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Das "kleine Naturwesen"

Von Gudrun Schury

Reflexionen
Christiane Goethe, gezeichnet von ihrem Mann.
© Wikimedia Commons

Vor 200 Jahren starb Christiane Goethe, geborene Vulpius. Sie war 28 Jahre lang mit dem Dichter und Geheimrat verbunden, aber nur zehn Jahre lang verheiratet. Davor lebte das Paar in einer wilden Ehe, die in Weimar Anstoß erregte.


Wenn er doch eine Adelige oder wenigstens eine Professorentochter gewählt hätte! Aber nein, der Dichterfürst Johann Wolfgang von Goethe musste sich ausgerechnet in die kleinbürgerliche Christiane Vulpius verlieben. Ein gefundenes Fressen für die Klatschtanten Weimars! Eine besonders scharfzüngige unter ihnen war Oberkonsistorialrat Karl August Böttiger. Seinen ersten Eindruck von Goethes Lebensgefährtin schildert er knapp: "Diese Vulpius ist übrigens eine kleine, unansehnliche Person, die mit dem so wohlgewachsenen, männlich-schönen Goethe [. . .] nicht wenig kontrastirt."

Dieser klassische Modeltyp war im Juni 1788 nach seiner langen Italien-Tour wieder in Weimar eingetroffen. Kurz darauf überreichte ihm eine junge Frau, beschäftigt in einer Kunstblumen-Manufaktur, die Bittschrift ihres Bruders. Goethe versprach zu helfen, ja lud die Bittstellerin sofort in sein Gartenhaus ein. Sie folgte der Einladung offenbar ungeniert, und es begann die Liebe beider Herzen, Seelen und Körper.

Skandalöses Verhältnis

Bald wohnten Christiane Vulpius und der am 25. Dezember 1789 geborene gemeinsame Sohn August mit in Goethes Haus am Frauenplan. Die Weimarer Gesellschaft fand das skandalös. Charlotte Schiller schrieb über Goethe, "sein dummes häusliches Verhältnis" habe ihm "etwas Zweideutiges im Charakter gebracht. Seine Demoiselle, sagt man, betrinkt sich alle Tage, wird aber dick und fett, der arme Goethe, der lauter edle Umgebungen hätte haben sollen".

Aus heutiger Sicht muss man sagen, dass der hier Gescholtene - zumindest in privater Hinsicht - ein Revolutionär war: Statt die Sache wie viele seiner Zeitgenossen mit Geld und Vertuschen zu regeln, hielt er an seinem "dummen häuslichen Verhältnis" fest. Das bei Hof von ihm erwartete Standesdenken wich in den eigenen vier Wänden einem modernen Konzept von Sinn und Sinnlichkeit.

Als Goethe Christiane Vulpius kennen lernte, war sie 23 Jahre alt, hübsch, gesund, an tägliche, lange Arbeit gewöhnt. Die erste Schwangerschaft 1789 überstand sie recht gut, doch die weiteren vier Versuche, Mutter zu werden, verliefen dramatisch: 1791 hatte sie eine Totgeburt, 1793 starb ihre Tochter Carolina nach zwei Wochen, ihr Sohn Carl, geboren 1795, wurde nur 17 Tage alt, und das Mädchen Kathinka starb 1802 bereits nach drei Tagen. Trotz der fünf Schwangerschaften, trotz der Trauer um die toten Kinder war Christiane Vulpius als Leiterin des großen Haushalts unermüdlich auf den Beinen. Sie klagte zwar öfter über Unpässlichkeiten, nahm aber nur die Krankheiten und die Hypochondrie Goethes wirklich ernst.

Um sich zu erholen, hatte sie zwei Hauptleidenschaften: das Theater und das Tanzen. Letzteres betrieb sie lang, oft und intensiv, zum Vergnügen und auch als sportliche Ertüchtigung.

Von der überaus zärtlichen Hinwendung zu seiner Lebensgefährtin zeugen Goethes Briefe. Während des Feldzugs nach Frankreich schreibt er: "Wärst du nur jetzt bei mir! Es sind überall große breite Betten, und du solltest dich nicht beklagen, wie es manchmal zu Hause geschieht. Ach! mein Liebchen! Es ist nichts besser als beisammen zu sein. Wir wollen es uns immer sagen, wenn wir uns wieder haben. [. . .] Bei meiner Mutter hab ich zwei Unterbetten und Kissen von Federn bestellt und noch allerlei gute Sachen. [. . .] Heute ist ein Körbchen mit Liqueur abgegangen und ein Päckchen mit Zuckerwerk. Es soll immer was in Haushaltung kommen. Behalte mich nur lieb und sei ein treues Kind, das andre gibt sich."

Fleiß und Natürlichkeit

Nicht von ungefähr ist von der Haushaltung die Rede. Goethes Partnerin war keine müßiggängerische Salonnière, wie es eine gebildete Frau von Adel gewesen wäre. Sie war Geliebte, Mutter, Haushaltsvorstand und Verwalterin eines großen Anwesens mit Garten und Landwirtschaft.

