkrieg den Partisanen angeschlossen und kam dabei auch nach Paraloup. Nach dem Krieg wurde er zu einem bekannten Zeithistoriker und Sozialwissenschafter. Revelli gilt in Italien als Pionier der Oral History, also jener Strömung der Geschichtswissenschaft, bei der Zeitzeugen über die Geschichte, wie sie von ihnen erlebt wurde, erzählen und so zu einem umfassenden Bild historischer Ereignisse und Entwicklungen beitragen.

Lebendige Forschung

Revelli erforschte neben dem Widerstand auch die Lage der Kleinbauern im Piemont, die nach dem Zweiten Weltkrieg immer mehr verarmten und denen oft nur noch die Abwanderung in die Industriezentren blieb. Paraloup ist seit der Renovierung ein Ort geworden, an dem die beiden Forschungsschwerpunkte Revellis greifbar werden und der sowohl an den Widerstand, aber auch an das kleinbäuerliche Leben in den Bergen erinnert. Porasso spielt dabei insofern eine besondere Rolle, als er und seine Herde zumindest über den Sommer in Paraloup die bäuerliche Tradition der Ziegenhaltung aufrechterhalten.

Was bleibt von den Tagen mit Gian Vittorio Porasso, seinen Ziegen und Hunden? Eine große, aber angenehme Müdigkeit, Gewand, dem man es anriecht, dass es mit Ziegen in Berührung kam, und die Bestätigung der Vermutung, dass das Leben in den Bergen neben seinen schönen Seiten auch so manche Unbequemlichkeit bietet. Es bleiben aber auch ein Einblick in eine andere Lebensweise und viele Erinnerungen, etwa an den ersten Käse, den man selbst hergestellt hat. Ich habe meinen Entschluss, eine Woche in dieser abgeschiedenen Gegend zu verbringen, nicht bereut.

Aber wie schaut es bei Porasso selbst aus? Tut es ihm leid, dass er die Bequemlichkeiten der Stadt und das Architekturbüro gegen zeitiges Aufstehen, Stallarbeit und ein Leben ohne freie Wochenenden getauscht hat? Die Antwort fällt kurz aus: "Nein. Es gibt doch dieses Bild vom Glas, das je nach Sichtweise halb voll oder halb leer sein kann. Auch wenn der Alltag hier nicht immer leicht ist, mein persönliches Glas ist sehr voll."

Christian Hütterer, geboren 1974, Studium der Politikwissenschaft und Geschichte in Wien und Birmingham, schreibt Kulturporträts und Reportagen.