Zum Hauptinhalt springen

Vertrieben und verschwiegen

Von Bernhard Wenzl

Reflexionen
In der Leopoldstadt, Ferdinandstraße 22/Tempelgasse 10, nahe ihrem früheren Wohnort, wurde 2003 ein Park nach Veza Canetti benannt.
© Gugerell / CC0 (https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/deed.en) / via Wikimedia Commons

Vor 60 Jahren verstarb Veza Canetti. Das Werk der Wiener Autorin wurde erst lange nach ihrem Tod wiederentdeckt.


"Das Land verlassen. Dieser Satz und dieses Gebot sind in der Stadt Mitteleuropas, die einmal die fröhlichste Stadt genannte wurde, an der Tagesordnung. Es hört ihn der einfache Mann. Er verzichtet auf sein kleines Glück und rüstet sich mit schreckensbleichen Wangen zur Wanderung. Dieser Satz stört den Arzt auf und der Arzt senkt beschämt den Kopf. Denn es sind nicht so viele Pflastersteine in den Straßen als Wunden, die er geheilt hat. Und der Arzt beschließt zu gehen. Es hört diesen Satz der Anwalt, er sieht sich verloren. Es mag der kleine Mann in der Fremde von neuem beginnen, es mag der Arzt ein neues Lazarett bauen, der Anwalt tritt in ein fremdes Land mit Gesetzen, die hier ungesetzlich sind. Nichts von seinem Wissen ist dort Wissen, niemand hört ihn an. Er ist ein Entwerteter."

Diese eindrückliche Passage aus Veza Canettis Roman "Die Schildkröten" eröffnet einen vielsagenden Einblick in die Gefühls- und Gedankenwelt der Wiener Schriftstellerin vor ihrer Flucht nach London.

Im Herbst 1938 flieht Veza Canetti mit ihrem Ehemann, dem späteren Literaturnobelpreisträger Elias Canetti, vor der nationalsozialistischen Machtergreifung und der antisemitischen Verfolgung in Österreich. Doch ihr Leben in der englischen Emigration ist von persönlichen Schwierigkeiten und beruflichen Enttäuschungen bestimmt. Obwohl sie über ausgezeichnete Kenntnisse der Landesprache verfügt, findet Veza kaum Kontakt zur lokalen Literaturszene und keine Möglichkeiten zur Veröffentlichung eigener Werke. In der Nachkriegszeit stellt sie ihr Schreiben verzagt ein und widmet sich vorrangig der Verbreitung der Arbeiten ihres Gatten.

Am Weg zur Autorin

Veza Canetti (21. 11. 1897 - 1. 5. 1963).
© Johanna Canetti

Veza Canetti wird als Venetiana Taubner-Calderon am 21. November 1897 in Wien geboren. Ihr Vater, Hermann Taubner, ist ein jüdischer Handelsreisender aus Ungarn, ihre Mutter, Rahel Calderon, eine Sephardin aus Serbien. Für beide Elternteile ist es bereits die zweite Ehe, in die jeder einen halbwüchsigen Sohn einbringt.

Veza wächst als behütetes Mitglied der fünfköpfigen Familie in gutbürgerlichen Verhältnissen im dritten und zweiten Wiener Gemeindebezirk auf. Nach dem Tod des Vaters heiratet die Mutter einen wohlhabenden, aber habgierigen Witwer, unter dessen tyrannischer Willkürherrschaft Veza oftmals zu leiden hat. Im Mai 1911 zieht sie mit der geliebten Mutter und dem verabscheuten Stiefvater in die Ferdinandstraße 29. In der geräumigen Leopoldstädter Wohnung bezieht sie ein eigenes Zimmer, in dem sie schon als Schülerin ihre ersten literarischen Schreibversuche unternimmt.

Nach der Lyzealmatura beginnt eine menschlich und künstlerisch spannende Zeit für die angehende Schriftstellerin. Mehrmals reist Veza zu Verwandten nach Manchester, um ihre Fremdsprachenkenntnisse zu perfektionieren. Ihren Lebensunterhalt verdient sie sich durch privaten Englischunterricht und als Sprachlehrerin an einem Wiener Untergymnasium. Nebenbei ist sie als freie Übersetzerin, Verlagslektorin und Fremdsprachenkorrespondentin tätig.

In ihrer Freizeit verfasst sie Erzähltexte, verkehrt häufig in den Künstlersalons der Stadt und lauscht regelmäßig den Vorträgen von Karl Kraus. Bei dessen 300. Vorlesung am 17. April 1924 lernt die 26-Jährige den um acht Jahre jüngeren Chemiestudenten Elias Canetti kennen. Sie ist von seinen intellektuellen und dichterischen Ambitionen beeindruckt, er bewundert ihre literarische Bildung und Schaffenskraft. Trotz wechselseitiger Anziehung dauert es mehr als ein Jahr, bis die beiden ein Liebespaar werden.

In den 1930er Jahren kommt es zu den einzigen Veröffentlichungen zu Vezas Lebzeiten. Während sich Österreich zu einem faschistischen Ständestaat entwickelt, prägen sozialistische Ansichten das Denken und Schreiben der Schriftstellerin. So entstehen gesellschaftskritische Texte, in denen das Schicksal der wirtschaftlich Ausgebeuteten und politisch Unterdrückten in lakonischer Sprache dargestellt wird.

Zwischen 1932 und 1934 erscheinen zehn ihrer Erzählungen, unter anderem "Der Sieger", "Der Verbrecher" und "Geduld bringt Rosen", unter den Pseudonymen Veza Magd oder Martina Murner in der Wiener "Arbeiter-Zeitung". Als das sozialdemokratische Parteiblatt im Februar 1934 verboten wird, verliert Veza ihr wichtigstes Publikationsmedium. Der Abdruck von "Hellseher" im liberalen "Wiener Tag" sowie von "Geld, Geld, Geld" und "Das Schweigegeld" in der bürgerlich-konservativen "Die Stunde" beendet ihre Publikationstätigkeit im Juli 1937.

Für Veza ist das Bürgerkriegsjahr 1934 in mehrfacher Hinsicht bedeutsam. Im Januar tritt sie wieder der israelitischen Kultusgemeinde bei, die sie drei Jahre zuvor verlassen hat. Im Februar gewährt sie dem befreundeten "AZ"-Redakteur Ernst Fischer und anderen verfolgten Widerstandskämpfern Zuflucht in der Ferdinandstraße. Die Geschehnisse verarbeitet sie zur Kurzgeschichte "Drei Helden und eine Frau", die unter ihrem Decknamen Veronika Knecht in der marxistischen Exilzeitschrift "Neue Deutsche Blätter" publiziert wird.

Flucht nach England

© S. Fischer

Am 29. Februar, nur wenige Tage nach Ende der blutigen Kämpfe, ehelicht sie Elias Canetti im jüdisch-sephardischen Tempel der Leopoldstadt. Im Oktober stirbt ihre kranke Mutter, wodurch Veza das Wohnrecht in der Ferdinandstraße einbüßt und sich mit Elias eine neue Bleibe suchen muss. Bis Dezember schließt die Schriftstellerin ihren ersten Roman ab.

"Die Gelbe Straße" ist ein aus fünf Kapiteln bestehender Großstadtroman im Stile der Neuen Sachlichkeit. Schauplatz der Handlung ist die fiktionalisierte Ferdinandstraße, im Mittelpunkt der lose verbundenen Erzählstränge stehen die Opfer einer durch Geld, Geiz und Gewalt geprägten Gesellschaft: Die Angestellte Lina Seidler leidet unter der Eifersucht ihrer Chefin, das Dienstmädchen Mizzi Schadn ist den nächtlichen Übergriffen ihrer Arbeitgeberin ausgesetzt, und die Kaufmannsgattin Maja Iger verliert durch die Grausamkeiten ihres Ehemannes den Verstand. Doch auch die Täter werden letztlich wahnsinnig: Ein krankhaft reinlicher Hausbesitzer wird nach einem Wutanfall in das psychiatrische Krankenhaus Am Steinhof eingewiesen.

Der "Anschluss" Österreichs an Hitlerdeutschland im März 1938 führt zu den folgenschwersten Verwerfungen in Vezas Leben. Neben rassistischen Anfeindungen und Ausschreitungen kommt es vermehrt zur Arisierung und Konfiszierung jüdischen Eigentums. Die Schriftstellerin und ihr Ehemann sind gezwungen, ihre Grinzinger Wohnung in der Himmelstraße 30 zu räumen und in ein Zimmer der Döblinger Pension Bettina zu übersiedeln.

Da das NS-Regime die Verfolgung und Vertreibung von Juden weiter verschärft, entschließen sich Veza und Elias zur Flucht. Ihre intensiven Bemühungen um ein Einreisevisum für England sind schließlich erfolgreich. Am 19. November, nur wenige Tage nach der systematischen Zerstörung der meisten Synagogen in Wien, kann das Ehepaar Canetti Österreich verlassen und über Paris nach London fliehen. In der Emigration greift Veza auf die schrecklichen Erfahrungen dieser Zeit zurück und gestaltet daraus ihren zweiten Roman.

© S. Fischer

"Die Schildkröten" ist ein autobiografisch inspirierter Exilroman über die Entrechtung und Enteignung der jüdischen Bevölkerung nach dem Einmarsch der Nazis in Wien. Im Zentrum der episodischen Handlung stehen der jüdische Autor Dr. Andreas Kain und seine Frau Eva, die ihre Wohnung für den SA-Mann Baldur Pilz aufgeben und zu Andreas’ Bruder ziehen müssen. Aus ihrer Perspektive werden die alltäglichen Auswirkungen der antisemitischen Diskriminierung geschildert.

Nach dem Novemberpogrom wird der Bruder festgenommen und im Konzentrationslager getötet, wohingegen Andreas und Eva die rettende Flucht nach England gelingt. Genau dieser ungebrochene Überlebenswille macht die beiden stellvertretend für alle Juden zu den titelgebenden Tieren des Romans: "Denn die Schildkröte stirbt nicht so bald. Sie hat auch einen inneren Panzer und darum stirbt sie nicht. Schneidet man ihr das Herz aus, so zuckt das Herz noch lange. Löst man ihr Gehirn ab, kriecht sie weiter."

Das Exil in England ist eine bedrückende Erfahrung für Veza. Verzweifelt sucht sie nach einer Erwerbsarbeit, um den Unterhalt für sich und Elias bestreiten zu können. Gelegentliche Übersetzungstätigkeit und eine spätere Anstellung als Lektorin sichern zwar das finanzielle Auskommen, bringen aber nicht die erhofften Verbindungen zu englischen Verlegern und Herausgebern. Selbst als Veza ihre Erzählungen auf Englisch zu schreiben beginnt, kommt es zu keiner Veröffentlichung.

© S. Fischer

Ihr ausbleibender Erfolg als Schriftstellerin geht mit Gefühlen der Entwertung und Entfremdung einher. Mehr noch als die mehrmaligen Wohnungswechsel und die getrennten Wohnorte sind es die verletzenden Affären ihres Ehemanns mit jungen emigrierten Künstlerinnen - dazu zählen die Bildhauerin Anna Mahler, die Schriftstellerin Friedl Benedikt und die Malerin Marie-Louise von Motesiczky -, die Veza kränken.

Ihre letzten Lebensjahre sind durch ihre anhaltende Erfolglosigkeit und einsetzende Erkrankung überschattet. Obwohl Veza seit den 1930er Jahren auch als Dramatikerin tätig ist, wird keines ihrer drei Theaterstücke verlegt oder aufgeführt. Den gescheiterten Versuch, das Drama "Der Oger" - es beruht auf einem Kapitel aus "Die Gelbe Straße" - in der Nachkriegszeit im Schauspielhaus Zürich auf die Bühne zu bringen, kann sie nur schwer verwinden.

Posthum gewürdigt

Im Jahr 1956, als ein neuerlicher Romanentwurf abgelehnt wird, vernichtet sie zahlreiche Manuskripte und beschließt, nichts mehr zu schreiben. Fortan befördert sie vornehmlich die schriftstellerische Karriere ihres Ehemanns, wenngleich sie verstärkt unter Herzbeschwerden leidet. Am 1. Mai 1963 stirbt Veza an einer Lungenembolie in einer Londoner Klinik.

Vezas vorzeitiges Verstummen führt dazu, dass ihr literarisches Werk erst lange nach ihrem Tode wiederentdeckt wird. In der Mitte der 1980er Jahre findet die germanistische Forschung einen Hinweis auf die wahre Identität der Urheberin jener Erzählungen, die unter den Pseudonymen Veza Magd, Martina Murner und Veronika Knecht abgedruckt worden sind. Erkundigungen bei Elias Canetti - 1981 ist ihm der Nobelpreis für Literatur zuerkannt worden - ergeben, dass es sich bei der besagten Autorin tatsächlich um seine verstorbene Ehefrau gehandelt hat.

In den folgenden Jahren werden Vezas bedeutendste Arbeiten erstmals in Buchform veröffentlicht: 1990 erscheint "Die Gelbe Straße", 1991 das Drama "Der Oger", 1992 der Erzählband "Geduld bringt Rosen", 1999 der Exilroman "Die Schildkröten" und 2001 die Textsammlung "Der Fund". Seither hat die aus Wien vertriebene und als Schriftstellerin verschwiegene Veza Canetti die Wertschätzung und Würdigung erfahren, die ihre schöpferischen Leistungen verdienen.

Die Werke von Veza Canetti sind als Taschenbücher im S. Fischer Verlag erhältlich.

Bernhard Wenzl publiziert regelmäßig Beiträge über deutsch- und englischsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts.