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Kolonie der Vergessenen

Von Martin Zinggl

Reflexionen
Erinnert mit Bungalows aus rotem Ziegelstein mehr an eine Ferienanlage, ist aber eine Station für Leprakranke: die Klinik im nepalesischen Lalgadh.
© Zinggl

In einem Spital im Südosten von Nepal werden Leprakranke behandelt. Die offiziell als ausgerottet geltende Krankheit kennt nur eine Zielgruppe: die Ärmsten der Armen.


<p>"English?", frage ich den Fahrer.<p>"Yes!", antwortet dieser.<p>"What is your name?"<p>"Yes!"<p>"How many hours to Kathman- du?"<p>"Yes!"<p>Gut, seine Englischkenntnisse könnten eventuell noch etwas verbessert werden, aber schließlich finde ich heraus, dass er Kamal heißt. Es wird eine schweigsame Fahrt. Nur ein einziges Mal entkommt ihm ein knappes, emotionsloses "Oh", als wir beinahe in eine Horde wilder Affen rasen, die hastig die Fahrbahn überqueren. Dank seines kriminell anmutenden Fahrstils braucht Kamal keine fünf Stunden für die Strecke, die im Normalfall rund acht Stunden dauert.

Lebenslange, schmerzfreie Qualen, das ist Lepra: Ein Betroffener im Krankenhaus Lalgadh am Gehbarren.
© Zinggl

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Frieden mit Schicksal

<p>Auf dem Weg in das Krankenhaus in der nepalesischen Hauptstadt sterbe ich 193 Tode, einen für jeden Kilometer, den wir seit dem Lepraspital in der südöstlichen Ortschaft Lalgadh zurückgelegt haben. Über den mangelnden Sitzkomfort und die eingeschränkte Beinfreiheit wage ich allerdings nicht zu klagen, denn direkt hinter mir liegt auf einer Pritsche zusammengekauert Ram, ein 16-jähriger Leprapatient. Neben ihm auf dem Boden seine Beinprothese, die der Junge aus Janakpur seit der Amputation seines linken Beins vor einem Jahr trägt. Am Tag zuvor rutschte sein Beinstumpf bei einem falschen Schritt von der Prothese ab und Ram stürzte. Nun liegt er mit einem offenen Oberschenkelbruch im spärlich ausgerüsteten Rettungswagen und wird in ein Le-praspital in Kathmandu überführt, da es in Lalgadh keinen orthopädischen Chirurgen gibt.<p>Herausragend ist seine Demut: Ram macht keinen Mucks, kein Schluchzen, keine Beschwerde - und das liegt nicht daran, dass er zu sehr damit beschäftigt ist, sich festzuklammern. Ram hat sein Schicksal längst akzeptiert und Frieden damit geschlossen. Fahrer Kamal rast über die kurvigen Bergstraßen, sodass Ram im hinteren Teil des Wagens herumgeschleudert wird. Kamal bremst, Ram fällt erneut und stößt sich den Kopf an der Kante des Medizinschranks. Blut rinnt ihm aus dem Haaransatz am Scheitel. Wie sehr kann ein Mensch eigentlich von Pech verfolgt sein?<p>Geht es nach der ländlichen, nepalesischen Gesellschaft, sind Leprapatienten "gottverflucht" und müssen dafür büßen, dass sie in einem früheren Leben etwas Furchtbares gemacht haben. Schließlich steht es so auch in den alten Hinduschriften geschrieben: eine "große Krankheit", genannt Maharog, wird die Übeltäter überkommen.<p>Was Ram wohl verbrochen hat, um so gestraft zu werden? Die restliche Fahrt grüble ich darüber, wie ungerecht die Welt ist und durch welche kosmische Glückskonstellation die einen auf die Zuckerseite des Lebens fallen, während die anderen umso kräftiger in den sauren Apfel beißen müssen? Denn die Wahrscheinlichkeit, dass ein gesunder, in unprekären Verhältnissen lebender Mensch an Lepra erkrankt, ist in etwa so groß, wie einen Lotto-Sechser zu gewinnen. In Lalgadh versammeln sich diese unglücklichen "Gewinner". Wie Gespenster schlendern die Patienten die Gänge in der auf Leprakranke spezialisierten Klinik entlang. Alleine oder zu zweit, manche mit Gehstock, andere im Rollstuhl. Still, ziellos, zerbrechlich, gebrandmarkt. In ihren Augen spiegelt sich Unsicherheit und Leere wider.<p>

