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Schlaganfall oder Mord?

Von Adrian Lobe

Reflexionen

Eine neue DNA-Analyse könnte die alte Frage klären, ob Jean-Jacques Rousseau ermordet worden ist.


Die Frage, unter welchen Umständen der berühmte Philosoph Jean-Jacques Rousseau ums Leben kam, konnte bis heute nicht geklärt werden. Schon kurz nach seinem Ableben schossen Spekulationen über ein Mordkomplott ins Kraut. Bis ins 20. Jahrhundert hinein rätselte die Öffentlichkeit über die Todesursache.

Nun, mehr als 300 Jahre nach Rousseaus Tod, könnte der Fall eine neue Wende erhalten. Ende April wurde im Londoner Auktionshaus Christie’s ein zehnseitiges Manuskript von Rousseau versteigert. Darin enthalten: ein Haar des Philosophen. Eine DNA-Analyse der Haarprobe könnte das mysteriöse Rätsel um den Tod endgültig klären. Eine andere Frage, ob nämlich die sterblichen Überreste, die 1794 ins Panthéon überführt wurden, wirklich jene des Philosophen sind, ließe sich nun auch beantworten. Bisher gab es daran immer wieder Zweifel.

Der letzte Vormittag

Doch der Reihe nach. Am 2. Juli 1778, gegen zehn Uhr morgens, stirbt der Autor des "Contrat So-cial" im Schloss des Marquis de Girardin in Ermenonville. Diesen pittoresken Landsitz in einem Vorort nördlich von Paris hatte er seit zwei Monaten bewohnt. Am Morgen des 2. Juli steht Rousseau wie gewohnt zu früher Uhrzeit auf und macht einen Spaziergang im Park. Gegen acht Uhr in der Früh kehrt er zurück. Er frühstückt und zieht sich dann mit seiner langjährigen Lebensgefährtin Thérèse Levasseur zurück. Thérèse, eine nicht gerade attraktive Erscheinung, stammte aus einfachen Verhältnissen, sie konnte weder lesen noch schreiben, die Beziehung wurde als Mesalliance bezeichnet.

Um zehn Uhr wird der Gastgeber, Monsieur de Girardin, von Schreien aufgeschreckt. Er betritt das Zimmer und sieht den leblosen Körper Rousseaus am Boden liegen. Thérèse an seiner Seite, blutüberströmt. Rousseau ist tot. Der Marquis ruft einen Arzt herbei und ordnet eine Autopsie an, so wie es der Philosoph in seinem Testament festgeschrieben hat.

Am nächsten Tag fertigt der Bildhauer Houdon eine Totenmaske an. Als er von der Todesnachricht erfährt, eilt der Genfer Journalist Corancez, ein enger Freund Rousseaus, nach Ermenonville. Vom Postboten erfährt er, Rousseau habe sich mit einer Pistole das Leben genommen. In sein Tagebuch notiert er später, er sei von den Anwesenden vor dem Anblick des Toten gewarnt werden. Die Autopsie ergibt, dass sich im Hirn eine "beträchtliche Menge Flüssigkeit (acht Unzen)" angesammelt hätte und die Stirn angebrochen sei - Folge eines Sturzes?

Die ersten Untersuchungen deuten auf eine natürliche Todesursache hin. Der Chirurg, Monsieur de Casterès, schreibt in seinem Abschlussbericht: "Die Untersuchung der äußeren Partien des Körpers haben uns einen Verband sehen lassen, die indizieren, dass M. Rousseau zwei geringfügige Leistenbrüche hatte, von denen wir später sprechen werden. Der Rest des Körpers wies nichts Unnatürliches auf; keine Flecken, keine Pusteln, keine Hautflecken, keine Verletzungen. (. . .) Der Magen enthielt nur Café au lait, den M. Rousseau für gewöhnlich um sieben Uhr morgens mit seiner Frau einnahm."

Doch an dem Bericht gibt es Zweifel. Der Chirurg Le Bègue, der bei der Autopsie zugegen war, streut Gerüchte über einen möglichen Selbstmord. Genährt wird diese These von zwei Briefen, in denen Rousseau sich als Apologet des Suizids zu erkennen gab, und von einer Liebschaft Thérèses mit einem Stallburschen des Marquis.

Der gramgebeugte Philosoph hätte sich aus Kummer darüber das Leben genommen. Der Marquis glaubt jedoch nicht an einen Selbstmord. Am 8. Juni 1824 schreibt er einen Brief an den Schriftsteller Alfred de Musset-Pathay, in dem er mit kriminalistischer Sorgfalt jedes Detail analysiert. Darin bringt er die Möglichkeit eines Giftanschlags ins Spiel - jemand könnte Rousseau Dioxin in den Kaffee gemischt haben.

