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In gefahrvoller Hilfsmission

Von Brigitte Biwald

Wissen
Nora Gräfin Kinsky mit Fürst Boris Kotschakidze (M.) und einem Lagerkommandanten (r.) in Chabarowsk.
© Österreichisches Staatsarchiv, Kriegsarchiv, Abt. KF, Kriegsgefangenenlager Album 23 - Chabarowsk - Bild 302

Mitten im Ersten Weltkrieg reiste Nora Gräfin Kinsky nach Sibirien, um Kriegsgefangenen zu helfen. Eine Erinnerung zum 100. Todestag.


Norbertine Gräfin Kinsky von Wchinitz und Tettau hat von 1916 bis 1918 als Krankenschwester im Rahmen einer Mission des Roten Kreuzes 16 Lager für deutsche, österreichisch-ungarische und türkische Kriegsgefangene und 15 Arbeitslager in Russland inspiziert. Diese lagen in der Ukraine, dem Kaukasus, dem Altai, dem Ural, im Wolgagebiet, in der Mandschurei und im Fernen Osten an der Grenze zu China.

Der gefährliche Einsatz, der eigentlich nur einige Monate dauern sollte, begann mit einer Audienz bei der Zarin Alexandra Fjodorowna und endete im Chaos der russischen Revolution mit der Flucht in die Heimat. Dazwischen lagen Krankheit, Verfolgung, Lebensgefahr, elende Unterkünfte und Strapazen infolge des ungewohnten Klimas. Nora Kinsky hat in ihrem Tagebuch die Erlebnisse, Beobachtungen und Begegnungen ihrer Reisen in französischer Sprache festgehalten. Die deutschsprachige Ausgabe hat Noras späterer Ehemann, Ferdinand Graf Wilczek, veranlasst.

Monika Czernins Romanbiographie ihrer Großtante ist nur mehr antiquarisch zu bekommen.
© List Verlag

Was bewog eine junge, gebildete Frau aus dem Hochadel, sich auf eine Hilfsmission in eines der gefährlichsten Gebiete dieser Zeit zu begeben? Die Antwort findet sich im Umfeld und im Charakter der jungen Nora. Einerseits gehörte Wohltätigkeit zum "weiblich-aristokratischen Verhaltensrepertoire", so Monika Czernin ("Ich habe zu kurz gelebt". Die Geschichte der Nora Gräfin Kinsky. Berlin 2007), andererseits bot die Arbeit als Krankenpflegerin die Möglichkeit zur Emanzipation. Wie ein roter Faden ziehen sich Noras Selbstsicherheit, ihre Lernbereitschaft, aber auch ihr Eigensinn durch ihr kurzes Leben. Sie brauchte offenbar die Herausforderungen - je schwieriger, desto besser. Warnungen von Eltern und Verwandten, nach Ausbruch der Revolution in Russland heimzukehren, ignorierte sie.

Humanitäre Besuche

Am 18. Dezember 1888 wurde Norbertine als sechstes von neun Kindern des Oktavian Zdenko Graf Kinsky von Wchinitz und Tettau und seiner Frau Georgine Festetics von Tolna in Wien geboren. Mit Eltern und Geschwistern, Kinderfräulein, Gouvernanten, Hauslehrern und natürlich einer angemessenen Zahl von Dienern, Köchen und Reitknechten wuchs sie im böhmischen Schloss Karlskrone (Karlova Koruna) oberhalb der Stadt Chlumetz an der Cidlina (Chlumec nad Cidlinou) auf. Bis heute ist Karlova Koruna das originellste Barockschloss der Tschechischen Republik, ein Spätwerk des genialen Architekten Giovanni Santini. Nach der Restituierung an die Familie Kinsky öffnete 1993 das Schloss mit zahlreichen Erinnerungsstücken an die Familie und dem Originalmobiliar wieder seine Pforten.

Schloss Karlskrone.
© Lubomír Havrda / CC BY 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/3.0) / via Wikimedia Commons

Nora war außerordentlich intelligent und verfügte über ein besonderes Sprachentalent. Neben Französisch, Tschechisch, Italienisch, Englisch und Russisch erlernte sie in den Lagern noch Türkisch und Rumänisch. Vor allem aber liebte sie seit ihrer Kindheit die russische Sprache und Kultur. Nora Kinsky steckte voller Energie und war trotz Lernstunden, Klavierunterricht und Reitausflügen nicht ausgelastet. Im Gegensatz zu ihrem Vater war die Siebzehnjährige sehr von den Aktivitäten ihrer Tante Bertha von Suttner beeindruckt.

