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Blau-gelbe Literatur als roter Faden

Von Wolfgang Kühn

Reflexionen

Was kann als genuin "niederösterreichisch" gelten? Versuch einer poetischen Landeskunde.


Niederösterreich, das flächenmäßig größte Bundesland, feierte im vergangenen Jahr sein 100-jähriges Bestehen. 100 Jahre, das ist auch die Geschichte von 100 Jahren Literatur in und aus Niederösterreich. In einer 2022 in der Literaturedition Niederösterreich erschienenen Anthologie mit dem Titel "Hier ist Literatur!" haben sich namhafte österreichische Autoren der Gegenwart auf die niederösterreichischen Spuren von verstorbenen Schriftstellern begeben.

Wir erfahren unter anderem von den blau-gelben Verbindungen eines W. H. Auden, einer Ingeborg Bachmann, eines Heimito von Doderer, eines Albert Drach, eines Franz Kafka, einer Bertha von Suttner. Der angloamerikanische Lyriker W. H. Auden verbrachte etwa seine Sommer in Kirchstetten, Bertha von Suttner schrieb ihren berühmten Roman "Die Waffen nieder!" in Harmannsdorf.

© Literaturedition NÖ

Doch Niederösterreich ist nicht nur Heimat und Bezugsort großer verstorbener Schriftsteller, sondern Literatur ist etwas, das auch aktuell zu diesem Bundesland gehört, wie ein Blick in die jüngere Vergangenheit zeigt: Deutscher Buchpreis 2017, Österreichischer Buchpreis 2020 und 2021, Bachmannpreis 2022 - alles Auszeichnungen für Literatur aus Niederösterreich, obwohl man Robert Menasse, Xaver Bayer, Raphaela Edelbauer und Ana Marwan vielleicht nicht sofort mit diesem Bundesland in Verbindung bringen würde.

Wald- und Weinviertler

Robert Menasse, dem für seinen EU-Roman "Die Hauptstadt" 2017 der Deutsche Buchpreis verliehen wurde, lebt nicht nur in Wien, sondern hat auch im Waldviertel einen Wohnsitz, übrigens in unmittelbarer Nähe von Robert Schindel, den man auch nicht unbedingt dort verorten würde. Wie sehr die beiden arrivierten Schriftsteller als Niederösterreicher gelten, beweist der Umstand, dass beiden bereits der Würdigungspreis des Landes Niederösterreich verliehen wurde.

Xaver Bayer, der für "Geschichten mit Marianne" mit dem Österreichischen Buchpreis (2020) ausgezeichnet wurde, ist im Weinviertel verwurzelt. Raphaela Edelbauer, im niederösterreichischen Hinterbrühl aufgewachsen, hat für ihren zweiten Roman ("Dave") 2021 ebenfalls diesen Preis erhalten. Vermutlich gar nicht mit Niederösterreich in Zusammenhang bringen würde man die Bachmannpreisträgerin des Jahres 2022, Ana Marwan, doch die im slowenischen Murska Sobota geborene Autorin lebt seit geraumer Zeit im östlichen Weinviertel, nahe der slowakischen Grenze.

Da drängt sich jetzt natürlich die Frage auf, was an diesem Bundesland so besonders ist, dass es immer wieder bedeutende Schriftsteller genau dorthin verschlägt?

Vermutlich gibt es darauf keine allgemeingültige Antwort und es können nur Vermutungen angestellt werden. Der Umstand, dass sich Niederösterreich rund um Wien erstreckt, das kulturelle Herz von Österreich gleichsam sanft umschließt, hat selbstredend auch den Vorteil, dass es von der Bundeshauptstadt aus leichter zu erreichen ist als jedes andere Bundesland. Das mag vielleicht der Grund sein, warum viele Schriftsteller aus Niederösterreich auch in Wien leben bzw. viele Wiener Schriftsteller eine Dependance "am Land" haben, wo es sich, einmal der Hektik und den Ablenkungen der Großstadt entflohen, in einem verträumten, abgeschiedenen Winkel, wo möglicherweise nicht einmal das Internet funktioniert, vielleicht tatsächlich besser schreiben lässt. Dass die "literarische Nachfrage" in der Millionenstadt trotz der Vielzahl an Veranstaltungen am Land möglicherweise aber doch größer ist, erklärt dieses Pendeln, das allerdings nicht nur ein Phänomen bei Schriftstellern ist.

Für so manche, und das soll nicht unerwähnt bleiben, ist es zunächst ja auch eine Art Flucht. Der angehende Romanautor, die junge Lyrikerin, wird im 300-Seelen-Dorf in den literarischen Anfängen vermutlich misstrauisch beäugt, die Akzeptanz wird bescheiden sein, das "Auswandern" nach Wien, wo man andere "Unverstandene" kennenlernen wird, unvermeidlich, geteiltes Leid ist bekanntlich halbes Leid.

Aber irgendwann, wenn sich die ersten Erfolge eingestellt haben, das erste Buch erschienen ist, wird gerne wieder - zumindest zeitweise - "heimgekehrt".

Gibt es eine genuin "niederösterreichische Literatur"? - Wenn damit alles, was in Niederösterreich an Literatur geschrieben wird oder alles von mit Niederösterreich in Verbindung stehenden Autoren Geschriebene gemeint ist, dann hieße die Antwort eindeutig ja. Wenn wir aber versuchen, einen gemeinsamen inhaltlichen Nenner zu finden, wird es schwierig, denn solch einer lässt sich nur schwer ausmachen. "Niederösterreichische Literatur" sollte, vereinfacht gesagt, was Handlungsort und Handlungsstränge betrifft, im blau-gelben Bundesland angesiedelt sein, starke Bezüge haben oder zumindest etwas "Niederösterreichisches" erzählen. Doch verhält es sich wirklich so?

Selbstredend gibt es Beispiele von Literatur, die inhaltlich in Niederösterreich verortet sind, man denke nur an die vielen, zum Teil gut rezipierten Regionalkrimis, die wie Pilze aus dem Boden schießen und speziell in der Region, in der sie angesiedelt sind, großen Zuspruch erhalten.

Siedelt seine Romane gerne im Waldviertel an: der in Gmünd lebende Autor Thomas Sautner.
© Erich Reismann

Doch es gibt auch renommierte Autoren, bei denen sich ein niederösterreichischer Bezug wie ein roter Faden durch das Werk zieht. Beispielsweise die Bücher des in Gmünd (und Wien) lebenden Autors Thomas Sautner, die fast ausschließlich im Waldviertel angesiedelt sind. Das wird nicht immer explizit erwähnt, aber die eingängigen Landschaftsbeschreibungen, die stille Idylle, wie etwa in den Romanen "Die Älteste", "Das Mädchen an der Grenze" oder "Großmutters Haus", lassen einen mit der Gegend vertrauten Menschen erahnen, dass die fiktiven Orte wohl im Waldviertel liegen. "...lagen am Waldrand, auf einer Lichtung nahe des Baches und unmittelbar bei einem dunklen, tropfenförmigen Waldteich." (Aus: "Großmutters Haus", Picus 2019.) So kam bei einer Präsentation von Sautners Roman "Die Erfindung der Welt" in Gmünd aus dem Publikum die Frage, ob der Hauptort der Handlung, die Burg Litstein, nicht jene Burg ganz in der Nähe wäre...

Einer, der für viele seiner Bücher ebenfalls Niederösterreich als Handlungsort gewählt hat, ist der "Wahl-Weinviertler" Alfred Komarek. Dank der Romane um den aus der Zeit gefallenen Dorfgendarmen Simon Polt und deren Verfilmungen wird der aus Bad Aussee stammende und in Wien lebende Autor von vielen als Ur-Weinviertler und Wein(-viertel)-Botschafter gehandelt.

Die wunderbaren Beschreibungen der Weinviertler Idylle fernab von jeglichem Massentourismus lassen die Weingärten und Weinkeller auch ohne Verfilmung wie plastische Bilder vorm geistigen Auge auftauchen: "In einiger Entfernung säumten die Lichter der Dörfer das Tal, und an den Hängen nach Norden zur Grenze hin zeichneten die Kellergassen lange Ketten kleiner heller Punkte in die Nacht. Polt hätte nie im Leben in einer Stadt wohnen wollen, in der es keine ordentliche Dunkelheit gab, nur schäbige Schatten und schmutzig-graue Finsternis." (Aus: "Polt", Haymon 2009.)

Die eingangs erwähnte Raphaela Edelbauer hat ihren düsteren Debütroman "Das flüssige Land" (Klett-Cotta 2019) im fiktiven Ort Groß-Einland im Wechselgebiet angesiedelt: "Je alpiner die Umgebung wurde, desto feingliedriger zogen sich die Wogen in die schroffen Gesteine, die abschüssigeren Wege, die nun noch raueren Wälder. Überall sah ich in der Wiese kleine Wellenrücken auftauchen, sich brechen und wieder verschwinden. Diese poetische Beschreibung der Landschaft lässt den Ort augenblicklich als etwas Vertrautes erscheinen."

Und noch ein Beispiel eines Autors, den ich in meiner mehr als 30-jährigen Tätigkeit als Mitherausgeber der Literaturzeitschrift "DUM - Das Ultimative Magazin" entdecken durfte. Der 1983 im Waldviertel geborene Martin Peichl hat bisher drei Bücher veröffentlicht, in denen es oft um Beziehungen geht, die vermutlich an vielen Orten spielen könnten. Und doch kehrt der Ich-Erzähler immer wieder ins Waldviertel zurück; der verstorbene Vater, die Erlebnisse der Kindheit und Jugend folgen dem Autor auf Schritt und Tritt. "Wenn du ans Land denkst, denkst du an Häuser, die jetzt leer stehen, an Zimmer, die einmal bewohnt waren, an Geräusche, die es nicht mehr gibt, weil es die Menschen nicht mehr gibt, denkst an die Geräusche, die du früher nicht gehört hast und die jetzt so laut sind, weil sie fehlen." (Aus: "Wie man Dinge repariert", Edition Atelier 2019.)

Hin- und Herpendler

So vielfältig Niederösterreich mit seinen endlosen Wäldern, seinen pittoresken Weinlandschaften, seinen Hügeln und Bergen ist, so bunt präsentiert sich auch das Werk seiner Autorinnen und Autoren, von Lyrik über Kurzprosa bis hin zu Romanen. Niederösterreichische Schriftsteller, so könnte man sagen, das ist ein großer Pool an Zugezogenen, Weggezogenen, Hin- und Herpendelnden - und solchen, die ihrem Heimatbundesland immer treu geblieben sind.

© Bibliothek der Provinz

Der Verfasser dieser Zeilen zählt ebenfalls zu den Hin- und Herpendlern, der den Großteil seines Lebens in Zöbing verbringt. In den vergangenen Jahren durfte ich für die Literaturedition Niederösterreich acht wunderschön gestaltete Anthologien mit Beiträgen von über einhundert Autorinnen und Autoren mit Niederösterreich-Bezug herausgeben. Die älteste, Ilse Tielsch, ist Jahrgang 1929, die jüngsten, Nico Dorigatti und Bernadette Sarman, wurden 2001 geboren. Apropos Jahrgang - die älteste lebende blau-gelbe Autorin ist wohl Ilse Helbich, geboren 1923, ebenfalls eine Zugezogene, die in Fußdistanz des Autors im Kamptal flussaufwärts lebt, wiederum nur ein paar Kilometer entfernt von Sprachakrobaten Bodo Hell.

Niederösterreich, das ist ein dichtes Netz an nie versiegenden literarischen Quellen, an immer neu auftauchenden Talenten, die es zu entdecken gilt. Blau-gelbe Literatur, das kann auch ganz einfach "nur" gute Literatur sein, selbst wenn Niederösterreich darin gar nicht vorkommt.

Wolfgang Kühn, geboren 1965, Autor, Musiker, Herausgeber und Kulturveranstalter. Zuletzt erschien der Roman "Kurzenbach" (Verlag Bibliothek der Provinz, 2021) über die Leiden eines fiktiven Langzeitbürgermeisters in Niederösterreich.