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Abendstimmung unter Tage

Von Marco Lauer

Reflexionen

Die Zeche Prosper-Haniel in Bottrop ist das letzte Bergwerk im Ruhrgebiet, das noch in Betrieb ist. Aber auch ihr Ende ist absehbar, und damit endet eine lange, stolze Bergmannstradition.


Im Bergwerk ist der Zusammenhalt größer als in anderen Betrieben.
© Lauer

Am Ende werden sie zerstören müssen, was sie liebten. Dicht machen, was sie zusammen hielt über all die Jahre. Sie werden die Schächte, die Stollen zuschütten, verfüllen, verplomben. Abwerfen sagen sie im Bergbau, wenn eine Zeche endgültig geschlossen wird. Diese wird nun die Letzte sein von allen. Beschlossener Schließungstermin: 31. 12. 2018. Dann ist der Kohlenpott Geschichte.

Noch ist es nicht so weit. Noch wird gearbeitet auf der Zeche Prosper-Haniel in Bottrop, Stadtteil Kirchhellen, am nordwestlichen Rand des Ruhrgebietes. Dreitausend Kumpel, die großen Stolz empfinden, weil sie die Letzten sind, die unter Tage einen schmutzigen Job zu einem sauberen Ende bringen.

"Dat hier is n bisschen wie ne Sterbebegleitung", sagt Holger Stellmacher, Markennummer 7410, 47 Jahre alt, im Bergbau seit 1985, "da haut man nicht ab kurz vor Schluss." Er lächelt. "Da macht man einfach weiter und verdrängt den Gedanken ans Ende." Am letzten Tag werde man noch genug heulen.

An diesem grauen Montagmorgen sitzt Stellmacher im weißen Bereich der Kantine. Für jene, die erst noch einfahren. Kommt man zurück von der Schicht aus dem Berg, benutzt man das andere Drehkreuz zum Schwarzbereich. Wie jeden Montag dominiert der Fußball die Gespräche der Kumpels. Es geht ein sauberer Schnitt durch die Zeche - zwischen Dortmund und Schalke, mit leichten Vorteilen für Schalke. Der geographischen Nähe von Bottrop zu Gelsenkirchen geschuldet. Stellmacher sagt zum Kollegen: "Ihr habt ja vielleicht n’ bisschen mehr Herz, aber wenn du guten Fußball sehen willst, musst halt doch zu Borrussia gehen."

Langer Berufsweg

Stellmacher, eins neunzig groß, ein gut aussehender Mann mit schmalem Gesicht und grauen Haaren, stammt aus Hamm, 35 Kilometer östlich von Dortmund. "Da is dat klar, dat wir schon immer für Dortmund waren." Wie sie schon immer auch im Bergbau waren. "Oppa, Vatter und nu ich."

So lange es noch geht. Denn eigentlich muss er zum Jahresende 2017 schon aufhören. Dann wird er 49. Dem Alter, ab dem der Betreiber der deutschen Bergwerke, die RAG Deutsche Steinkohle, jene Kumpels in den Ruhestand schickt, die mindestens zwanzig Jahre unter Tage waren. Stellmacher ist unter Tage seit 1985. Und will es sein bis zum Schluss. Er hofft, dass man für das letzte Jahr eine Ausnahmeregelung findet.

Wie fast alle auf Prosper-Haniel hat auch er eine lange Reise hinter sich: immer dem nächsten Bergwerk nach. Wer noch nicht alt genug war, um aufzuhören und nicht über Tage wollte, in die freie Wirtschaft, der musste weiterziehen. Für Stellmacher ist es die vierte Zeche. Seine erste, vor einunddreißig Jahren, Bergwerk "Ost" in Hamm, war 500 Meter entfernt von zu Hause. Keine zehn Minuten zu Fuß. Zu Prosper, seiner letzten, sind es mehr als 80 Kilometer Autofahrt über die A2.

Aber die schrecken ihn nicht ab. Dafür sei er zu gerne dort unten. Zwar gebe es da eigentlich nur tausend Meter Berg über dem Kopf, Staub, Dunkelheit und Lärm. Und bei Fehlern könne es noch immer um Leben oder Tod gehen und nicht um einen Anschiss vom Chef wie über Tage.

Deshalb aber sei der Zusammenhalt hier eben auch stärker als irgendwo sonst. Weil man angewiesen ist aufeinander. "Du triffst hier unten kein einziges Arschloch." Es gibt keine Nachnamen, keine Religionen, keine Nationalitäten. Der Begriff "Kumpel" komme ja nicht von ungefähr.

Harte Arbeit bleibe es natürlich trotzdem. Bei aller Kameradschaft. "Wenn man das erste Mal in die Grube fährt, dann weiß man, das will man. Oder es war das letzte Mal." Stellmacher wollte es. Bis heute. Um elf Uhr beginnt seine Schicht. Unterwegs dorthin grüßt Stellmacher jeden, der ihm entgegenkommt mit "Auf". Bekommt ein "Auf" zurück. Bergmänner sparen mit Worten.

Auf dem Weg über lange Gänge aus den Sechzigern geht es in die Umkleiden. In den Berg geht man mit nichts, was man draußen trägt. Die Schuhe, hoch bis weit über den Knöchel, mit Stahlkappen und durchtrittssicheren Sohlen, Schienbeinschoner, Schutzbrille, Handschuhe, Halstuch, Helm. Jacke, Hose, weites Hemd, alles aus festem, grauem Stoff. Feuerfeste Unterwäsche, dicke Socken. Eine Ausrüstung, mit der man schnell ins Schwitzen gerät, tief unten im Berg, wo meist fast dreißig Grad herrschen, weil sich die Erde im Innern aufheizt.

Vor der offenen Umkleide laufen nur mit einem Handtuch in der Hand Kollegen in Richtung Dusche, von der letzten Schicht, mit schwarzen Gesichtern und rußbedeckten Körpern. Ein müdes "Auf". In der Dusche stehen sie schweigend zusammen und schrubben einander den Rücken.

Stellmacher legt den breiten Gürtel um, an den er später die acht Kilo schwere Batterie für die Grubenlampe hängen wird und den ebenso schweren CO2-Filter für den Notfall. Danach geht er hinüber zum Aufzugsschacht. Wartet mit hundert Kollegen. Um elf Uhr ist Hauptschicht. Die letzten längeren Gespräche finden statt. Schnupftabak wird gezogen. Das war schon immer so. Als Rauchersatz und weil er die Nase frei macht vom Staub da unten.

Hinunter

Eine Glocke ertönt. Der Steiger ruft: "Schacht zehn. Vierte Sohle." Früher wäre das der Moment gewesen, an dem es geheißen hätte: Helm ab zum Gebet. Das Gitter wird zugezogen. Die Fahrt beginnt. Unter den Füßen nur tausend Meter schwarzes Nichts. Die Männer werden durchgeschüttelt, der Boden vibriert. Drei Minuten bis zur vierten Sohle. Als er das erste Mal runterfuhr, sagt Stellmacher und lacht, da sei ihm schon die Düse gegangen.

Der Aufzug öffnet sich. Ein Gewirr aus Stollen in alle Richtungen, belegt mit Transportbändern, Kabeln, Lüftungen, Schmalspurgleisen für die Grubenbahn. Einige Kilometer entfernt erst liegt, zwanzig Minuten Fahrt mit der Bahn und eine halbe Stunde zu Fuß, der Streb. Die Frontlinie. Wo man vor Kohle arbeitet, wie sie den Abbau nennen. Wo man dem Flöz, jenem Teil des Berges, in dem dick und fett die Kohle liegt, mit der Schrämmaschine, einem Ungetüm mit einem Kopf aus Meißeln, zu Leibe rückt und 300 Millionen Jahre alte Kohle aus dem Berg kratzt.

Vieles aber steht schon still. Der Abschied wird vorbereitet. Jeden Monat scheiden wieder hundert Kumpels aus. Wird ein Band stillgelegt, gehen weniger nach unten. Nach 2018 werden nur noch die Maschinen zerlegt und nach oben gebracht werden. Manches wird vielleicht im Bergbaumuseum in Bochum landen.

Das Ruhrgebiet, das waren einmal fast 150 Zechen. Bochum, Herne, Essen, Dortmund, Gelsenkirchen, Oberhausen, Kamp-Lintfort, Hamm. Waren einmal fast 600.000 Kumpel Ende der Fünfzigerjähre, die 150 Millionen Tonnen Kohle zu Tage förderten, Treibstoff für das Wirtschaftswunder. Das waren immer wieder auch Tote bei Grubenunglücken, waren unzählige Bergbausiedlungen. Baugleiche Häuschen, eins neben dem andern, geschwärzte Fassaden, vor dem Haus ein Bänkchen, dahinter ein Gärtchen.

Das war mal Oppa Berchmann, Vatter Berchmann, man selbst Berchmann, Steppke Berchmann. Ruß über den Städten, von denen Willy Brandt sagte: Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden. Das waren Hunderte Bergmannsvereine. Es war schmutzig, aber echt. Tief im Westen, wo die Sonne verstaubte. Wo es besser war, als man im Rest der Republik glaubte. Das waren mal Trinkhallen an jeder Ecke.

Das war ab den späten Sechzigern der beginnende Niedergang der deutschen Kohle. Weil sie zu teuer war, zu viele Subventionen verschlang. Die Förderkosten doppelt so hoch wie der Weltmarktpreis. Weil sie durch das Erdöl aus der Mode kam . Weil sie das Klima schädigte und die Deutschen umweltbewusster wurden in den Jahren. Das waren immer laute und wütende Proteste ab den Siebzigern, bis hinein ins erste Jahrzehnt der 2000er. Weil die Kohle und die Kumpel und der Zusammenhalt so sehr eine Einheit waren, dass diese Industrie nicht leise sterben konnte wie viele andere. Das waren 1985 noch 138.000 Kumpel, 1995 73.000 und 2011 noch 20.000.

Neue Zeiten

Das Ruhrgebiet - das ist noch ein letztes Bergwerk, und keine Bergmannsvereine mehr. Nur noch Ehemaligentreffen. Man selbst vielleicht noch Berchmann, Steppke freie Wirtschaft. Keine Kumpel, keine Kohle mehr. Nur noch Fußball als gemeinsame Identifikation. Kaum eine Trinkhalle mehr. Unzählige "Zechenstraßen" und "Glückaufstraßen", noch nicht umbenannt. Viel Erinnerung. Restaurierte Denkmäler, stillstehende Fördertürme, die längste Indoor-Skipiste der Welt auf der Abraumhalde von Prosper-Haniel. Auf ehemaligen Zechengeländen Loftsiedlungen nun Kreativbüros. Dienstleistung statt Schwerindustrie. Saubere Luft. Saubere Arbeitsplätze. Ob besser oder nicht, es ist ein anderes Ruhrgebiet, weil sich die Zeiten geändert haben.

Es ist Abend auf Prosper-Haniel. Stellmacher und seine Kollegen sind wieder oben, sitzen im Schwarzbereich der Kantine. Erst essen, dann duschen. Currywurst, Pommes mit Majo und Ketchup. Man habe ja lange gekämpft. Wo war er nicht überall demonstrieren mit seinen Kollegen. Wie oft waren sie nicht schon in Düsseldorf gewesen bei der Landesregierung. "Aber irgendwann muss man wissen, wann der Kampf vorbei ist." Spätestens wohl seit dem 20. Dezember 2007 wissen sie es. Als die Bundesregierung ein Gesetz erließ, das man ausgerechnet Steinkohlefinanzierungsgesetz nannte. Unter Artikel 1, Absatz 1 lautet es aber: "Die subventionierte Förderung der Steinkohle in Deutschland wird zum Ende des Jahres 2018 beendet." Dem hat dann schließlich auch die bergbaunahe SPD-Landesregierung von Nordrhein-Westfalen zugestimmt. Da habe man gewusst: "Jetzt ist es vorbei." Am 31. 12. 2018 gehen die Lichter aus auf Prosper-Haniel und für den Steinkohlebergbau in Deutschland. Noch ein bisschen Zeit, in der man das Ende verdrängen kann. So gut es geht.

Marco Lauer, geboren 1976, lebt als freier Journalist mit Schwerpunkt Reportage und Porträt in Tübingen.