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Ballwunder in der Wirtschaftskrise

Von Anton Holzer

Reflexionen
Die Helden des Fußballs wurden in den Zeitungen porträtiert und gefeiert: Wiener Magazin, April 1932.
© Archiv/Anton Holzer

Anfang der 1930er Jahre war die österreichische Fußball-Nationalmannschaft europaweit unschlagbar. Die Spieler der "Wunderelf" waren aber nicht nur Sportler, sondern auch bewunderte Medienstars.


Fußball ist ein Spiel. Es ist aber auch, zumindest für die Fans und die Spieler, bitterer Ernst. Das Spiel beginnt am Feld, aber es endet nicht dort. Die Geschichte und Bedeutung des Fußballs reicht weit in Politik und Gesellschaft hinein. Fußball ist daher auch ein feiner Gradmesser gesellschaftspolitischer Befindlichkeiten. Deutlich wird das vor allem dann, wenn man diesen Sport im Zusammenhang mit der politischen Entwicklung und über einen längeren Zeitraum hinweg verfolgt.

Siege über Siege

Die bei weitem erfolgreichste Phase des österreichischen Fußballs lag in den 1930er Jahren. Damals war die Nationalelf europaweit praktisch unschlagbar. Unter unvorstellbarem Jubel der Zuschauer und Fans eilte die österreichische Mannschaft von Sieg zu Sieg. Monate-, ja geradezu jahrelang riss die Serie der Erfolge nicht ab: Februar 1931 in Mailand: Italien-Österreich: 2:1, April 1931 in Wien: Tschechoslowakei-Österreich: 1:2, Mai 1931 in Wien: Schottland gegen Österreich: 0:5, Juni 1931 in Berlin: Deutschland gegen Österreich: 0:6, Retourkampf in Wien: Deutschland gegen Österreich: 0:5, Oktober 1931 in Budapest: Ungarn gegen Österreich: 2:2, November 1931 in Basel: Schweiz gegen Österreich: 1:8, 24. Jänner 1932 in Paris: Paris gegen Wien: 1:5, 27. Jänner 1932 in Brüssel: Bruxelles Diables gegen Wien: 0:1. Und so weiter . . . Bis Anfang 1933 verlor das österreichische Nationalteam nur ein einziges Spiel. Man begann in dieser Zeit von der legendären österreichischen "Wunderelf" zu sprechen.

Die Fußballbegeisterung kannte in diesen Jahren keine Grenzen. Hunderttausende fieberten den internationalen Begegnungen entgegen. Die Euphorie umfasste alle sozialen Klassen, vor allem aber die unteren Schichten. Alle großen internationalen Heimspiele fanden im 1921 erbauten Stadion auf der Wiener Hohen Warte statt. Die größte und modernste Anlage in Kontinentaleuropa fasste bis zu 80.000 Zuseher. Sie war stets bis auf den letzten Platz ausverkauft. Seit 1929 wurden die Spiele auch im Radio übertragen.

Am Wiener Heldenplatz wurden bei großen Länderspielen Lautsprecher aufgebaut. Tausende Neugierige fanden sich ein, um den Spielverlauf live zu verfolgen. Fußball fesselte die Massen. Das Publikum war wie hypnotisiert.

Krisenstimmung

Wie ist diese Massenbegeisterung zu erklären? Auffallend ist, dass die österreichische Nationalmannschaft Anfang der 1930er Jahre zum Höhenflug ansetzte, also inmitten einer schweren Wirtschaftskrise - 1933 war ein Viertel der österreichischen Bevölkerung arbeitslos. Patriotische Begeisterung und wirtschaftliche Ohnmacht schienen damals kein Widerspruch zu sein, im Gegenteil. Die Begeisterung für den Fußball war in Zeiten der Krise eine Möglichkeit, kollektive Ohnmachtsgefühle zu kompensieren.

Wie sehr die Masseneuphorie und das kollektive Minderwertigkeitsgefühl zusammenhängen, schildert der bekannte Historiker Eric Hobsbawm, der seine Kindheit im Wien der Zwischenkriegszeit verbrachte. In seiner Autobiografie "Gefährliche Zeiten. Ein Leben im 20. Jahrhundert" liefert er einen plastischen Einblick in die gesellschaftliche Stimmung dieser Jahre. Er schildert, wie sehr die Österreicher 1918, nach dem verlorenen Krieg, das Gefühl der Minderwertigkeit plagte.

Auf den Fußball kommt Hobsbawm zwar nicht zu sprechen, sehr wohl aber auf das Jahr 1938. Er führt aus, dass der überwältigende Erfolg der nationalsozialistischen Bewegung viel mit dieser gefühlten Machtlosigkeit zu tun habe. Die Annexion an Hitlerdeutschland, so schreibt er, habe das kollektive Minderwertigkeitsgefühl, das die Österreicher in den Jahren nach der traumatischen Niederlage 1918 so oft beklagten, aufgewogen.

Anfang der 30er Jahre waren die Helden des Landes nicht Politiker, Künstler oder Filmschauspieler, sondern Fußballer wie Matthias Sindelar, Hugo Meisl, Karl Zischek oder Anton Schall. Sie wurden nicht nur im Stadion gefeiert, sondern auch in den Medien.

Bedarf an Bildern

Eine besondere Rolle in der Sportberichterstattung spielten die illustrierten Zeitungen und Magazine, die die Fußballstars in Bildern feierten. Hatte man in der fotografischen Fußballberichterstattung bisher vor allem auf möglichst dramatische Spielszenen zurückgegriffen, so begann sich das nun zu ändern. Je populärer die einzelnen Spieler wurden, desto größer wurde die Nachfrage nach unkonventionellen Bildern, nach privaten Posen und Momenten.

Nicht nur in Österreich, auch im Ausland erlangte die "Wunderelf" Berühmtheit. Im Februar 1933, kurz vor dem mit besonderer Spannung erwarteten Länderspiel Österreich gegen Frankreich, publizierte die bekannte "Kölnische Illustrierte Zeitung" eine beeindruckende Reportage über die legendäre Elf. Unter dem Titel "Österreichs Wunderelf privat" wurden die Stars der Mannschaft in privaten Aufnahmen und in Spielerposen gegenübergestellt. Herausgehoben war der berühmte österreichische Torhüter Rudolf Hiden, der im bürgerlichen Beruf als Bäcker vorgestellt wurde. Er sei, so heißt es zu den Bildern, "zurzeit Europas bester Torhüter".

Die Faszination der Massen für den Fußball hatte in der Zwischenkriegszeit freilich auch eine dunkle Kehrseite. In die sportlichen Grabenkämpfe mischte sich die Parteipolitik und nicht zuletzt auch der Antisemitismus. Ein Spiel zwischen Rapid, der Austria oder der Admira und dem jüdischen Wiener Sportclub Hakoah galt in den 1920er und 30er Jahren auch als ein politisches Derby, in dem es nicht nur um spielerische Erfolge, sondern auch um die Losungen der Tagespolitik ging. Als die beiden Wiener Clubs Rapid und Hakoah einander Anfang Dezember 1927 gegenüberstanden und der in den 1920er Jahren führende jüdische Verein eine haushohe Niederlage von 9:1 einstecken musste, trat der Antisemitismus in der Berichterstattung ganz offen zutage. "Welch ein Zusammenbruch!", hieß es im "Illustrierten Sportblatt". "Das 9:1-Resultat ist mehr als ein Debakel, das Tageskonstellationen im Fußball mitunter schaffen können. Es ist der Schlußpunkt einer ungesunden Entwicklung, die innen und außen verzehrend am Marke der Kriauer fraß."

Der sportliche Niedergang der Hakoah wurde im selben Beitrag als moralische Verirrung gedeutet, als Krankheit, als "Infektion", als Folge materieller Hybris und geschäftlicher Gier. Das Vokabular bediente sich aller gängigen antisemitischen Vorurteile.

Das Ende

Der legendäre Aufstieg der "Wunderelf" begann bald nach dem Abstieg der Hakoah, die in den 1930er Jahren nicht mehr an ihre große Zeit anknüpfen konnte. Dennoch ist der Erfolg der "Wunderelf" ohne den Beitrag jüdischer Spieler undenkbar. Unter ihnen waren der legendäre Kapitän Hugo Meisl, aber auch Karl Zischek und Adolf Vogl. Am 12. Februar 1933 hatte die "Wunderelf" den Zenit ihres Ruhmes erreichet. An diesem Tag gewann sie noch einmal souverän gegen Frankreich mit 4:0. Nach dem Spiel aber verlor sie ihren berühmten Torhüter Rudolf Hiden. Ein französischer Club warb ihn für eine Rekordsumme ab, bald gingen weitere Spieler ins Ausland. Die "Wunderelf" gewann zwar noch eine Reihe von Spielen, aber als unbesiegbar galt sie nun nicht mehr.

Anton Holzer, geboren 1964, Fotohistoriker, Publizist und Herausgeber der Zeitschrift "Fotogeschichte", lebt in Wien. 2014 erschien im Primus Verlag, Darmstadt, sein Buch: "Rasende Reporter. Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus". www.anton-holzer.at