Als am 28. Juli 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, war Nora fünfundzwanzig Jahre alt. Da sie schon einen Krankenpflegekurs absolviert hatte, betreute sie im Schlösschen Zapeč ein Lazarett für 110 Kriegsversehrte. Als Nora von den sogenannten "Schwesternreisen" erfuhr, bewarb sie sich und reiste im Juni 1916 von Böhmen nach St. Petersburg.

Schon 1914 hatte das k.u.k. Kriegsministerium bei der russischen Regierung wechselseitige Besuche der Gefangenenlager durch Rotkreuzschwestern angeregt. Es dauerte noch eineinhalb Jahre, bis die dänische Diplomatie zwischen Wien und St. Petersburg den Austausch von Rotkreuzbevollmächtigten beider Seiten vermitteln konnte. Aufgrund einer Initiative der Familie des russischen Zaren Nikolaus II. bestand ein Abkommen zwischen den kriegführenden Parteien, wonach die Gefangenenlager inspiziert werden durften. Berichte darüber sollten es ermöglichen, gegen Verletzungen der Haager Landkriegsordnung zu protestieren.

Fünf österreichische und sechs deutsche Rotkreuzschwestern mit jeweils einem Vertreter des Dänischen Roten Kreuzes und einem russischen Begleitoffizier wurden im Jahr 1916 losgeschickt. Auch das Ungarische Rote Kreuz und das Deutsche Rote Kreuz sandten adelige Damen. Nicht vorbereitet auf das Elend in den russischen Lagern mit rund zwei Millionen deutschen, österreichisch-ungarischen und türkischen Kriegsgefangenen, kehrten die Teilnehmerinnen der Delegationen erschüttert und größtenteils krank nach Hause zurück. Einige der Frauen hatten sich übernommen, einige waren nach ihrer Heimkehr monatelang krank, starben oder verschwanden mitsamt den Ärzten auf der gefährlichen Heimreise.

Einige Missstände konnten die Frauen beseitigen, nicht alles gelang. Manche Militärärzte äußerten sich kritisch über den Einsatz der Frauen, besonders die Mannschaft war von der Tätigkeit der adeligen Damen wenig beeindruckt und machte sich "in scharfen Briefen in die Heimat Luft".

Für Nora Kinsky traf dies nicht zu: "Sie besaß eine seltene Mischung aus pragmatischem Organisationstalent und analytischer Schärfe", schreibt Monika Czernin. Vor allem aber strahlte sie mit ihrem entschlossenen Auftreten Autorität aus. Dank ihrer russischen Sprachkenntnisse konnte sie auch äußerst gefährliche Situationen inmitten marodierender Soldaten in den Griff bekommen.

In russischen Lagern

Als Nora im Juni 1916 in St. Petersburg eintraf, war sie von der prachtvollen Stadt beeindruckt. Herzlich empfangen von einflussreichen Adelsfamilien, fühlte sich Nora nicht als Vertreterin einer verfeindeten Macht, sondern als aristokratische Verwandte. Am 7. Juli 1916 empfing die Zarin Alexandra Fjodorowna, selbst in Pflegerinnentracht gekleidet, die deutschen und österreichischen Rotkreuzschwestern im Alexanderpalais von Zarskoje Selo, der Sommerresidenz des Zaren.

Von St. Petersburg, das seit Ausbruch des Krieges Petrograd hieß, reiste Nora Kinsky tagelang mit der Transsibirischen Eisenbahn durch die westsibirische Tiefebene, über den Ural, dann mit der Eisenbahnfähre über den Baikalsee an ihr Ziel Nikolsk nordwestlich von Wladiwostok. Hier, rund 6.000 Kilometer von Petersburg entfernt, begann Noras Arbeit. Für ihren persönlichen Schutz war ein Offizier, der deutsch und englisch sprechende georgische Fürst Boris Kotschakidze, zuständig. Er verehrte Nora und machte ihr einen Heiratsantrag, den sie ablehnte.

Die Stadt Nikolsk (heute Ussurijsk) bei Wladiwostok, Foto aus den 1890er Jahren.
© Public domain / via Wikimedia Commons / Urheber unbekannt

Im Lager Nikolsk lebten rund 3.000 Gefangene, fast 2.000 davon aus Österreich-Ungarn. Lagerarzt war der damals hoch geachtete, heute wegen seiner NDSAP-Zugehörigkeit umstrittene Wiener Chirurg Burghard Breitner (1884-1956). Er führte Nora Kinsky in das Mannschaftsspital, in dem an die 400 Flecktyphus- und Tuberkulosekranke lagen. Breitner und drei weitere Ärzte hatten trotz der sanitären Missstände schon vielen das Leben gerettet.