Ängste und Abscheu

<p>Inmitten eines großzügigen, grün angelegten Gartens erinnert das Spital mit seinen Bungalows aus rotem Ziegelstein äußerlich mehr an eine friedliche Ferienanlage. Nach Dienstschluss spielt das Personal Badminton, während sich die Patienten mit Brettspielen die Zeit vertreiben. Mit Eintreten der Dunkelheit löst das Zirpen der Grillen den Vogelgesang ab, unterbrochen nur vom gelegentlichen Stöhnen eines Leidenden, um daran zu erinnern, dass man hier nicht auf Urlaub ist. Die meiste Zeit aber verhalten sich die armen Teufel ruhig und tapfer.<p>Lepra begleitet uns nun schon seit Jahrtausenden, hat sich in den Köpfen der Menschen aber erst im 13. Jahrhundert, während der Kreuzzüge, festgesetzt, ehe sie Ende des 16. Jahrhunderts in Mitteleuropa ausgerottet wurde.<p>Und dennoch wissen wir bis heute sehr wenig über diese mysteriöse Krankheit. In der Regel dauert es zwischen zwei und zwanzig Jahren, bis Lepra im Körper ausbricht. Die Ansteckungsgefahr ist gering, man müsste schon über einen sehr langen Zeitraum mit einem Erkrankten auf engstem Raum zusammenleben, um sich selbst zu infizieren.<p>Zudem hat der Großteil der Menschheit eine genetische Immunität gegen die chronische Krankheit entwickelt. Aber da Lepra bereits in der Antike Ängste und Abscheu auslöste, setzte man damals schon vorsorglich die Betroffenen aus. Daran hat sich in so manchen armen Ländern Asiens und Afrikas nicht viel geändert. Auch in Nepal isoliert man Menschen, die an "Maharog" leiden. Ihr Dasein ist eine Last. Aber nicht nur die Gesellschaft ächtet Leprakranke, das nepalesische Gesetz verbietet ihnen sowohl zu arbeiten, als auch zu heiraten.<p>

