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Hexenkessel und Schlachtfeld

Von Martin Zinggl

Reflexionen

In einem Dorf in Nepal findet alle fünf Jahre das größte Blutopfer-Schlachtfest der Welt statt. Massen an Pilgern strömen herbei, um der hinduistischen Göttin Gadhimai zu huldigen. Tierschützer protestieren bisher vergeblich.


Nichts als Pilger, soweit das Auge reicht. Links von mir, rechts von mir, vorne, hinten, oben und unten. Dazwischen Fahrradrikschas, Pferdekutschen und hupende Motorräder mit drei, vier und auch fünf Passagieren darauf. Ein hoher, quietschender Ton, der anhält. Tuuuuuut.

Ich bin umzingelt. Sie alle stürmen in irgendeiner Form zum Tempel von Bariyarpur, um dem Puja beizuwohnen, einem hinduistischen Ritual zu Ehren Gottes. Angeblich sind es zwei Millionen Menschen, die sich über die steinig-staubigen Pisten mühen, vielleicht auch drei oder doch nur eine. Wer weiß das schon? Passantenzähler gibt es in diesem nepalesischen Nest keine. Und außerdem, wie genau sieht eine Million Menschen aus an einem Ort, der normalerweise rund 11.000 Seelen beherbergt? Das wären rund zwanzig mittelgroße Fußballstadien voll. Tuuuuuuut.

Jeder schleppt irgendetwas: Koffer, Reissäcke, Kleinkinder. So mancher schultert eine Ziege, zieht einen Wasserbüffel an der Leine oder trägt einen Vogelkäfig auf dem Kopf, voll gepfercht mit Tauben. Trotz der anstrengenden und strapaziösen Anreise spiegeln sich in den Gesichtern der Menschen Vorfreude und Euphorie. Die Tiere hingegen sehen alles andere als glücklich drein. Ob sie ihr Schicksal bereits erahnen? Tuuuuuut.

Eigentlich ist Bariyarpur ein harmloses Plätzchen. Schmucklos und einfach. Ein Dorf wie jedes andere im südlichen Nepal. Mal gibt es Strom, dann wieder nicht. Kilometerweite Nassreisfelder machen die Gegend zur Kornkammer des zweitärmsten Landes Asiens, wenngleich davon bis auf ein paar vertrocknete, gold-grüne Halme nichts zu sehen ist. Die Ernte ist vorbei, das Stroh wird geschnitten, um es in den kalten Nächten zu verheizen. Da und dort steht eine Lehmhütte, dazwischen Senfkornfelder, Salbäume und Krähen. Im Fünfjahresrhythmus aber verwandelt sich Bariyarpur in einen Hexenkessel. Die Zutaten: Millionen hinduistischer Pilger aus Nepal und den angrenzenden indischen Bundesstaaten. Abertausende Wasserbüffel, Schweine, Ziegen, Hühner und Tauben. Und eine Göttin namens Gadhimai. Es ist das größte Blutopfer-Schlachtfest der Welt.

Im Rausch der Betelnuss, des Kautabaks oder im Blutrausch, jedenfalls wie ferngesteuert, bewegt sich der Menschenfluss im Schneckentempo vorwärts, trägt mich Zentimeter für Zentimeter mit, wie einen Surfer auf einer Welle. Das Kollektiv erlaubt kein eigenes Tempo, Handeln oder Denken. Ein Drängeln, ein Drücken, ein Schubsen, ein Stoßen. Hier ein Ellbogen, da eine Schulter. Und natürlich: Tuuuuuuuut.

Dazwischen verkommen ein paar Leprakranke am Boden, wenngleich manche bösen Zungen behaupten, dass ihre Wunden nicht echt seien. Arme Teufel sind sie dennoch. Mit Stockschlägen sorgt die nepalesische Polizei für Zucht und Ordnung - für volle zehn Sekunden. Danach regiert wieder das Chaos. Über dem 30 Quadratkilometer großen Areal hängt eine Duftwolke, die sich aus Fäkalien, verbranntem Müll, Abgasen, Weihrauch und Staub zusammensetzt. Da helfen auch die Schutzmasken und vielen bunten Tücher um Münder und Nasen nicht. Dazu noch ein Geräuschpegel, der die Dezibel im Trommelfell hämmern lässt. Neben den Hupen und Fahrradklingeln dringen aus den Lautsprechern abwechselnd Gebetssalven, Hindi-Filmschlager und das Geplärre von verlorengegangenen Knirpsen. Einhundert Kinder pro Stunde sollen es in dem unentrinnbaren Gewirr sein. Alles bewegt sich in Trance - gemeinsam. Da ist er wieder, der kollektive Wahnsinn.

