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Physiognomie der Kleidermode

Von Susanne Breuss

Reflexionen
Warf erfrischende und geistreiche Blicke auf das Phänomen Mode: Helen Hessel (1886-1982). Nimbus Verlag

Als Filmfigur, gespielt von Jeanne Moreau in "Jules und Jim", berühmter denn als reale Person: Die Malerin, Autorin und Modejournalistin Helen Hessel.


Faszinierend, eigenwillig, geistreich, tollkühn, mutig, leidenschaftlich, lebenslustig, unberechenbar, provokant, gefährlich.

Das sind einige der Adjektive, mit denen jene Frau bedacht wurde, die es als Filmfigur - nämlich als Catherine, gespielt von Jeanne Moreau, in François Truffauts Film "Jules und Jim" von 1962 - zu Berühmtheit gebracht hat, als reale historische Person jedoch einem breiteren Publikum weitgehend unbekannt geblieben ist. Die Rede ist von Helen Hessel, geboren 1886 als Helen Katharina Anita Berta Grund in Berlin, verheiratet mit dem deutschen Schriftsteller, Übersetzer und Lektor Franz Hessel (im Film der von Oskar Werner verkörperte Jules) und Geliebte des französischen Schriftstellers und Kunsthändlers Henri-Pierre Roché (im Film der von Henri Serre gespielte Jim).

Ausgebildete Malerin

Während der Film, der auf einem autobiografisch inspirierten Roman von Henri- Pierre Roché aus dem Jar 1953 basiert, die Beziehungen zwischen den drei Akteuren in den Mittelpunkt stellt, war die wirkliche Helen Hessel weit mehr als Ehefrau und Geliebte - auch wenn diese Aspekte ihres Lebens einen wichtigen Stellenwert besaßen und sich über weite Strecken sehr intensiv und oft genug dramatisch gestalteten. War Helen Hessel, wenn überhaupt, bisher hauptsächlich über die Darstellungen seitens ihrer Männer bekannt, so ermöglichen zwei Publikationen mittlerweile genauere Einblicke in ihr Leben und endlich auch in ihre Arbeit (vgl. dazu die Literaturhinweise am Ende des Artikels).

Wer also war Helen Hessel abseits ihres für damalige Verhältnisse so unkonventionellen Liebeslebens? Von der Ausbildung her zunächst einmal Malerin. Sie studierte an der sogenannten Damenakademie des Berliner Künstlerinnenvereins, unter anderem bei Käthe Kollwitz. 1912 kam sie nach Paris, wo sie mutmaßlicherweise Schülerin von Fernand Léger war und die Künstlertreffpunkte am Montparnasse - damals das Zentrum der modernen Malerei - besuchte. Im Café du Dôme - quasi Zweigstelle der deutschen Bohème - lernte sie die beiden Freunde Franz Hessel und Henri-Pierre Roché kennen.

Im Jahr darauf war sie mit Franz Hessel verheiratet und brachte 1914 Sohn Ulrich, 1917 Sohn Stefan zur Welt - letzterer erlangte als Stéphane Hessel mit seiner 2010 publizierten Streitschrift "Empört Euch!" große Aufmerksamkeit. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zog die Familie nach Deutschland zurück.

Im Sommer 1920 kam HenriPierre Roché zu Besuch und es begann jene berühmte Liebesgeschichte, die oft erzählt und von Truffaut verfilmt wurde. Helen Hessel selbst füllte mit der turbulenten Affäre 25 Notizhefte mit Tagebucheinträgen, die mit teilweise sehr expliziten Schilderungen bei ihrer Publikation im Jahr 1991 erhebliches Aufsehen erregten.

Während dieser Zeit malte sie zwar noch, doch das Interesse daran hatte deutlich nachgelassen. Im Tagebuch-Schreiben ging sie hingegen völlig auf. Zeitweise wäre sie am liebsten wochenlang im Bett geblieben, um - voller Inbrunst, wie sie es nannte - nur noch zu schreiben. Und nachdem sie als Malerin weder ein Porträt von Roché noch ein Selbstporträt zu vollenden vermochte, konstatierte sie in einem Brief von 1923: "Ich schreibe viel lieber".

