Zum Hauptinhalt springen

Erhellende Metamorphosen

Von Peter Jungwirth

Reflexionen
Maria Lazar, die sich auch Esther Grenen nannte, auf einer Aufnahme von Trude Fleischmann, 1933 (Ausschnitt).
© ullsteinbild

Zum 75. Todestag der Wiener Autorin, Journalistin und Übersetzerin, deren Wiederentdeckung erst begonnen hat.


"Sie predigen das Evangelium der Ausrottung des Nächsten. Das ist ein sehr verlockendes Evangelium in einer Zeit, in der es zu viele Menschen und zu wenig Arbeit gibt." Es ist ein düsteres Bild von Wien und überhaupt vom Leben anno 1932, das der jüdische Professor Frey, eine Figur in Maria Lazars Roman "Leben verboten!", für seinen politisch erstaunlich naiv wirkenden Gast, Ernst von Ufermann, skizziert.

Diesen warnenden Worten von Professor Frey, zu finden in einem Roman, der bereits 1934 in London erschien, aber erst 2020 auch in deutscher Sprache veröffentlicht wurde, kann man heute kaum prophetische Kraft absprechen. Wobei, gelenkt von glücklicheren Zufällen, vielleicht einiges auch hätte anders kommen können. Nur aus der historischen Distanz erweist sich die Geschichte so unerbittlich unabänderlich und so trügerisch klar. Auge in Auge aber mit den Ereignissen bleiben unbequeme Wahrheiten oft lange hinter Lügen verborgen - und für weniger interessierte Menschen vielleicht tatsächlich zeitlebens unsichtbar.

Im Wiener Verlag "Das vergessene Buch" 2020 erstmals auf Deutsch aufgelegt: Lazars Roman "Leben verboten!"
© DVB

Auch in der erwähnten Szene bleibt ein wesentlicher Punkt im Dunkeln. Denn Ernst von Ufermann, bis vor kurzem Bankier in Berlin, hat sich Professor Frey, als er ihn vor wenigen Tagen kennengelernt hat, unter falschem Namen vorstellen lassen. Und obwohl er Frey nun aufgesucht hat, um ihm seine wahre Identität zu offenbaren und ihn um Rat zu bitten, gelingt ihm dies nicht. Wa-rum? Weil er sich vor den Konsequenzen eines peinlichen Geständnisses - praktisch bankrott und darum auf zwielichtigen Abwegen zu sein - fürchtet. Und da ihm der Mut zur unbequemen Wahrheit fehlt und Frey die nötige Neugier an seinem unmittelbaren Gegenüber, verpassen bei dieser flüchtigen Begegnung beide eine Gelegenheit, ihrem Leben eine rettende Wendung zu geben.

Maria Lazar, 1895 in Wien in eine großbürgerliche Familie jüdischen Ursprungs geboren, gab ihrem Leben 1933 eine rettende Wendung, indem sie, zusammen mit ihrer Tochter Judith - und gemeinsam mit Bertolt Brecht, Helene Weigel und deren Kindern -, nach Dänemark auswanderte. 1939, aufgrund der naherückenden Deutschen, flüchtete sie weiter nach Schweden und verbrachte ihre letzten Lebensjahre in Stockholm. Nach Österreich wollte sie nicht mehr zurück. Zwei ihrer Schwestern waren 1942 aus Wien ins belarussische Vernichtungslager Maly Trostenets deportiert und ermordet worden.

Wer war Maria Lazar, die ab den 1920er Jahren in Wien als Autorin, Journalistin und Übersetzerin arbeitete und in den 1930er Jahren unter dem Pseudonym Esther Grenen, zumindest für kurze Zeit, auch international bekannt wurde? Und warum geriet ihr schriftstellerisches Werk schon vor ihrem tragisch frühen Tod, am 30. März 1948, in Vergessenheit?

Es ist vielleicht - so paradox dies auch klingen mag - noch zu früh für Antworten auf alle diese Fragen. Denn die seit 2014 vom Wiener Verlag Das vergessene Buch (DVB) betriebene und vom Applaus des großen Feuilletons begleitete Wiederentdeckung der Maria Lazar hat mit der Wiederveröffentlichung ihrer Romane "Die Vergiftung", "Die Eingeborenen von Maria Blut" (der in einer Bühnenfassung heuer bereits im Akademietheater zu sehen war) und "Leben verboten!" möglicherweise erst begonnen. Die angekündigte Erstpublikation eines weiteren Romans ("Viermal ICH") soll am 6. April erfolgen.

