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Glück und Unglück am Gipfel

Von Thomas Veser

Reflexionen

Mit der Erstbesteigung des Matterhorns vor 150 Jahren hat Edward Whymper Geschichte geschrieben. Die Gemeinde Zermatt erinnert im Sommer mit Freilichtspielen an dieses Ereignis.


Bei günstigen Wetterverhältnissen sind Sommernächte in der Hörnlihütte auf 3260 Metern kurz. Bereits gegen drei Uhr kriechen die ersten Gäste, oft nach einem unruhigen Schlaf, aus den Federn und bereiten sich auf den Aufstieg vor. Meist von professionellen Bergführern begleitet, bewegen sie sich zunächst durch die stockdunkle Nacht zum Einstiegspunkt auf den "Horu". So nennen die Einheimischen den Berg auf Walliserdeutsch.

Wie wild es da oben zugeht, darüber hat Bergführer Kurt Lauber, seit 17 Jahren Hüttenwart der mittlerweile umgebauten und modernisierten Hörnlihütte, ein Buch vorgelegt. Dazu sammelte der Zermatter, der in der Bergrettung aktiv ist, Erzählungen anderer Bergführer. Herausgekommen ist eine Sammlung amüsanter Anekdoten. Etwa über Leichtsinnige, die lediglich im Sommer-Outfit dem symbolträchtigen Berg allen Ernstes und natürlich alleine aufs Dach steigen wollten.

Aber selbst angemessen ausgerüstete Bergsteiger, die ihre Kräfte überschätzen, verlieren bei plötzlich auftretendem Unwetter die Orientierung. Ihren Standort herauszufinden und sie "einzusammeln", wie sich Lauber ausdrückt, ist Aufgabe des Rettungsdienstes. Zwar gehen derartige Zwischenfälle meist glimpflich aus, tödliche Unfälle sind Lauber jedoch nicht erspart geblieben. Die meisten Bergsteiger besitzen aber glücklicherweise die nötige Kondition und sind sich der Gefahren bewusst.

Bergsteiger im Anzug

Dieses Verhalten war in den 1860er Jahren in Alpinistenkreisen nicht so weit verbreitet. Die meisten Gipfelstürmer, die damals an der Erschließung der Alpen maßgeblich beteiligt waren, stammten aus England. Sie gehörten in der Regel Adel und Großbürgertum an.

Zu ihrem Outfit im Hochgebirge zählte nicht selten ein schicker Flanellanzug, mit dem sie sich auch bei den heimischen Kricketspielen und Pferderennen sehen ließen. Dazu etwas festeres Schuhwerk, einen mit Metallspitze versehenen "Alpenstock" und ein Steigeisen. Manche brachten ausziehbare Holzleitern mit, um Gletscherspalten und vereiste Felswände zu überwinden. Es gehört zu den unlösbaren Rätseln der alpinen Bergbesteigung, dass bis Mitte des 19. Jahrhunderts dennoch alle namhaften Gipfel ohne nennenswerte Zwischenfälle erstiegen wurden.

Edward Whymper (1840- 1911), der als Matterhornbezwinger in die Geschichte einging, stammte aus bescheidenen Verhältnissen. Aber auch der ursprünglich zum Graveur ausgebildete Londoner setzte sein Leben bewusst aufs Spiel, um Berge zu besteigen.

"Das Matterhorn bleibt immer gleich imposant, von welcher Seite man es auch sieht. Gewöhnlich sieht es niemals aus", hielt er fest. Aus besonders ungewöhnlichen Perspektiven ist es auch dem Fotografen Robert Bösch gelungen, den berühmten Berg in einem kürzlich erschienenen Buch zu zeigen.

Whymper betrachtete den 4478 Meter hohen Berg, der als unbesteigbar galt, als besondere Herausforderung. Von 1861 an bemühte er sich vier Jahre lang erfolglos, den Giganten, den er als "großartig, aber nicht schön" empfand, von Breuil-Cervinia im italienischen Aostatal aus zu besteigen. Für die lokalen Führer empfand Whymper wenig Sympathie: "Wegweiser und große Verzehrer von Fleisch und Branntwein, aber sonst nicht mehr", schrieb er, und abergläubisch seien sie auch gewesen. Nachdem er sechsmal gescheitert war, wollte ihn kein Bergführer mehr begleiten. Doch Whymper gab nicht auf: Vielleicht könnte ja ein Aufstieg über den Schweizer Nordostgrad von Zermatt aus gelingen. Dafür entschied er sich blitzschnell im Juli 1865, als er erfuhr, dass der italienische Alpenclub die Erstbesteigung des "Cervino", wie das Matterhorn auf Italienisch heißt, zur nationalen Sache erklärt hatte.

Namenlose Lebenslust

Whymper eilte nach Zermatt und hatte Glück. Er konnte sich gleich einem Bergsteigerteam unter Leitung von Lord Francis Douglas anschließen, das den Aufstieg über den Hörnligrat am 13. Juli anpacken wollte. In seinem Buch über die Erstbesteigung, das er mit eigenen Holzschnitten versehen hatte, stellt sich Whymper, der gewiss ein versierter Bergsteiger war, stets als Initiator dar. Von drei Führern und drei Touristen begleitet, überflügelte der Engländer die italienischen Konkurrenten und erreichte am 14. Juli 1865 den Gipfel.

Edward Whymper triumphierte. Als er die Italiener, die am 11. Juli aufgebrochen waren, wenige hundert Meter unter sich erblickte, löste er Eisbrocken und schlug die "Konkurrenten" damit in die Flucht. Nach seiner Schilderung ließ Whymper, einmal auf dem Gipfelpunkt angekommen, seinen Gefühlen freien Lauf. Als "unglaublich, übermenschlich", beschreibt er seine Eindrücke. "Eine Stunde voll namenloser Lebenslust", so Whymper, habe er damals erlebt.