Tatsächlich unternahm sie in den frühen Zwanziger Jahren erste Versuche, eigene Texte zu veröffentlichen. Sie zeichnete mit ihrem Mädchennamen Grund, der Ehemann half mit seinen Kontakten im literarischen Milieu. 1921 erschien in der Zeitschrift "Das Tage-Buch" ihr erster Artikel mit dem Titel "Mentor für neue Reiche". Dabei handelte es sich um einen Appell an die "Kriegsgewinnler", den Lebensstil zu modernisieren. Er enthielt insbesondere Empfehlungen zur Töchtererziehung: Die neue Frau sollte unabhängig, aktiv und kreativ sein, "ein modernes Geschöpf, ein schönes, kluges, klares Ding".

Alltag & Aphorismen

Das in ihrer späteren journalistischen Arbeit vorrangig behandelte Themenspektrum war hier bereits angelegt: Wesentliche Aspekte des täglichen Lebens waren für sie Hygiene, modische Kleidung und Sport; als "neue Ideale" bedeutsam erschienen ihr Reisen, sexuelle Erziehung und kubistische Kunst. Spätere Beiträge für das "Tage-Buch" bestanden vor allem aus Aphorismen, die tief in ihren persönlichen Lebenserfahrungen verankert waren, und die offensichtlich großen Beifall fanden.

Nachdem sie ihre Zeit und Energie einige Jahre lang auf das Familienleben und den letztlich gescheiterten Bau eines Sommerhauses konzentriert hatte, kehrte sie 1924 wieder zum Schreiben zurück. Nun galt es ihr als eine ernsthafte Lebensperspektive und sie wollte damit auch Geld verdienen. Stefan Großmann, der Herausgeber des "Tage-Buchs", ermutigte sie zu einigen längeren Beiträgen für seine Zeitschrift. Was sie lieferte, waren Beschreibungen und Beobachtungen des Pariser Alltags- und Straßenlebens, impressionistische Texte, die sie nach einem zweimonatigen neuerlichen Aufenthalt in der französischen Hauptstadt verfasste und die sie als eine "flâneuse" ausweisen.

Die positiven Reaktionen auf diese Texte ermunterten sie, den eingeschlagenen Weg weiter zu verfolgen. "Ich arbeite wie ein Teufel, als ob ich Fieber hätte", notierte sie über ihren erwachten Ehrgeiz. Das Engagement zahlte sich aus, denn bald erhielt sie ein Angebot von der "Frankfurter Zeitung": Sie sollte aus Paris über Mode schreiben, "leichte und vergnügliche Sachen" für das Feuilleton und eine Lokalbeilage. "Die Aussicht, durch spaßige Dinge indépendance zu gewinnen, fascinates me. I could go to Paris quasi businesslike", frohlockte sie in dem für sie typischen Sprachenmix. Anders jedoch als diese Formulierung vielleicht vermuten lassen könnte, ging sie die Sache mit sehr viel Professionalität und Zielstrebigkeit an und bereitete sich intensiv auf ihre neue Tätigkeit als Modekorrespondentin vor.

In den 1920er und 1930er Jahren berichtete Helen Hessel regelmäßig über das Modegeschehen in Paris, wohin sie mit ihren Kindern dann auch übersiedelte. Ihre Texte, die sie bald in weiteren Medien publizieren konnte, zeigten - sprachlich wie inhaltlich - eine ganz eigene Handschrift. Schon viele der Artikelüberschriften lassen erahnen, dass hier ein unkonventioneller Blick auf die Mode geworfen wurde. Neben sachlichen und für dieses Genre üblichen Titeln wie "Frühjahrs-Hüte" oder "Stoffe für Herbst und Winter" finden sich auch solche: "Die Milchstraße als Stirnreifen", "Sei dein Herr", "Raum dem Sauerstoff" oder "Kleidung und Lebensfreude".

