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Hausherren und Seidenfabrikanten

Von Thomas Hofmann

Reflexionen
Ein letztes Relikt der Wiener Seidenproduktion: Der als Naturdenkmal geschützte Maulbeerbaum im Innenhof des Spitals St. Elisabeth auf der Landstraßer Hauptstraße.
© Hofmann

Im 18. und 19. Jahrhundert war die Produktion und Verarbeitung von Seide in Wien ein relevanter Wirtschaftsfaktor. Das bekannte Wiener Lied von den "Hausherrnsöhnln" hat also einen realen Hintergrund.


". . . denn unser Vater is a Hausherr und a Seidenfabrikant": Wiener Größen wie Helmut Qualtinger und André Heller, aber auch Wolfgang Ambros haben diesen Klassiker des Wiener Liedes gesungen. Doch was hat es mit den Seidenfabrikanten auf sich?

Der Refrain von "D’ Hausherrnsöhnln" ist ein Ohrwurm. Der Text stammt von Wilhelm Wiesberg, einem populären Volkssänger, der 1896 im Alter von nur 46 Jahren starb. Einer seiner Fans war Kronprinz Rudolf, zu dessen Lieblingssongs Wiesbergs Couplet "Das hat ka Goethe g’schrieb’n, das hat ka Schiller ’dicht’" gehörte.

Doch zurück zu den Seidenfa-brikanten und zum siebenten Bezirk. Auf Grund zahlreicher, dort ansässiger Seidenfabriken wurde - so weiß es Peter Autengrubers "Lexikon der Wiener Straßennamen" - im Jahr 1862 die damalige Fuhrmanngasse in Seidengasse umbenannt. Hier befand sich auf Nummer 32 die Hofposamentierwarenfabrik von Rudolf Chwalla, Seidenzeugfabrikant und Förderer der Seidenraupenzucht.

Namhafte Unternehmer

Zur Zeit des Biedermeier hatten sich in den Vororten zahlreiche Seidenfabrikanten niedergelassen, darunter auch der gebürtige Waldviertler Karl Fuchsthaller. Er war nicht nur "landesbefugter und bürgerlicher Seidenzeugfabrikant", sondern auch Hausbesitzer der Liegenschaft Bleichergasse 57.

Weiters seien Johann Baptist Marchetti, Hausbesitzer und Seidenfabrikant, oder Christian Georg Hornbostel genannt. Letzterer erbte die Seidenzeugfabrik seines Vaters Cornelius Christian Gottlieb Hornbostel. Dieser war 1768 von Hamburg nach Wien gekommen, hatte die Seidenfabrik von Engelbert König in Gumpendorf erworben, die er zur ersten Seidenfabrik Wiens machte.

Somit verfügen die Wiener Vorstädte mit der Fuchsthallergasse im 9. und der Hornbostel-, Chwalla- und Marchettigasse im 6. Bezirk über vier weitere "Seidengassen". Um korrekt zu bleiben, muss festgehalten werden, dass die Bezeichnung der Hornbostelgasse auf den Politiker Theodor Friedrich von Hornbostel zurückgeht. Selbiger war der Sohn des genannten Christian Georg; somit trifft auf ihn der Refrain vom Vater als Hausherr und Seidenfabrikant voll inhaltlich zu.

An der Peripherie Wiens, in den einstigen Vororten, existiert mit der Bujattigasse, einer Parallelstraße zur Hüttelbergstraße im 14. Bezirk, eine weitere "Seidengasse". Der Seidenfabrikant Franz Bujatti besaß ab den 1830er Jahren eine Fabrik in der Zieglergasse. Diese wiederum wird von oben erwähnter Seidengasse gequert.

Doch das Wien des 19. Jahrhunderts war nicht nur ein Zentrum der Seidenfabrikanten, sondern auch ein Hotspot der Seidenproduktion. Die Rede ist von Naturseide, die das Produkt der Seidenraupe ist. Diese wiederum ist die Larve des Seidenspinners, eines Schmetterlings, namentlich des Maulbeerspinners, Bombyx mori. Er ist mehlweiß oder perlgrau, 32 bis 38 Millimeter breit und hat blass- bis gelbbraune Querstreifen auf den Flügeln. Seine Ernährung besteht ausschließlich aus Blättern des Maulbeerbaumes (Morus alba, bzw. Morus nigra).

