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Die schwere Last der vielen Dinge

Von Dagmar Weidinger

Reflexionen

"Messies" haben Probleme mit der Entsorgung wertloser Gegenstände. In ihren Wohnungen türmen sich immer größer werdende Sachenberge auf.


Diese Hose braucht Luise Glaser (Name von der Red. geändert) ganz sicher nicht. Es ist schon paradox: Ausgerechnet ein Messie bekommt noch etwas geschenkt. Luise Glasers Nachbarin am Naschmarkt hat es zu gut gemeint. Den wahren Grund für die Flohmarktaktivitäten der Standnachbarin kennt sie nicht. Sichtlich hin- und hergerissen packt diese die brombeerfarbene Schnürlsamthose, die ihr wohl passen würde, zu den anderen Dingen, die sie verkauft.

Über Geschenke kann sich die ehemalige Kindergärtnerin schon lange nicht mehr freuen. Glaser, 61, ist Pensionistin und seit wenigen Monaten Verkäuferin am Naschmarkt in Wien. Sie ist Messie und weiß, dass sie sich mit jedem weiteren Stück ein wenig mehr die Luft zum Atmen nimmt. Deshalb auch die Idee mit dem Flohmarkt. "Wenn ich sehe, dass jemand mit einem meiner Ohrringe oder einem Kuscheltier eine Freude hat, kann ich mich leichter davon trennen."

Fließende Grenzen

Glaser ist kein Einzelfall. Geschätzte 30.000 Menschen in Österreich leiden darunter, zu viele Dinge zu haben. Der Grat zwischen Messie- und Nicht-Messie ist schmal. "Das geht schleichend", weiß Elisabeth Vykoukal, Psychoanalytikerin und Messie-Expertin an der Wiener Sigmund Freud Privatuniversität (SFU). Sie beschäftigt sich seit über zehn Jahren mit der speziellen Patienten-Gruppe. "Ich würde jemanden als Messie bezeichnen, wenn seine Wohnung nicht mehr funktional ist", erklärt die Therapeutin. Konkret ist damit die Erfüllung von Grundbedürfnissen gemeint: sich reinigen, sich versorgen, aber auch es sich gemütlich machen. Reißerische Mediendarstellungen von zugemüllten Wohnungen haben in den seltensten Fällen damit zu tun.

Wer die engagierte Psychoanalytikerin über "ihre" Messies reden hört, spürt schnell die Sympathie, die sie für ihre Klienten hegt und auch die Vorsicht beim Umgang mit der Diagnose. "Was Messies in extremer Form ausleben, kennen wir im Prinzip alle von uns selbst, denn wer kämpft nicht von Zeit zu Zeit mit seiner überbordenden Büchersammlung oder der großen Taschenfülle im Kleiderschrank?", fragt Vykoukal.

Die Therapeutin plaudert dabei gerne aus dem eigenen Leben. Als ihr Partner vor kurzer Zeit zu ihr gezogen sei, habe sie erst bemerkt, welche Menge an Büchern sie im Laufe ihres Lebens angehäuft habe. In gewisser Weise ist es wohl ein komplett normales Altersphänomen, sich die Wohnung voll zu räumen, denn wer mistet schon konsequent jedes Jahr aus? Hinzu kommt, dass Menschen zeitlebens ihr Potential ausloten wollen. "Ich müsste mir eigentlich keine Kleider mehr kaufen, meine Schränke sind voll", so Vykoukal, "aber ich tue es eben, weil ich natürlich immer wieder Neues ausprobieren möchte, zum Beispiel: Wer bin ich denn in Pink?"

Doch während Vykoukal - zwar mühsam aber doch - die eigenen Bücherberge reduzieren konnte, um dem Partner in der Wohnung Platz zu machen, gelingt Messies genau dieser Schritt nicht mehr. Auch Glaser kennt das. Als ihre Gemeindewohnung im 5. Wiener Bezirk vor vielen Jahren saniert werden sollte, mietet sie sich ein privates Geschäftslager in unmittelbarer Nähe an, um ihren Besitz auszulagern. Die Sanierung kommt nicht, das Lager bleibt . . . und wird immer voller. An Ausmisten ist bald nicht mehr zu denken, die eigene Wohnung muss als Stauraum herhalten. 2012 zeigt sie der Nachbar an, da er den vollgeräumten Balkon für eine Brandgefahr hält; die erste Abmahnung von "Wiener Wohnen" flattert ins Haus. Mehr durch Zufall stößt Glaser auf der Suche nach Hilfe auf die Messie-Selbsthilfegruppe der SFU.