Die Texte zeugen von sprachlichem Erfindungsreichtum ebenso wie von einer genauen Beobachtungsgabe. So bemerkt Hessel im Vorbeifahren bei einem aus der Kirche tretenden Bräutigam das beim Lachen entblößte "etwas unordentliche Gezähn". Im Warenhaus sieht sie die goldenen Rollen der Lippenstifte "wie Munition neben dem unschuldigen Schaum der glasgeschützten Puderquasten" liegen. Eine Wirtin beschreibt sie als eine "alternde Göttin mit klassisch geschlungenem Haarknoten", die sich über die kurzen Haare und die Schminke der jungen Frauen echauffiert und sich darüber ärgert, dass deren Lippenrot ihre Servietten vollschmiert. Überhaupt die Haare!

Wunderbar etwa die Beschreibung der Frisiersalons, deren Böden aufgrund der neuen Bubikopfmode plötzlich mit Unmengen von abgeschnittenen Frauenhaaren bedeckt waren. Viele Texte handeln von weiblichem Konsumverhalten; so schildert sie etwa das Treiben in den "frauenmenschendurchfluteten" Warenhäusern.

Ihre Ausführungen über die Mode beschränkten sich jedoch nicht auf anschauliche und lebendige Schilderungen, sondern beinhalteten darüber hinaus die Reflexion des kulturphysiognomischen Wesens der Kleidermode. Das Interesse an sozialen und wirtschaftlichen Aspekten von Mode ist zudem durch mehrere Vorträge an der Münchner Meisterschule für Mode belegt.

Helen Hessel verstand Mode und Kleider als kulturelle Zeichen, die das Leben nicht nur verzieren, sondern es ausdrücken: "Das, was wir heute tragen, wird morgen über uns aussagen". Ihr erfrischender und geistreicher Blick auf das Phänomen Mode brachte ihr unter anderem die Wertschätzung von Walter Benjamin und Theodor W. Adorno ein. Benjamin bezog sich in seinem "Passagenwerk" ausführlich auf ihren 1935 verfassten Essay "Vom Wesen der Mode", und Adorno verfolgte ihre Berichte in der "Frankfurter Zeitung" mit großem Interesse.

Im Widerstand tätig

Mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus geriet Helen Hessel zunehmend unter Druck. 1936 ließ sie sich - schon zum zweiten Mal - von ihrem jüdischen Ehemann scheiden, führte die komplizierte Beziehung aber fort. 1937 bewirkte eine gegen sie und ihre Zeitung gerichtete Hetzkampagne im SS-Organ "Das Schwarze Korps" schließlich die Entlassung bei der "Frankfurter Zeitung".

1938 erschien ihr letzter Artikel in der Zeitschrift "Die Dame". Nachdem sie in Berlin Augenzeugin der Novemberpogrome geworden war, beendete sie ihre Laufbahn als Modejournalistin von sich aus. Franz Hessel starb 1941 an den Folgen seiner Internierung in Südfrankreich, Helen und die Söhne überlebten das Dritte Reich und waren zeitweise im Widerstand tätig. Nach einem Suizidversuch lebte Helen Hessel ab 1947 in den USA, wo ihr Sohn Stéphane für die UNO arbeitete.

Sie vermochte dort allerdings nicht Fuß zu fassen und verspürte wenig Lust, zwecks Lebensunterhalt für fremde Leute zu kochen und abzuwaschen. 1950 kehrte sie nach Paris zurück, wo sie bis zu ihrem Tod im Jahr 1982 mit Anne-Marie Uhde, der Schwester des Sammlers und Kunsthändlers Wilhelm Uhde, in einer Wohngemeinschaft lebte.

Literaturhinweise:

Helen Hessel: Ich schreibe aus Paris. Über die Mode, das Leben und die Liebe. Hgg. u. kommentiert von Mila Ganeva, mit einem Nachwort von Manfred Flügge. Nimbus Verlag, Wädenswil 2014.

Marie-Françoise Peteuil: Helen Hessel. Die Frau, die Jules und Jim liebte. Eine Biographie. Schöffling & Co., Frankfurt a. M. 2013.

Susanne Breuss, geboren 1963, ist Kulturwissenschafterin und Kuratorin im Wien Museum.