© DVB

Fest steht, wenn man den profunden Berichten des Germanisten Johann Sonnleitner über Maria Lazar folgt (der zu allen ihren Romanen Nachworte verfasst hat), dass ihr Leben bisher nur lückenhaft dokumentiert ist (obwohl es interessant genug für eine noch ausstehende Biografie wäre. Allein, dass Maria Lazar im dänischen Exil zeitweise Teile der Bibliothek von Walter Benjamin beherbergt hat, legt diesen Schluss nahe).

Maria Lazar wächst im ersten Wiener Gemeindebezirk als jüngstes von acht Geschwistern auf, von denen einige sich einen Namen machen. Nach ihrem Bruder Erwin, einem Psychiater für Kinder und Jugendliche, ist die Lazargasse benannt; ihre Schwester Auguste wird Kinderbuchautorin (und eine der Begründerinnen der sozialistischen Kinder- und Jugendliteratur in Deutschland). Sie selbst besucht die berühmte Schule von Eugenie Schwarzwald, wo unter anderem Adolf Loos und Oskar Kokoschka unterrichten, und bei der prominente Schriftsteller wie Egon Friedell, Peter Altenberg und Elias Canetti verkehren.

Kritischer Maßstab

In diesem Milieu entsteht der kritische Maßstab von Maria Lazar, ihr "Hass gegen die Verlogenheit der bürgerlichen Gesellschaft" und ihr lebenslang unzähmbarer "Drang nach absoluter persönlicher Freiheit" (Zitate ihrer Schwester Auguste). Sie heiratet trotzdem, den Sohn von Frank Wedekind, Friedrich Strindberg, und wird Mutter (die Ehe hält jedoch nicht lange).

Ihr Studium aber - Philosophie und Geschichte - gibt sie auf und widmet sich ganz der Literatur und dem Journalismus. Von 1922 bis 1933 schreibt sie u.a. Beiträge für die linksliberale Zeitung "Der Tag", die auch Alfred Polgar, Robert Musil und Joseph Roth zu ihren Autoren zählt, arbeitet als Übersetzerin ins Deutsche, unter anderem von Werken von E. A. Poe und F. Scott Fitzgerald. Und sie schreibt für die Bühne: Bereits 1921 wird Lazars Einakter "Der Henker" aufgeführt - unter der Regie des späteren Filmregisseurs G.W. Pabst.

Apropos Kino: Das kommt in den zeitkritischen Romanen von Maria Lazar immer wieder vor. Ins Kino nämlich, statt in öffentliche Bibliotheken, strömen die Menschen, übrigens keineswegs nur die Bildungsfernen, um sich dort, zumeist von kitschigen Romanzen - die von Maria Lazar regelmäßig lustvoll auf ihren lächerlichen Gehalt eingedampft werden -, den Kopf gründlich verdrehen zu lassen.

Zudem sind Kinos Orte, an denen sich Menschen begegnen, deren Wege sich anderswo kaum kreuzen würden. Ernst von Ufermann (beneideter Bewohner einer Villa mit Hausangestellten, Besitzer eines Autos mit Chauffeur und Gatte einer schönen Ehefrau) begegnet an jenem Tag, an dem er seinen Flug nach Frankfurt verpasst und dadurch in eine Zwangslage gerät, abends, im Kino, zufällig einer Prostituierten. Und kaum hat diese dem Herrn im feinen Zwirn, der nur an einem Quartier für die Nacht interessiert ist, widerwillig Unterschlupf gewährt, kann sie ihm schon, dank ihrer Unterweltkontakte, einen sehr lukrativen Auftrag anbieten: Ufermann soll, unter falschem Namen, per Bahn ein Päckchen nach Wien bringen. Und was macht Ufermann? Der ist hochnäsig genug, um den Ernst der Lage zu verkennen - und nimmt den Auftrag an.

Hebt die Handlung nun ins Phantastische ab? Es scheint nur so. Tatsächlich behält Maria Lazar bei allen riskanten erzählerischen Manövern souverän den Überblick, und ihre gesamte Geschichte wurzelt, bis ins Detail, in der Realität. (Ganz ähnlich wie bei Alfred Hitchcock, dessen Meisterwerk aus den 50er Jahren, "Der unsichtbare Dritte", übrigens mit dem Plot von "Leben verboten!" so viele Parallelen hat, dass man kaum an bloßen Zufall glauben kann). Lediglich bei der Kombination der einzelnen Elemente nimmt sich Maria Lazar künstlerische Freiheit.