Den "höheren Töchtern in Rotkreuzuniform" gegenüber war er skeptisch. Wie sollten diese Frauen Korruption und Misswirtschaft in Organisation und Verpflegung aufdecken können? Sehr bald stellte Breitner jedoch fest, dass Nora Kinsky entschlossen und pragmatisch den Alltag im Lager bewältigte. So erstellte sie ein Konzept, um in möglichst kurzer Zeit die Situation im Lager sowohl bei der Mannschaft als auch bei den Offizieren zu überblicken.

Gewissenhaft verfasste sie die Berichte für das k.u.k. Kriegsministerium. Offiziell hatte Nora auch den Austausch von Schwerkranken und -verwundeten vorzuschlagen und zu organisieren sowie gegen Menschenrechtsverletzungen zu protestieren. Sie inspizierte auch weitere Lager östlich des Urals bis nach Chabarowsk. Sehr zu schaffen machte ihr die sibirische Kälte, die mitunter auf minus 40 Grad und tiefer sank. Im Lager von Omsk fand sie nicht nur ihren Bruder Zdenek, sondern lernte auch ihren späteren Ehemann, den Grafen Ferdinand Wilczek, kennen.

Nach Ablauf der hektischen ersten acht Wochen bemühte sich Nora um eine Verlängerung des Aufenthaltes. Dies gelang ihr mit Hilfe der Fürsprache des schwedischen Gesandten Brandström und der Mutter des Zaren, Maria Fjodorowna, im Februar 1917 in Kiew. Als neuen Wirkungskreis wählte Nora - nun einfache Krankenschwester - das allein schon wegen der meteorologischen Bedingungen gefürchtete Astrachan am Beginn des Wolgadeltas.

Die Stadt wurde von Rotarmisten belagert. Unerschrocken, aber am Ende ihrer Kräfte, betreute Nora im Lazarett Soldaten aller Nationalitäten, mitunter auch, da sie Türkisch gelernt hatte, gefangene Türken. Selbst an Malaria erkrankt, arbeitete sie in den Abteilungen für Tuberkulose und Typhus des Kriegsspitals. Doch die unerträgliche Hitze des Sommers 1917 und ein quälender Husten schwächten die junge Frau in zunehmendem Maße. "Die Luft ist wie Blei und man kann kaum atmen", schrieb sie am 12. Juni in ihr Tagebuch.

Schwierige Heimkehr

Als in der Nacht vom 25. auf den 26. Oktober 1917 die Bol’ševiki das Winterpalais in Petrograd stürmten und die provisorische Regierung verhafteten, begann der Bürgerkrieg. Die Kämpfe erreichten schließlich auch Astrachan. Am 26. Jänner 1918 stand die Stadt in Flammen, unter den Patienten des Kriegsspitals brach Panik aus. Wie aus ihrem Tagebuch hervorgeht, gelang es Nora mit Nervenstärke und Autorität, die Patienten zu beruhigen und von einer todbringenden Flucht abzuhalten.

Schließlich erhielt Nora vom k.u.k. Kriegsministerium den dringenden Rat zur Heimkehr. Es war der Beginn einer drei Monate währenden Flucht unter schwierigsten Bedingungen. Verfolgt von Bol’ševiki, Gegenrevolutionären und Mitgliedern der Tschechischen Legion, erreichte die geschwächte 29-Jährige unter Lebensgefahr schließlich das einst so prachtvolle St. Petersburg/Petrograd. Erschüttert vom Anblick der verwüsteten Stadt, bestieg Nora den Zug nach Wien. Wenige Tage später feierte sie ein Wiedersehen mit ihrer Familie auf Schloss Karlskrone.

1921 heiratete sie Ferdinand Graf Wilczek. Im selben Jahr kam Noras Tochter Georgina ("Gina), die spätere Fürstin von Liechtenstein, zur Welt. Nora starb zwei Jahre später am 26. März 1923 mit ihrem neu geborenen Sohn bei einer Hausgeburt, die sie gegen den Willen ihres Ehemannes durchgesetzt hatte.

Brigitte Biwald, geboren 1951, ist Historikerin und lebt in Perchtoldsdorf. Veröffentlichungen zu Medizin- und Militärgeschichte.

Literatur:

Monika Czernin: "Ich habe zu kurz gelebt". Die Geschichte der Nora Gräfin Kinsky. Berlin 2007.

Hans Huyn (Hrsg.): Nora Gräfin Kinsky. Russisches Tagebuch 1916-1918. Herford 1987.

Viktor Katschmaryk: Gräfin Nora Kinsky – Großmutter von Hans-Adam II. Torazza Piemonte 2018.

Hertha Kratzer: "Alles was ich wollte war Freiheit". Außergewöhnliche Österreicherinnen der Moderne. Wien-Graz 2015.

Verfilmung:

Monika Czernin dokumentierte 2007 als Regisseurin und Hauptdarstellerin das Leben der Nora Kinsky: "Die Gräfin und die Russische Revolution".