Nur einer passt nicht ins Bild. Wie ein meditierender Sadhu sitzt Manoj Gautam abgesondert und still vor dem Tempel - im Hungerstreik. Olivgrüne Kapuzenjacke, getrimmter Vollbart, Designerbrille. Als kleiner Junge bewunderte er Jane Goodall, später lernte er sie persönlich kennen, heute leitet Manoj das Jane-Goodall-Institut in Nepals Hauptstadt Kathmandu, ist Tierschützer und Präsident des Vereins "Animal Welfare Network Nepal". Um ihn herum eine Handvoll Gleichgesinnter, unter anderem ein regional bekanntes Gesicht: Swami Agnivesh, ehemaliger Bildungsminister Indiens und Sozialaktivist.

Viele Drohanrufe

Beim letzten Gadhimai vor fünf Jahren nahm sich Manoj felsenfest vor, das diesjährige Festival blutfrei über die Bühne gehen zu lassen. Vergebens, soviel vorweg. Aber einen Teilerfolg könnte der schlaksige Jüngling feiern, wenn er wollte. Tut er aber nicht, denn Manoj ist bescheiden. Die indischen Behörden haben den Export von möglichen Schlachttieren nach Nepal verboten und die Grenzen überwacht - dank Manojs Kampagne. Der illegalen Überquerung zum Trotz sind dadurch diesmal rund zehn Mal weniger Tiere betroffen als bei der Messe fünf Jahre zuvor. Dass er sich mit seinem Engagement sowohl in Indien als auch in Nepal viele Feinde gemacht hat, ist dem 29-jährigen Nepalesen bewusst. Die vielen Drohanrufe erinnern ihn jeden Tag daran.

"Sie können auch mich töten, sage ich immer. Aber dann kommt halt ein anderer an meine Stelle", ist Manoj überzeugt. Sein Englisch ist ebenso perfekt wie sein Auftreten. "Gemeinsam sind wir stark." Dazu musste es aber erst einmal kommen. Vor fünf Jahren war Manoj der Einzige, der an ein schlachtfreies Gadhimai geglaubt hat. "Alle haben mich als Verrückten abgestempelt. Und heute haben wir Anhänger auf der ganzen Welt." Freundlich, aber bestimmt rufen die Pilger Manoj etwas zu: "Ihr könnt protestieren, so viel ihr wollt. Gadhimai wird immer weiter existieren. Das ist unsere Kultur!" Manoj lächelt höflich: "Gadhimai schon, aber mit dem Blutopfer ist Schluss."

Die Vorstellungen über Gadhimai basieren, wie so vieles im Hinduismus, auf Legenden und Erzählungen. Diese Geschichte geht so: Vor 265 Jahren saß der nepalesische Feudalherr Bhagwan Chaudhary wegen Mordes im Gefängnis. Müde vom ewigen Jammern, träumte er eines Nachts von der schönen Gadhimai. Die Göttin sprach: "Bau mir einen Tempel." Chaudhary, der recht aufgeregt war, meinte nur: "Hör mal, würde ich gerne, oh Mutter, aber ich sitze im Knast." Gadhimai bot Chaudhary einen Deal an: "Wenn du mir einen Tempel baust und ein menschliches Opfer darbietest, löse ich all deine Probleme." Chaudary willigte ein - und schon war der Verbrecher ein freier Mann. Er wurde Priester und fuhr nach Bariyarpur, um Gadhimai einen Tempel zu bauen.

Der Dorfheiler riet ihm zu einem Blutopfer: Fünf Stellen am menschlichen Körper und fünf verschiedene Tiere. Nachdem dann auch noch aus einem Tontopf ein Licht erschien, war die Sache klar. Gadhimai ist nur dann zufrieden, wenn geopfert wird - und das alle fünf Jahre.

Historische Legende

Für all das gibt es keinen historischen Beleg. Mit Geschichte und Religion hat das Töten also wenig zu tun. Auch nicht mit Kultur, wenngleich diese oftmals als Begründung herhalten muss. "Als Mensch bin ich gegen das Opfern der Tiere", sagen viele Pilger. "Aber als Hindu verlangt das meine Kultur/Geschichte/Religion."