Bei der begehrten Seide handelt es sich um einen bis zu 900 Meter langen Faden, aus dem der Kokon besteht. Aus diesem würde Bombyx mori schlüpfen, wenn nicht vorher der Kokon vom Menschen zwecks Seidengewinnung gesammelt würde. Diese wunderbare Verwandlung von der unansehnlichen Raupe in den nur mittelmäßig hübschen Schmetterling nennen Biologen "Metamorphose". Dabei spinnt sich das Tier ein höchst begehrenswertes Gehäuse, sprich: einen Kokon (auch Puppe oder Galette genannt) .

Wer sich als Seidenproduzent versuchen will, muss zunächst viele Maulbeerbäume pflanzen, um Futter für die Raupen bereitzustellen. Da das Wachstum der Bäume Jahre dauert, ist die Seidenproduktion nichts für schnelle Spekulanten, sondern eher für langfristige Investoren mit Geduld. Dementsprechend lange können einzelne Maulbeerbäume aber auch überleben.

Langlebige Bäume

Den Beweis dafür liefert das Naturdenkmal Nr. 4, ein Weißer Maulbeerbaum, der seit 3. Dezember 1936 gesetzlichen Schutz genießt. Er steht auf der Landstraßer Hauptstraße im dritten Bezirk im Innenhof des Klosters und Spitals St. Elisabeth und wird bereits 1710 in der Chronik erwähnt.

Damit ist jener Baum ein Vorbote der landesweiten Maulbeerinitiative von Maria Theresia, die in der Mitte des 18. Jahrhunderts zu greifen begann und ab 1749 staatlich gefördert wurde. Damals wurde die erste Maulbeerbaumschule Wiens in Margarethen angelegt, wo unentgeltlich junge Bäumchen verteilt wurden. Allein 1752 wurden 10.050 hochstämmige und 16.900 Spalierbäume an insgesamt 47 Parteien abgegeben. In den ersten fünf Jahren waren es nicht weniger als 262.046 Bäume; freilich wurden sie nicht alle in Wien, sondern auch in Niederösterreich gepflanzt. Der Trend hielt an, so wurde die Baumschule erweitert und man konnte auch bald vom Rennweg oder der Ungargasse, wo es ebenfalls Maulbeerbaumschulen gab, Pflanzen beziehen. Man vergab - selbstverständlich unentgeltlich - nicht nur die Bäume als Nahrungsgrundlage der Raupen, sondern mit den Bäumen auch die Eier als Vorstadien der Raupen.

Die Gratisvergabe wurde im "Wienerischen Diarium" (dem Vorläufer der "Wiener Zeitung") vom 29. März 1755 annonciert. Nicht nur, dass man sich um eine Verbreitung der Maulbeerbäume kümmerte, auch deren Schutz wurde gesetzlich geregelt. Maria Theresia war viel daran gelegen, dass die Seidenzucht in Gang kam. Sie ordnete die Maulbeerbaumpflanzung im Großarmenhaus, dem heutigen alten AKH, an; nicht zuletzt auch, um den Pfleglingen Arbeit und ein Zubrot zu verschaffen. 1768 konnten hier bereits 30 Pfund reine Seide gewonnen werden.

Obwohl man sogar auf Hauptstraßen Maulbeerbäume pflanzte, sollte oder wollte die Maulbeerbauminitiative mit dem hehren Ziel der Seidenraupenzucht nicht so recht in Schwung kommen.

Schrittweise ging es auch mit der einst florierenden Maulbeerbaumschule in Margarethen zu Ende; nach mehr als 30 Jahren erfolgte 1783 das Aus. Heute ist von all dem kaum mehr etwas geblieben. Der Name der Gartengasse zwischen Margaretenstraße und Siebenbrunnenstraße, und ein Naturdenkmal, der Weiße Maulbeerbaum im Hof des Hauses Schloßgasse 15, erinnern an den Maria-Theresianischen Maulbeerbaumbestand.

Eine kleine Seidenrenaissance gab es am Beginn des 19. Jahrhunderts, doch die Franzosenkriege zerstörten diese Hoffnungen.