Beim Abstieg allerdings forderten Unerfahrenheit und mäßige Kondition einen hohen Tribut: Der junge Engländer Robert Hadow rutschte aus und riss bei seinem Absturz drei Bergsteiger mit. Als das Seil riss, stürzten die vier 1200 Meter tief in den Tod. Das Matterhorn, dieser "hartnäckige Feind, nahm fürchterliche Rache, als er besiegt war", schrieb Whymper später über diesen Vorfall.

Die Tragödie verschaffte ihm Alpträume: "In jeder Nacht, verstehst du, sehe ich meine Kameraden vom Matterhorn rutschen auf ihrem Rücken, ihre Arme ausgestreckt, in makelloser Reihenfolge bei gleichen Abständen, Croz , der Führer zuerst, dann Hadow, dann Hudson und zuletzt Douglas. Ja, ich werde sie immer sehen."

Das Bergdrama dämpfte Whympers Triumphgefühle und leistete bald üblen Gerüchten Vorschub. So warf man ihm und dem Schweizer Bergführer Taugwalder in der britischen Presse vor, sie hätten das Seil durchtrennt, um ihre eigene Haut zu retten. Eine anschließende Untersuchung der Walliser Regierung wurde bald eingestellt. Whymper, ein "verschlossener und zurückhaltender Mensch", habe alles ausgesprochen gewissenhaft und faktisch nachprüfbar dargestellt, bekräftigt Sylvain Jouty im Nachwort der Neuauflage.

Touristenmagnet

Der Medienrummel lockte seit 1865 noch mehr Hasardeure an, die am "Schicksalsberg" ihr Mütchen kühlen wollten. "Ersteige die Hochalpen, wenn Du willst, aber vergiss nie, dass Mut und Kraft ohne Klugheit nichts sind, und dass eine augenblickliche Nachlässigkeit das Glück eines ganzen Lebens zerstören kann", gab Whymper künftigen Gipfelstürmern 1872 zu bedenken.

In jenen Jahren konnte sich der französische Schriftsteller Alphonse Daudet in seinem Roman "Tartarin in den Alpen" einen Seitenhieb auf das Inselvolk nicht verkneifen: "Ein Berg, wo sich nie einer das Genick gebrochen hat, das ist nichts für die Engländer. Sie kommen einfach nicht mehr. Das Wetterhorn zum Beispiel kam seit einiger Zeit aus der Mode. Dann wurden zwei Führer mit ihren Begleitern unter dem Schnee begraben. Seit diesem kleinen Unglück sind die Einnahmen sofort beträchtlich gestiegen."

Der 14. Juli 1865 gilt als Auftakt der neuen Sportart Bergsteigen, was für die Einheimischen damals ebenso unverständlich war wie die Begeisterung der Ausländer für Wintersport in Davos und St. Moritz, etwa Schlittenfahren oder Eisstockschießen.

In der Folgezeit entwickelte sich Zermatt zu einem der begehrtesten und erfolgreichsten Fremdenverkehrsorte der Schweiz. Die Gemeinde erinnert heuer an dieses denkwürdige Ereignis, und zwar in Form von Freilichtspielen beim Gornergrat unterhalb des Matterhorns. Dort wird bis 29. August "The Matterhorn Story", in Walliserdeutsch, Deutsch und Englisch aufgeführt.

Objektive Darstellung

Verfasst hat das Werk die Berner Autorin Livia Anne Richard, die sich bei der Dramatisierung wahrer Ereignisse einen Namen gemacht hat. Sie ist auch für die Inszenierung verantwortlich. Richard hat versucht, sich so eng wie möglich an die nachprüfbaren Fakten der Erstbesteigung zu halten. Einfach ist das nicht, da man nur auf Edward Whympers persönliche Darstellung zurückgreifen kann. Deshalb widmete sie ihr Werk ausdrücklich den örtlichen Bergführern, denen er seinen Erfolg verdankte. Jenen Männern also, die unverdient im Schatten des Engländers blieben, der alleine zu Weltruhm gelangte.

Whymper bestieg auch später in Südamerika Berge und beschrieb seine Erfahrungen in Aufsätzen und Büchern. Im Alter von 66 Jahren heiratete er eine Frau, die um einiges jünger war. Sie hatten eine gemeinsame Tochter, doch bald ging die Ehe in die Brüche. Vier Jahre darauf starb Whymper einsam in einem Hotelzimmer im französischen Chamonix.

Die Bergführer Taugwalder, sowohl Vater als auch Sohn, wurden nach ihrer Rückkehr vom Gipfel ihres Lebens nicht mehr froh. Man behandelte sie wie Aussätzige. Erst 80 Jahre später widmete man ihnen an ihrem Wohnhaus eine Gedenktafel. Sie hätten damals, so heißt es dort, nur ihre Pflicht erfüllt.

Literatur:

Kurt Lauber: Matterhorn, Bergführer erzählen. Gesammelt Gipfelgeschichten Droemer/Knaur 2015.

Daniel Anker: Matterhorn - Berg der Berge. Mit Fotos von Robert Bösch. AS-Verlag 2015.

S. Jouty, E. Whymper: Matterhorn - Der lange Weg auf den Gipfel. Vorwort von Simon Anthamatten. AS-Verlag 2014.

Reinhold Messner: Absturz des Himmels. S. Fischer Verlag 2015.

Thomas Veser, geboren 1957, lebt als Journalist in Konstanz und ist Mitglied der Schweizer Arbeitsgemeinschaft "Pressebüro Seegrund".