Obwohl es ihr schwer fiel, gehörte auch Korrespondenz in ihren Tagesplan. In der Regel bediente sie sich eines Sekretärs, aber ihre Briefe an Goethe sind teils auch eigenhändig - zum Glück. Denn sowohl Stil wie Orthografie sind von erfrischender Direktheit. Übrigens gleicht sie da ihrer Schwiegermutter Katharina und auch Goethe selbst, die es beide gar nicht mit dem korrekten Schreiben hatten. Genau 601 Briefe des Paars sind erhalten, 354 stammen von Goethe, 247 von seiner Frau. Es müssen sehr viel mehr gewesen sein, denn es fehlen diejenigen der ersten Jahre sowie die zwischen 1804 und 1809. Man vermutet, dass Goethe sie verbrannt hat.

Was enthalten die Briefe? Sie sind uns Heutigen sehr nah in ihrer Mischung aus alltäglichem Kleinkram, aus Beobachtungen, aus Nachrichten von der Familie, aus Reiseeindrücken und aus Herzensbekenntnissen. Christiane Vulpius berichtet oft von ihren häuslichen Pflichten und Freuden: "Im Hause gibt es immer zu thun, heut und gestern sind die Öfen in Ordnung gebracht worden. In Gärten und auf dem Lande ist alles gepflanzt und zurechte.
[. . .] der Kleine spricht sehr viel von Dir und fragt mich immer: ‚Wenn kömmt denn das Väterchen wieder?‘ [. . .] ich habe Dich ja jeden Augenblick im Sinn und denke nur immer, wie ich im Haushalt alles in Ordnung bringen will, um Dir mit etwas Freude zu machen, weil Du mich so glücklich machst."

Besonders schön sind ihre Briefe, wenn sie ihr eigenes Verlangen nach dem Geliebten in Worte fasst. Für ihre zärtlich-erotischen Bedürfnisse erfindet sie den Ausdruck "ich bin hasig" oder "ich bin Dein Hase".

Schöne Wörter

Überhaupt ist ihr Wortschatz von köstlicher Kreativität. Sie sehnt sich nach "Schlampamps-Stündchen", Goethes bestes Stück heißt "Herr Schönfuß", eine Geschenksendung ist ein "Schwänchen", eine Spritztour ein "Rutscherchen". Einmal findet sie eine rührende, charakteristische Bezeichnung für sich: "Dein kleines Naturwesen"; sie schreibt es "Dein Glein nes nadur wessen". Ein anderes Mal sendet sie "einen Expressen", also eine Schnellsendung, und unterschreibt mit "Hase in Eile".

Bis ins letzte Lebensjahr Christiane Goethes dauert der Briefwechsel an - ein Spiegel ihrer Beziehung mit den üblichen Höhen und Tiefen. Letztere gingen fast alle von Goethe aus. Er war oft viele Wochen lang weg von zu Hause. Er übertrieb es manchmal mit dem "Äugelchen-Machen", wie man damals sagte, also dem Flirten. Goethes Frau ertrug das alles mit großer Gelassenheit, verlor nie Bewunderung und Respekt für ihren "Geheimerat".

Späte Heirat

Seit dem 19. Oktober 1806 hieß Christiane endlich Goethe und war Frau Geheimrätin. Als solche konnte sie mit Fug und Recht und Anstand in die Gesellschaft eingeführt werden. Goethe bediente sich zu diesem Zweck einer Dame, die erst kürzlich nach Weimar gezogen war: Johanna Schopenhauer. Wie sie die Sache sah, entnehmen wir einem Brief an ihren Sohn Arthur Schopenhauer: "Ich denke, wenn Goethe ihr seinen Namen gibt, können wir ihr wohl eine Tasse Tee geben."

An Christiane Goethes Alltag änderte sich auch nach der Heirat nichts. Nur mit mehr Stolz und Selbstbewusstsein ging sie nun am Arm ihres Gatten spazieren oder ins Theater. Doch an ihrem Gesundheitszustand änderte sich einiges. Es ist davon auszugehen, dass sie unter Bluthochdruck litt, der letztlich zwei Schlaganfälle zur Folge hatte. Dazu kamen epileptische Anfälle sowie Nierenprobleme, und diese waren es wohl auch, die durch Urämie und akutes Nierenversagen zu ihrem Tod führten.

Bekanntlich hegte Goethe Abscheu und Panik vor allem, was mit Tod zu tun hatte. Das war auch beim Tod seiner Frau nicht anders. Die letzten Tage ihres Lebens verbrachte er - selbst krank - allein in seinem Schlafzimmer. Es wird überliefert, dass Christiane Goethe an schrecklichen Krämpfen und Schmerzen litt, so dass ihre Schreie durchs Haus hallten. Am 6. Juni 1816 starb sie im Alter von 51 Jahren.

Erst 1888 gelang es einer Weimarer Initiative, das inzwischen längst verfallene Grab Christiane Goethes zu finden und ihr darauf einen Grabstein zu setzen. Als Inschrift wurde ein Gedicht Goethes gewählt:

"Du versuchst, o Sonne, vergebens

Durch die düstren Wolken zu scheinen!

Der ganze Gewinn meines Lebens

Ist, ihren Verlust zu beweinen."

Gudrun Schury lebt als Autorin, Literaturwissenschafterin und Dozentin in Bamberg.