Neuer Aufschwung

Erst 1839 entstand am Rennweg erneut eine Maulbeerbaumschule und schon 1841 zählte man hier 12.000 ein- bis vierjährige Stämme. Inspiration fand man in den Erfolgen, die zuvor Karl Ludwig Freiherr von Reichenbach am Reisenberg - ein früherer Name für den Cobenzl - erzielt hatte. Hier hatte er 1838 stattliche 205.050 Bäume herangezogen, was offensichtlich Schule machte. Bei Betrachtung des Seidenverbrauchs von 442.029 Pfund im Jahr 1839 war es vorteilhaft, eine gesicherte, womöglich heimische Produktion zu haben.

In der Mitte des 19. Jahrhunderts waren in der k.k. Reichshaupt- und Residenzstadt rund 20.000 Menschen in der Seidenindustrie beschäftigt. Das ist der soziale Hintergrund des Gassenhauers "unser Vater is a Hausherr und a Seidenfabrikant". Doch damit nicht genug; am 10. März 1854 erließ die niederösterreichische Statthalterei ein Dekret, um der Maulbeerbaumzucht und der Seidenkultur "jene allgemeine Ausdehnung zu verschaffen, wie dies in den südlichen Kronländern der Fall ist". Ein Gutachten dafür lieferte unter anderem die k.k. Landwirtschaftsgesellschaft in Wien, und da damals die Vororte noch nicht eingemeindet waren, betraf - aus heutiger Sicht - das Dekret auch die Wiener Peripherie.

Einer der großen "Macher" war Anton Chwalla: Er hatte als Seidenproduzent schon 1844 eine 24-seitige "Kurzgefaßte Anleitung zum Abspinnen der Seiden-Cocons, gewöhnlich ‚Galetten’ genannt" verfasst. Von dieser Schrift wurden 1855 zunächst 200 Stück an die Multiplikatoren der damaligen Zeit, Pfarrer und Lehrer, versandt.

Im selben Jahr hatte sich innerhalb der k.k. Landwirtschaftsgesellschaft eine eigene Seidenbausektion konstituiert. Deren erster Vorstand, besagter Chwalla, wohnhaft in der Kirchengasse in Wien-Schottenfeld, leitete bis zu seinem Tod 1863 die groß angelegte Promotion der Seidenkampagne. Er selbst besaß in Atzgersdorf eine "Seidenraupen-Musterzucht" und "über 50.000 Maulbeerbäume verschiedenen Alters".

Kaiserliches Schreiben

Am 15. Oktober 1866 ordnete der Kaiser in einem Handschreiben an, der Seidenkultur besondere Sorgfalt angedeihen zu lassen. So ließ man landauf, landab erheben, zählen, feststellen und berichten. All diese Bemühungen mündeten in den "Ersten österreichischen Seidenbaukongress", der von 15. bis 17. Oktober 1867 in Wien stattfand. Einmal mehr sollten finanzielle Anreize neue Impulse setzen. Der Staat förderte, wo es nur ging "denn er hält die Seidenzuchtfrage für eine Lebensfrage - der Seidenwurm sei der beste Steuerzahler." So war es im "Neuen Fremden-Blatt" vom 18. Oktober 1867 zu lesen.

So wurden für die Hebung des Seidenbaues Staatspreise ausgeschrieben, auch die Auffindung eines Mittels gegen die Erkrankung der Seidenraupen war mit 5000 Gulden dotiert. 1869 wurde sogar eine "Oesterreichische Seidenbau-Zeitung" als Organ der k.k. Seidenbau-Versuchsstation in Görz ins Leben gerufen. Es gab auch immer wieder Versuche, den Seidenbau im Schulunterricht zu verankern, doch hier konnten sich die Protagonisten nicht durchsetzen.

Mit Aussetzen der staatlichen Förderungen ging in den letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts die Seidenraupenzucht stark zurück. Nur während des Ersten Weltkriegs kam es noch einmal zu neuen Versuchen.

Thomas Hofmann, geboren 1964, ist Leiter von Bibliothek, Verlag und Archiv der Geologischen Bundesanstalt in Wien. Zahlreiche Veröffentlichungen zu geologischen und regionalen Themen.