Unbändige Neugier

Am Ende kehrt Ernst von Ufermann, der als Edwin von Schmitz nach Wien gefahren ist und dort umständehalber seinen Anzug gegen die Lederjacke eines arbeitslosen Proletariers tauschen muss, nach Berlin zurück. Und will - obwohl er ahnt, dass ihn seine Frau nicht wie Penelope erwartet - seinen Platz wieder einnehmen. Aber dieses Vorhaben scheitert. Und es scheitert nicht nur kläglich, sondern auch auf so erhellende Weise, dass "Leben verboten!" nicht bloß über die damalige Zeit, in der Humanität von politischer Brutalität verdrängt wurde, sondern über die widersprüchliche Natur und die begrenzte Erkenntnisfähigkeit des Menschen generell etwas aussagt.

Es geht Maria Lazar nicht nur um das Zeitgenössische - also um die Kritik an Nationalsozialisten, die bei ihr satirisch und scharf ist -, sondern um das prinzipiell schwierige Verhältnis des Menschen zur Wahrheit. Wie zugänglich ist diese? Und wie zumutbar? In ihrem faszinierend vielschichtigen und vielstimmigen Roman "Die Eingeborenen von Maria Blut" dekliniert Maria Lazar diese Fragen am Beispiel einer österreichischen Kleinstadt durch und lässt dabei kein für ein Abbild der Realitäten relevantes Thema aus. Man darf bei ihr also, als Wissensdurstiger, wie im Himmel wohnen - und erfahren, was sich ein Geistlicher denkt, wenn zufällig ein junges Mädchen mit schlanken Beinen und kurzem Rock an ihm vorbeiläuft.

© DVB

Und schon in ihrem Debütroman, "Vergiftung", sprengt ihre unbändige, mit literarischer Raffinesse gekleidete Neugier die Grenzen dessen, was zu dieser Zeit tolerierbar scheint. Erst 1920, fünf Jahre nachdem Maria Lazar den Roman geschrieben hat, findet sich ein Verleger für dieses Familienporträt, das auch ein Sittengemälde ist und der Scheinheiligkeit in Winkeln nachspürt, die selbst Schnitzler im "Reigen" nicht auf die Bühne zu bringen gewagt hat.

Einen Schritt voraus

Es wäre zu simpel, würde man Maria Lazar, die mit ihrer unbequemen Aufmerksamkeit die ganze Breite und Tiefe der Gesellschaft hellhörig ausmisst, von den Arbeitslosen, den Dienstmädchen und Köchinnen aufwärts, hierarchisch hinauf zu den Anwälten, Ärztinnen, Schriftstellern und alten "Exzellenzen", in die Rubrik "Widerstandsliteratur" einordnen. "Weltliteratur" wäre, als Orientierungshilfe, wohl angemessener.

Die Metamorphose des Ernst von Ufermann wirkt für ihn jedenfalls, obwohl sie doch nur sein Konto und nicht seinen Körper betrifft, so fatal, wie die von Gregor Samsa in Kafkas "Verwandlung". Der vom modernen Menschen, der Freiheit und Gerechtigkeit liebt, am meisten zu fürchtende Gegner sitzt möglicherweise nicht in Staatskanzleien (oder thront auf Kirchenkanzeln), sondern lauert, jederzeit zum Coup bereit, im Nebenzimmer - oder schläft sogar im selben Ehebett.

Aber sind es überhaupt die Anderen, die einem am meisten zusetzen? Oder steckt der ärgste Feind womöglich in der eigenen Haut? Wagt man diesen Gedanken, dann fallen etwa frappierende Ähnlichkeiten zwischen Oblomow und Ernst von Ufermann auf: Auch der ist, so wie der berühmteste Faulpelz der Literatur, nicht vorsätzlich schlecht. Er ist nur zu schwach, um sich gegen Versuchungen zu behaupten. Sein Schicksal ist ihm also nicht auferlegt. Es erwischt ihn nur einmal zu oft mit heruntergelassenen Hosen.

Warum Maria Lazar von so vielen so lange vergessen wurde, wird sich wohl nicht so bald zweifelsfrei klären (lassen). Weil ihr Talent gefehlt hätte, wohl nicht. Eher im Gegenteil. Vielleicht war sie ihrer Zeit in zu vielem, was schwer erträglich ist, einen entscheidenden Schritt voraus.

Hinweis:

Am Donnerstag, 30. März, dem 75. Todestag von Maria Lazar, findet im Literaturhaus Wien eine Hommage an die Autorin statt, bei der Fundstücke aus ihrem Nachlass und Auszüge aus dem Roman "Viermal ICH" präsentiert werden. Zieglergasse 26A, 1070 Wien, 19 Uhr.

Peter Jungwirth, 1962 geboren, lebt als freier Autor und Fotograf in Wien.