50 Patienten pro Tag

<p>Weltweit infizieren sich jährlich rund eine Viertelmillion Menschen. Geht es nach der Weltgesundheitsorganisation (WHO), gilt Lepra seit der Jahrtausendwende als eliminiert. Die genaue Defini- tion lautet: wenn weniger als ein Patient unter 10.000 Einwohnern behandelt wird. So gesehen ist auch Nepal seit 2009 theoretisch leprafrei. Aber eben nur theoretisch, denn die Krankheit tritt mittlerweile in mehreren Teilen des Landes endemisch auf, vor allem im südlichen Terai - und Lalgadh zählt zu den meist beschäftigten Lepraspitälern der Welt.<p>Wenn nicht gerade politische Querelen die Straßen blockieren und den Kranken den Zugang zur kostenlosen Behandlung verwehren, suchen bis zu fünfzig Patienten pro Tag die Klinik in Lalgadh auf - und es werden jährlich mehr. Drei bis vier Neuinfektionen täglich bleiben stationär, aufgrund der geographischen Nähe ist mindestens ein Patient aus Indien darunter. Manche bleiben nur einige Tage, gravierende Fälle bis zu zwei Jahre - und wieder andere bleiben für immer, da es für sie kein Zurück mehr gibt. Entweder lässt die Familie sie nicht mehr heim, trotz aller Aufklärungsarbeit durch die Lalgadh-Mitarbeiter, oder die Patienten verweigern nach erfolgter Heilung die Rückkehr in ihre Dörfer, geschweige denn zu ihren eigenen Familien, selbst wenn diese sie wieder aufnehmen wollen. Zu brutal sind die Erinnerungen daran, in abgeschotteten Holzhütten im Wald zu verrotten, oder in Behelfskerkern im Haus; teilweise ein Jahrzehnt oder länger ohne Tageslicht und Sozialkontakte.<p>Irgendwie schaffen wir es schließlich lebendig nach Kathmandu und liefern Ram im Spital ab. Ein letztes Mal zwinkert mir der Junge zu, bevor er per Rollstuhl im Spitalseingang verschwindet, die Prothese auf seinem Schoß. Ram hat mit großer Wahrscheinlichkeit ein tristes Leben vor sich.<p>Ähnlich trist wie jenes von Shri Lal, der sein Leben am liebsten sofort beenden würde, aber nicht den Mumm dazu hat. Shri Lal ist ein magerer Kerl, das Haar ergraut, das Zahnfleisch entzündet. Er müsste etwa sechzig Jahre alt sein, das Geburtsdatum kennt er allerdings nicht und Erinnerungen an früher verblassen genauso wie jegliche Gedanken an die Zukunft. Hier sind in groben Zügen seine Lebensfakten: Shri Lal war seit Kindestagen Reisbauer, Pflüger, Hirte, Lastwagenbe- und -entlader, eine Schule hat er nie besucht, Frau und Kind sind verstorben, irgendwann bekam er Flecken auf der Hautoberfläche, später Geschwüre an den Zehen, die Gliedmaßen wurden taub, sein Fuß fing an zu verwesen - und seit mittlerweile 16 Jahren ist er nun Dauergast in Lalgadh. Wie die meisten Patienten wirkt er depressiv, verwirrt und verloren.<p>Doch was passierte dazwischen? Lepra macht keinen Unterschied zwischen Geschlechtern oder Lebensalter, aber zwischen Klassen. Sie kennt nur eine Zielgruppe: die Ärmsten der Armen. Immergleiche körperliche Schwerstarbeit, Hausen in ärmlichen Baracken, Mangelernährung aufgrund der immergleichen Mahlzeiten, die über Linsen, Reis und Kartoffeln nicht hinausgehen, schlechte Hygiene, ein geschwächtes Immunsystem - so klingt der Teufelskreislauf, der sich als gemeinsamer Nenner dieser Krankheit herauskristallisiert.<p>Spätestens wenn sich das Bakterium in den Körper einschleicht und darin langsam vermehrt, sodass die ersten Nerven absterben, wäre der geeignete Moment, ein Krankenhaus aufzusuchen, um seine peripheren Körperteile, also Finger, Zehen, Nase und Augenlider zu retten. Aus Angst vor einer Lepradiagnose und den daraus folgenden Stigmatisierungen tun das allerdings nur die wenigsten Infizierten. In manchen Fällen geht das soweit, dass die betroffene Körperstelle über Jahre hinweg sogar der eigenen Familie verschwiegen wird.<p>Schließlich passiert irgendwie, irgendwo, irgendwann ein Unfall: Man schneidet sich in den Fuß während der Feldarbeit oder man verletzt sich am Finger beim Tragen von Lasten oder Werkzeugen, weil man aufgrund des verlorenen Tastsinns fester zupackt. Eine offene Wunde, die nicht gespürt wird, da das Empfinden an der betroffenen Stelle längst tot ist, lange noch, bevor man sich selbst den Tod herbeiwünscht. Nachdem die Infektion so weit fortschreitet, dass die umgebenden Menschen den üblen Geruch nicht mehr aushalten, isolieren sie den Übeltäter, verspotten und vergessen ihn. Schließlich bleibt dem Patienten nur mehr der Weg ins Spital, wo er die Hiobsbotschaft bekommt.<p>"Nein, nicht Krebs, Aids oder Ebola", sagt Dr. Krishna, der medizinische Leiter des Lalgadh Spitals. "Da weiß man wenigstens, dass man mit gewisser Sicherheit früher oder später daran stirbt!" Sondern Lepra, oder wie Dr. Krishna es nennt: slow killer. "Diese Last begleitet dich für immer, ist schmerzhaft, frustriert und vermindert deine Lebensqualität ungemein." Manche Patienten werden - abhängig von der Höhe der bakteriellen Ladung im Körper - trotzdem bis zu neunzig Jahre alt, müssen aber regelmäßig neue Wunden reinigen, Geschwüre entfernen oder Körperteile amputieren lassen. Schließlich sterben sie an einer zweiten Krankheit, einer Blutvergiftung oder an den Nebenwirkungen der Medikamente.<p>

Appell an Sorgfalt

<p>"Sie kommen immer wieder zurück", sagt der 48-jährige Arzt und blickt besorgt auf Shri Lal, während er mit Skalpell und Pinzette in dessen faulender Zehe - oder dem, was davon noch übrig ist - herumstochert. Mittlerweile ist es ein Routineeingriff, sowohl für Dr. Krishna, als auch für Shri Lal, der mehrmals pro Jahr in die Klinik kommt. Ständig infizieren sich neue Wunden an seinen Füßen, da er nicht auf seinen Körper achtet. Shri Lal zuckt nicht einmal mit der Wimper. Man könnte ihm brühend heiße Suppe über die Füße leeren, er würde trotzdem nichts spüren.<p>Lebenslange, schmerzfreie Qualen, das ist Lepra. "Ihre Hände und Füße mögen taub sein, nicht aber ihr Gehirn", sagt Dr. Krishna. "Darum macht ein großer Teil unserer Arbeit auch der Appell an ihre Sorgfalt aus: ‚Inspiziert jeden Abend euren Körper, schaut, ob es irgendwo offene Wunden gibt!‘ Die wenigsten halten sich daran und darum sehen wir sie nach kurzer Zeit wieder."<p>

Mögliche Heilung

<p>Lepra kann medikamentös geheilt werden. "Wir können die Infektionen stoppen", sagt Dr. Krishna, "Geschwüre entfernen und die Blessuren zusammennähen. Wir bekommen die Patienten physisch wieder hin, wenngleich dauerhafte körperliche Schäden bleiben, da die meisten zu spät kommen."<p>Sucht ein Leprakranker innerhalb von sechs Monaten nach Ausbruch der ersten Symptome eine Behandlung auf, können auch die motorischen Deformierungen von Händen und Füßen vermieden werden. Kommen die Patienten erst nach dieser Frist, ist der Nerv abgestorben, anstelle von Händen und Füßen bilden sich Klauen. "Diese Folgen sind fatal für das weitere Leben", sagt Dr. Krishna. Die tiefen, seelischen Wunden, die auf die Vorurteile gegenüber den Leprakranken zurückgehen, bleiben ohnehin für immer.<p>Dr. Krishna war einer der drei Mitbegründer von Lalgadh. Sowohl seine Großeltern als auch seine Mutter erkrankten an Lepra, er selbst wurde in einer Leprakolonie nahe Kathmandu geboren und wuchs dort auf. Stipendien ermöglichten ihm eine Ausbildung in Indien und Großbritannien. Dreißig Jahre später ist der Arzt und plastische Chirurg eine nationale Koryphäe auf dem Gebiet der Lepra und widmet sein Leben dieser Krankheit. "Am liebsten möchte ich Lepra für immer aus Nepal verbannen", sagt er. "Aber ich weiß, dass ich das nicht mehr erleben werde. Es gibt keine Impfung dagegen und solange die Armut in der Welt nicht bekämpft wird, gibt es auch Lepra."<p>Lalgadhs Geschichte begann 1993 auf Initiative der britischen Krankenschwester Eileen Lodge, einer überzeugten Christin, die eines Nachts die Eingebung hatte, ein auf Leprapatienten spezialisiertes Krankenhaus zu errichten - inmitten des Epizentrums. Damals arbeitete das dreiköpfige Team noch in einer kleinen Lehmhütte, und das Gelände, ein Truppenübungsplatz für das nepalesische Militär, war noch tiefster Dschungel, übersät mit Skorpionen, Spinnen, Schlangen und Malaria. Der Dschungel musste weichen, die Malaria ist geblieben.<p>Heute sorgen 34 Ärzte, Krankenschwestern, Psychologen und Physiotherapeuten für bis zu 150 stationäre Patienten. Seit der Gründung wurden über 32.000 Leprakranke in Lalgadh behandelt.<p>Am Tag nach der Operation spaziert Shri Lal in der Physiotherapiestation des Spitals am Gehbarren auf und ab. Um seinen Fuß trägt er einen dicken Verband. Anstelle von zehn Fingern hat er nur mehr ein paar verkrüppelte Stummel, seine Füße sind Klumpen mit Löchern und Narben.<p>Das Gehen fällt ihm schwer, aber er bemüht sich und quält ein Lächeln aus sich heraus. Eigentlich ist Shri Lal Hindu, aber seitdem man sich um ihn in Lalgadh kümmert, glaubt er an Jesus, irgendwie. Denn eigentlich vermutet auch er, gottverflucht zu sein. "Ich habe früher gerne mit meinen Freunden getrunken und Karten gespielt", sagt er. "Ist das der Grund?" Die Freunde gibt es nicht mehr und Karten kann Shri Lal nicht mehr halten. Die Frage nach dem Alkohol erspare ich ihm.

Martin Zinggl, geboren 1983, hat Kultur- und Sozialanthropologie
studiert und lebt als Autor und Dokumentarfilmer in Wien und Barcelona.