Begonnen hat das Sammeln jedoch bereits viel früher. Als junge Kindergärtnerin in Ausbildung braucht Glaser zum Bau einer Trommel Kondensmilchdosen und einen Autoschlauch. Glasers Vater besorgt damals nicht einen Schlauch, sondern gleich 10. Man ist glücklich, nicht nur die Kinder, sondern auch die Kolleginnen mit Material versorgen zu können. Was nicht gebraucht wird, wandert in die Sammel-Ecke. Aus der Ecke wird langsam ein Zimmer, aus dem Zimmer die Wohnung. Knöpfe, Klopapierrollen, Wollreste. "Ich habe selbst gesammelt und wurde auch immer gut versorgt", sagt Glaser im Rückblick. "Während die anderen Kindergärtnerinnen nach einer Zeit aufhörten, Wollreste zu sammeln, ging es bei mir immer weiter. Ich konnte nicht nein sagen."

Was Glaser beschreibt, erleben viele Menschen, die sich als Messies bezeichnen. Lieber alles selber haben, als einen anderen darum zu bitten, vorsorgen und sich ein Lager anlegen, um in schlechten Zeiten autark zu sein, und zugreifen bei Dingen, die nichts kosten. Würde ein Weltkrieg ausbrechen, viele der zwanghaften Sammler könnten problemlos eine lange Zeit auf sich selbst gestellt überleben.

Angst vor Mangel

Der Salzburger Psychologe und Psychotherapeut Rüdiger Opelt hat aus diesem Umstand eine Theorie gebildet. Als aufsuchender Therapeut stieß er vor 30 Jahren zum ersten Mal in Sozialsiedlungen auf das Messie-Phänomen. Heute taucht es in seiner Praxis immer wieder als Begleiterscheinung anderer psychischer Erkrankungen auf. Opelt ist überzeugt, dass es sich um keinen Zufall handelt, dass die Besitzsucht vor allem in der Generation 40+ um sich greift. "Der materielle Absturz vieler Familien während und nach dem Weltkrieg hat zu einer kollektiven materiellen Gier geführt", resümiert er. Wer den Mangel in der Kindheit dermaßen massiv erlebte, wird im Alter umso mehr dagegen ankämpfen - und zuweilen übers Ziel schießen.

Opelt greift gerne auf einen Vergleich zu körperlichen Gegebenheiten zurück. So gibt es in der Hirnforschung die Annahme, dass das individuelle Körpergewicht von einer "Schaltstelle" im Gehirn aus reguliert wird. Dieser sogenannte "Ponderostat" stellt das Gewicht nach jeder Hungerphase auf ein höheres Gewicht als davor ein, da der Körper für schlechtere Zeiten vorsorgen will. So kommt es bei häufigen Diäten zum Jo-Jo-Effekt. "Der seelische Ponderostat", wie Opelt es nennt, "stellt das Besitzbedürfnis nach jedem existenziellen Absturz auf mehr Gegenstände ein". Deshalb hätten von Armut bedrohte Menschen ein erhöhtes Kaufbedürfnis und begännen sich zu verschulden. "Wenn das nicht mehr geht, sammelt man wertlose Gegenstände", erklärt der Experte.

Erinnerungs-Schrott

Was Menschen mehr oder weniger exzessiv zu sammeln beginnen, kann sehr individuell ausgeprägt sein. Neben Bastelmateria-lien türmen sich bei Glaser etwa riesige Zeitschriften- und Zeitungsberge des Ex-Manns in der Wohnung. Der Vater ihrer beiden Söhne, ebenso Messie, abonnierte "in seinen besten Zeiten" bis zu 20 verschiedene Magazine. Während "Konsument", "profil", "focus", "Geo", "Psychologie heute", "Wiener" und "Wienerin" das Vorzimmer immer enger werden lassen, trägt Glaser die Wohnungs- und Lebenserhaltungskosten alleine. "Ich hatte einen guten Mann", erzählt sie im Rückblick, "aber er war ein Schichtarbeiter und wollte immer etwas Besseres sein." Durch den vielen Lesestoff hoffte er, gebildeter zu werden.

Nach der Scheidung verschwindet der Mann aus der Wohnung, die Magazine bleiben - "bis heute", wie Glaser hinzufügt. Vielleicht weil die Pensionistin sie selber noch lesen möchte, wie sie sagt, vielleicht aber auch, weil sie die lieb gewonnen Überreste einer vertrauten Person sind.

Elisabeth Vykoukal bekommt einen mitfühlenden Gesichtsausdruck, wenn sie davon spricht, wie schwer es für viele ihrer Klienten auszuhalten wäre, dass es auch Erinnerungen ohne entsprechendes Material geben könne. Viele Messies würden sich außerdem selbst eher als Wohltäter oder Museumsleiter denn als krankhafte Sammler erleben. "Ich rette etwas Wertvolles vor der Vernichtung", so der Tenor. Viele der zwanghaften Sammler sind zudem soziale Außenseiter und fühlen sich wertlos. Indem sie wertlosen Dingen Bedeutung verleihen, sagen sie der Umwelt: "Ich bin genauso wertvoll wie jedes Ding in meiner Wohnung" - eine Art Selbstheilungsversuch.

Doch vor allem Angehörige tun sich oft schwer mit den angesammelten Tetra-Packungen oder Joghurtbechern und verstehen nicht, warum statt einer Verpackung aus den 50er Jahren gleich 20 oder 50 aufgehoben werden müssen. Wie Glaser bemerken viele erst nach einer Anzeige oder der Räumungsdrohung, wie sehr sie sich selbst und ihre Familie jahrelang eingeschränkt haben.

"Es braucht viel Geduld, aber auch Beharrlichkeit, um Verbesserungen zu erzielen", sagt Elisabeth Vykoukal, die ein eigenes Betreuungsschema an der SFU entwickelt hat. Neben Einzeltherapie und Selbsthilfegruppe haben Betroffene hier die Möglichkeit, von einem Studenten in ihrem "Ausmist-Prozess" begleitet zu werden. Alleine fühlen sich viele hoffnungslos überfordert.

Auch Glaser schwärmt von "ihrem" Studenten. Einmal in der Woche öffnen sie gemeinsam das große Tor zum "Lager", um wieder einige der sorgfältig eingepackten Schätze herauszunehmen. Für Glaser ist es ein langsamer, aber heilsamer Prozess, selbst zu überlegen, was zum Flohmarkt kommen soll und was nicht. Umso entsetzter ist sie über Fernsehsendungen, in denen Messies vom einen Tag auf den anderen die Wohnung "aufgeräumt" wird. Im schlimmsten Fall könnte das zu einem Totalzusammenbruch führen, bestätigt auch Vykoukal. Wenn die Beschäftigung mit Dingen so wichtig geworden ist wie nahe Beziehungen, kann kein Gewaltakt die Ordnung wieder herstellen.

Glaser zeigt mir am Flohmarkt sichtlich freudig ihre Sammlung an knallbunten Überraschungseierfiguren. Da gibt es zusammengesetzte Autos mit Kranaufsatz, Flugzeuge, deren Propeller sich noch drehen, und Schiffe mit Piratenzeichen. Alles wie neu und voller Erinnerungen an eine Kindheit in den 80er Jahren, als ihre beiden Söhne noch klein waren. Zum Abschied bekomme ich einen Hubschrauber geschenkt. Als sie ihn mir in die Hand drückt, spüre ich gleichzeitig Freude und ein leichtes Schlucken.

Dagmar Weidinger, geboren 1980, ist Kunsthistorikerin, Lektorin am Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien und freie Journalistin.