
Faszinierend, eigenwillig, geistreich, tollkühn, mutig, leidenschaftlich, lebenslustig, unberechenbar, provokant, gefährlich.
Das sind einige der Adjektive, mit denen jene Frau bedacht wurde, die es als Filmfigur - nämlich als Catherine, gespielt von Jeanne Moreau, in François Truffauts Film "Jules und Jim" von 1962 - zu Berühmtheit gebracht hat, als reale historische Person jedoch einem breiteren Publikum weitgehend unbekannt geblieben ist. Die Rede ist von Helen Hessel, geboren 1886 als Helen Katharina Anita Berta Grund in Berlin, verheiratet mit dem deutschen Schriftsteller, Übersetzer und Lektor Franz Hessel (im Film der von Oskar Werner verkörperte Jules) und Geliebte des französischen Schriftstellers und Kunsthändlers Henri-Pierre Roché (im Film der von Henri Serre gespielte Jim).
Ausgebildete Malerin
Während der Film, der auf einem autobiografisch inspirierten Roman von Henri- Pierre Roché aus dem Jar 1953 basiert, die Beziehungen zwischen den drei Akteuren in den Mittelpunkt stellt, war die wirkliche Helen Hessel weit mehr als Ehefrau und Geliebte - auch wenn diese Aspekte ihres Lebens einen wichtigen Stellenwert besaßen und sich über weite Strecken sehr intensiv und oft genug dramatisch gestalteten. War Helen Hessel, wenn überhaupt, bisher hauptsächlich über die Darstellungen seitens ihrer Männer bekannt, so ermöglichen zwei Publikationen mittlerweile genauere Einblicke in ihr Leben und endlich auch in ihre Arbeit (vgl. dazu die Literaturhinweise am Ende des Artikels).
Wer also war Helen Hessel abseits ihres für damalige Verhältnisse so unkonventionellen Liebeslebens? Von der Ausbildung her zunächst einmal Malerin. Sie studierte an der sogenannten Damenakademie des Berliner Künstlerinnenvereins, unter anderem bei Käthe Kollwitz. 1912 kam sie nach Paris, wo sie mutmaßlicherweise Schülerin von Fernand Léger war und die Künstlertreffpunkte am Montparnasse - damals das Zentrum der modernen Malerei - besuchte. Im Café du Dôme - quasi Zweigstelle der deutschen Bohème - lernte sie die beiden Freunde Franz Hessel und Henri-Pierre Roché kennen.
Im Jahr darauf war sie mit Franz Hessel verheiratet und brachte 1914 Sohn Ulrich, 1917 Sohn Stefan zur Welt - letzterer erlangte als Stéphane Hessel mit seiner 2010 publizierten Streitschrift "Empört Euch!" große Aufmerksamkeit. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zog die Familie nach Deutschland zurück.
Im Sommer 1920 kam HenriPierre Roché zu Besuch und es begann jene berühmte Liebesgeschichte, die oft erzählt und von Truffaut verfilmt wurde. Helen Hessel selbst füllte mit der turbulenten Affäre 25 Notizhefte mit Tagebucheinträgen, die mit teilweise sehr expliziten Schilderungen bei ihrer Publikation im Jahr 1991 erhebliches Aufsehen erregten.
Während dieser Zeit malte sie zwar noch, doch das Interesse daran hatte deutlich nachgelassen. Im Tagebuch-Schreiben ging sie hingegen völlig auf. Zeitweise wäre sie am liebsten wochenlang im Bett geblieben, um - voller Inbrunst, wie sie es nannte - nur noch zu schreiben. Und nachdem sie als Malerin weder ein Porträt von Roché noch ein Selbstporträt zu vollenden vermochte, konstatierte sie in einem Brief von 1923: "Ich schreibe viel lieber".
Tatsächlich unternahm sie in den frühen Zwanziger Jahren erste Versuche, eigene Texte zu veröffentlichen. Sie zeichnete mit ihrem Mädchennamen Grund, der Ehemann half mit seinen Kontakten im literarischen Milieu. 1921 erschien in der Zeitschrift "Das Tage-Buch" ihr erster Artikel mit dem Titel "Mentor für neue Reiche". Dabei handelte es sich um einen Appell an die "Kriegsgewinnler", den Lebensstil zu modernisieren. Er enthielt insbesondere Empfehlungen zur Töchtererziehung: Die neue Frau sollte unabhängig, aktiv und kreativ sein, "ein modernes Geschöpf, ein schönes, kluges, klares Ding".
Alltag & Aphorismen
Das in ihrer späteren journalistischen Arbeit vorrangig behandelte Themenspektrum war hier bereits angelegt: Wesentliche Aspekte des täglichen Lebens waren für sie Hygiene, modische Kleidung und Sport; als "neue Ideale" bedeutsam erschienen ihr Reisen, sexuelle Erziehung und kubistische Kunst. Spätere Beiträge für das "Tage-Buch" bestanden vor allem aus Aphorismen, die tief in ihren persönlichen Lebenserfahrungen verankert waren, und die offensichtlich großen Beifall fanden.
Nachdem sie ihre Zeit und Energie einige Jahre lang auf das Familienleben und den letztlich gescheiterten Bau eines Sommerhauses konzentriert hatte, kehrte sie 1924 wieder zum Schreiben zurück. Nun galt es ihr als eine ernsthafte Lebensperspektive und sie wollte damit auch Geld verdienen. Stefan Großmann, der Herausgeber des "Tage-Buchs", ermutigte sie zu einigen längeren Beiträgen für seine Zeitschrift. Was sie lieferte, waren Beschreibungen und Beobachtungen des Pariser Alltags- und Straßenlebens, impressionistische Texte, die sie nach einem zweimonatigen neuerlichen Aufenthalt in der französischen Hauptstadt verfasste und die sie als eine "flâneuse" ausweisen.