Es ist eine Legende, die seit einem Vierteljahrtausend gestattet, Tiere zu töten, um die eigene Haut zu retten. "Die meisten Menschen, die hierher kommen, sind arme, ungebildete, kranke und verzweifelte Leute", sagt Manoj. "Bettler, Krüppel, Geächtete. Hoffnungslose Menschen, die von jedem nur denkbaren Lebensaspekt geschlagen wurden." Unerfüllte Kinderwünsche, der Traum von Genesung oder einem finanziell bzw. privat besseren Leben treibt sie an, alles zu tun und alles zu geben. Wenn es sein muss eben auch einen Wasserbüffel, für den sie bis zu 30.000 Rupien (rund 250 Euro) berappen - für viele ein Jahresgehalt. Der Glaube versetzt bekanntlich Berge.

Rund 300 Männer mit hochgehaltenen Krummschwertern ziehen an Manoj vorbei. Die Schlächter, im Volksmund maar haanne genannt, werden vom Oberpriester persönlich ins Gebet genommen, bevor sie sich ans Werk machen. Sie wurden weder als Schlächter geboren noch auserkoren. "Das ist unser Brauch, unsere Tradition", sagt Sunar Lal, einer der lizenzierten Henker. Es ist sein fünftes Gadhimai. Wie viele Wasserbüffel er am Gewissen hat, weiß der 45-Jährige nicht mehr, aber dass er den ersten im Alter von 22 Jahren geköpft hat, daran erinnert er sich, als ob es gestern gewesen wäre. "Wir schlachten und schlachten und schlachten." Stolz darauf, Gott zu dienen und gleichzeitig verlegen, da es ihm für die Büffel leid tut, lächelt er in die Kameras der unzähligen smartphones. Sein dicker Schnauzer glänzt im fahlen Kegel des Scheinwerferlichts. Reue? "Ja, denn die Tiere sind unschuldig und können nichts sagen, aber meine Religion, meine Kultur zwingt mich dazu."

"Ich finde es dennoch gut, dass wir Blutopfer bringen", sagt Sunar. "Kokosnüsse, Süßigkeiten und Blumen anstelle von Blutopfern sind natürlich eine Option. Die Göttin wäre damit wohl auch zufrieden, aber wenn nicht mehr geschlachtet wird, kommen keine Pilger mehr und dann gibt es auch keinen Grund mehr, das Gadhimai-Volksfest zu veranstalten. Unsere Kultur würde dann einfach verschwinden."

Sunar ist eigentlich Mechaniker im Nachbardorf, aber für Gadhimai tauscht er den Schraubenschlüssel gegen sein khukuri, die nepalesische Nationalwaffe. "So haben wir das schon immer gemacht. Mein Urgroßvater war bereits maar haanne und hat genau dieses Schwert verwendet." Ein guter maar haanne bringt zwei Attribute mit: Mut und Kraft. Richtige maar haannes fürchten nur Gott, darum schlachten sie.

"Richtige Priester hingegen", sagt Sunar, "die an Gott glauben, bleiben dem Schlachten fern, da sie auch kein Fleisch essen. Es ist gegen ihren Glauben. Aber die modernen, rückgratlosen Priester sehen sich das Spektakel an." Im Namen der Religion ist es im Grunde genommen eine Sünde, was hier passiert, denn auch in den heiligen Schriften der Vedda werden Blutopfer nicht toleriert. Sunars Frau und die vier gemeinsamen Kinder sind gegen seine Arbeit. Sie haben Angst, er könnte sich dabei verletzen. Und auch er wünscht sich, dass seine Söhne niemals maar haanne werden, denn tief im Inneren weiß er, dass es nicht richtig ist. Aber als frommer Hindu. . . Tuuuuuut. Wenn da nicht die Kultur wäre. . . Tuuuut, tuuuut.

Das große Schlachten

In einem Gehege, das rund zwei Fußballfeldern entspricht und durch eine zwei Meter hohe Mauer eingegrenzt wird, finden sich im nebeligen Morgengrauen die 300 maar haannes wieder. Einer nach dem anderen hacken sie den nervös umhertrabenden Wasserbüffeln den Kopf ab. Dass ein Wasserbüffel verschont und ihm symbolisch "nur" das Ohr gelöchert wird, kommt selten vor. "Bis kurz vor Beginn des Schlachtens war das noch im Gespräch mit dem Organisationskomitee", sagt Manoj enttäuscht am Ende des Tages. Aber während draußen bereits die Henker auf das blutrünstige Ritual warteten, entschied das Tempelkomitee, dass es keinen Weg zurück mehr gibt.

"Die Bilder und die vermittelte Botschaft sind somit die gleichen wie vor fünf Jahren", sagt Manoj. "Junge Büffel laufen verängstigt umher in einem Meer von toten Körpern ihrer Artgenossen, schnüffeln an den leblosen Leibern. Dieses extreme und unnötige Gewaltausmaß! Darum fühle ich, dass ich versagt habe. Das tut mir auch als Nepalese weh, da es schließlich um mein Land geht."

Dabei ist Gadhimai Mela, die Messe zu Ehren der Göttin, viel mehr als nur ein Opferfest. Es gibt Geisterbahnen und Gesangswettbewerbe, Straßenkünstler und Autoshows, Wahrsager und Schwindler, Camper und Taschendiebe, Luftballons und Windräder. Unterkünfte gibt es keine, und auf sanitäre Einrichtungen hat man verzichtet. Dafür werden in Zelten schriller Plastik-Kitsch, frittierte Teigwaren und Reis mit Curry angeboten, worüber sich Greise ebenso freuen wie Kleinkinder. Brodelnde Töpfe, glänzender Schmuck und farbenfrohe Textilien - Jahrmarktstimmung südasiatischen Ausmaßes. Einen Monat dauert die Party, aber an zwei Tagen erfolgt das Hauptevent: das Tieropfer. Und dazu gibt es die "Menschenexplosion".

Hinduismus zu verstehen kann zur Lebensaufgabe werden - und ob man ihn nachher auch noch mag, bleibt fraglich. Man verbrennt sich dabei schnell die Finger. Lord Krishna, Vishnu und Shiva sind im Hinduismus uniform und jedem frommen Hindu geläufig. Fragt man im 186 Kilometer entfernten Kathmandu jemanden nach Gadhimai, schütteln die Meisten verwundert den Kopf.

Literatur über diese Gottheit und das Volksfest gibt es nicht. In Büchern und Skripten über Hindufestivals, Gottheiten, Bräuche und Kultur des Hinduismus wird Gadhimai nicht einmal erwähnt. Warum also tötet man dann für diesen Gott? "Aberglaube", sagen die einen, "Tradition", die anderen, "ein regionales Soziologie-Phänomen völlig verzweifelter Menschen, das unglaublich gut angepriesen wird", sagt Manoj. "Mein Nachbar ist reich geworden. Wie hat er das gemacht? Was tut er anders als ich? Er opfert Gadhimai einen Wasserbüffel. Ein Schaf fällt von der Klippe und alle anderen folgen."

Viele indische Tempel, die heute Millionen von Menschen anlocken, waren früher ebenfalls Opfertempel. Das könnte sich nun auch in Bariyarpur verändern. Einflussreiche Menschen sind bereit, in die Infrastruktur in und um Bariyarpur zu investieren, um die Gegend attraktiver für den Tourismus zu machen. "Aber dafür müssen die Gräueltaten und dieser Schmutz hier aufhören", sagt Manoj. "Ich will es nicht verschreien, aber ich denke, das war das letzte Gadhimai mit Blutopfern. Ich habe das zwar schon 2009 gesagt, aber wenn man sich das Ergebnis ansieht, dann hat es bereits strukturelle Veränderungen gegeben. Wir haben wirklich alles versucht, aber es hat nicht gereicht. Das Tempelkomitee weiß um den lokalen und internationalen Druck Bescheid und kennt die Bedingungen für die Verbesserungen in Bariyarpur. Es liegt nun in ihrem Ermessen, ob das 11.000-Seelen-Dorf Weltruhm erlangt oder ein Symbol für eine der Schandtaten der Menschheit bleibt."

Bestialischer Gestank

Das Ergebnis nach zwei Tagen Gadhimai: mindestens fünf Tote durch Erdrücken, Erfrieren und Unfälle, eine indische Pilgerin, die von sieben Jugendlichen massenvergewaltigt wurde, und rund 30.000 geköpfte Tierkadaver. Die Dorfbewohner haben den Organisatoren des Festivals einen Strich durch die Rechnung gemacht und das Fleisch für sich beansprucht. Andernfalls hätte es profitable Verträge mit indischen Fleischfirmen gegeben. Zurück bleibt ein Schlachtfeld voller Skelette und blau-grauer Innereienberge, die vor sich hinwubbern und bestialisch stinken, von Blut getränkte Erde und der Müll von ein bis zwei Millionen Menschen, vielleicht aber auch drei.

Martin Zinggl, geb. 1983, hat Kultur- und Sozialanthropologie studiert und lebt als Autor und Dokumentarfilmer in Wien und Barcelona. Zuletzt ist von ihm erschienen: "Warum nicht Mariazell? Als Ethnologe in Tuvalu" (Verlag Abera, 2013)