Postume Zweifel

Der Schlosspark in Ermenonville, wo Rousseau beigesetzt wurde, wird in den Folgejahren zu einem Pilgerort nicht nur für die "petites gens", sondern auch für die Großen: Marie-Antoinette, Robespierre und der junge Bonaparte geben sich die Ehre. Rousseau sollte auch ihr Schicksal mitbestimmen. Er hatte eine Lunte zur revolutionären Explosion gelegt. Am 11. Oktober 1794, dem 20. Vendémi-aire im französischen Revolutionskalender, dekretierte das Direktorium, den Sarg ins Panthéon nach Paris zu überführen. Der Säulenheilige der Französischen Revolution sollte in die Ruhmeshalle gebracht werden, wo die Nation eine Art aufgeklärten Totenkult betrieb.

Im Jahr 1864 behauptet der Erzbischof von Paris, das Grab von Rousseau im Panthéon sei leer. Victor Hugo macht in seinem Werk "William Shakespeare" Anspielungen: die Knochenreste seien in einem Feld von Bercy von dem Marquis de Puymaurin nach der Rückkehr der Bourbonen verstreut worden. In Paris verbreitet sich die Fama, der Marquis de Girardin habe einen Sarg voll Schafsknochen ins Panthéon schicken lassen - Rousseaus Gebeine lägen weiterhin in Ermenonville.

Eine unwürdige Debatte. Um den Spekulationen den Garaus zu machen, ordnet die Regierung 1897 die Öffnung des Sargs an. Das Bildungsministerium setzt eine Kommission ein, die mit der Authentifikation des Grabs betraut wird. Berthelot, der zuständige Arzt, entdeckt keine letale Anomalie oder Fraktur - Körper und Kopf sind intakt. Was nichts heißen muss, schließlich könnte Rousseau auch vergiftet worden sein. Dennoch: Der Befund wird angezweifelt. 1912, im 200. Geburtsjahr Rousseaus, sorgt eine neue Studie für Aufsehen: Der Arzt Julien Raspail stellt bei einer Untersuchung der Totenmaske verdächtige Wunden und Gehirnverletzungen fest und meint, dass diese den Schluss zuließen, Rousseau sei keines natürlichen Todes gestorben.

Nikolai Kopanev, der Direktor der Voltaire-Bibliothek in Sankt Petersburg, behauptete, im Besitz von Dokumenten zu sein, die belegen sollten, dass Voltaire und Katharina II. ein Mordkomplott gegen Rousseau geschmiedet hätten. Doch warum hätte der greise Voltaire seinen ewigen Rivalen umbringen lassen sollen, an dem er sich zeitlebens publizistisch abgearbeitet hatte? Das klingt doch recht abenteuerlich. Außerdem: Voltaire segnete bereits zwei Monate vor Rousseaus Tod das Zeitliche - er hätte in die finalen Planungen gar nicht mehr eingeweiht sein können. Der Kronzeuge Kopanev starb 2013 - fügte also der Geschichte ein weiteres mysteriöses Kapitel hinzu. Aber sollte Rousseau wirklich ermordet worden sein, bliebe die Frage nach dem Täter und Motiv. Wer hätte den Philosophen aus welchem Grund umbringen sollen?

Ein Royalist, dem Rousseaus gesellschaftliche Vorstellungen zu radikal erschienen? Oder ein Agent? Rousseau war zeitlebens auf der Flucht, seine Werke wurden verboten und öffentlich verbrannt (wie der "Contrat Social" in Genf), das Parlement de Paris erteilte einen Haftbefehl. Bei Rousseaus Aufenthalten in England, wo er sich mit David Hume traf, versuchte man, ihn als Aggressor zu diskreditieren.

Das fehlende Motiv

Bernard Cottret, Autor einer Biografie über Rousseau, glaubt nicht an die Hypothese eines Mordanschlags. "Im Moment seines Verschwindens stellte Rousseau keine ernsthafte Gefahr mehr für die französischen und britischen Geheimdienste dar", teilt er auf Anfrage mit. Der Schriftsteller stand unter Hausarrest - er hätte jederzeit verhaftet werden können - und war zudem mit einem Publikationsverbot belegt worden. Als Täter kommt eigentlich nur seine Frau Thérèse in Frage. Sie war als Einzige mit Rousseau im Salon und hätte auch ein Motiv gehabt - Habgier. Nach Rousseaus Tod wurde sie Universalerbin.

Der Fund einer Haarsträhne im Rahmen der Londoner Auktion hat die Diskussion neu entfacht. "Die Affäre Jean-Jacques Rousseau flackert wieder auf", titelte die Tageszeitung "Le Figaro" kürzlich in ihrer Literaturbeilage. Die DNA-Analyse könnte Klarheit über die Todesursache bringen - und die Akte Jean-Jacques Rousseau damit schließen.

Adrian Lobe, geboren 1988, lebt als freier Journalist in Stuttgart und schreibt für Zeitungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz.