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Leben zwischen Rinde und Stamm

Von Manfred Rebhandl

Reflexionen

Martin Pilz ist Sachverständiger für Bäume. Begleitet man ihn bei seinen Kontrollgängen, erfährt man viel über Gesundheit und Krankheit des hiesigen Waldbestandes.


Es ist einer dieser schönen Herbsttage, die wir alle "golden" nennen, an denen die Luft, wie jeder weiß, "lau" ist, und das Licht "magisch". Die Wiener Bäume, um die es hier gehen soll, zeigen sich in ihren "buntesten Farben".

Etwas fasziniert uns Menschen seit jeher am Wald. Buchtitel wie "Das geheime Leben der Bäume" führen die Bestsellerlisten an. Keltische Baumhoroskope stellen ungefragt eine Nähe zwischen uns Menschen und den Brenn- und Bauholzlieferanten her. Ich zum Beispiel bin eine Weide, also "anpassungsfähig, bescheiden, demütig, liebevoll und trostspendend". Das hört sich verdammt nach Fisch an, der ich eben auch bin.

Besonders harte Kerle verunglimpfen die eher weichen, der Natur und dem Joint zugetanen Zeitgenossen als Tree-Hugger, also Bäume-Umarmer. Für Dipl. Ing. Martin Pilz, der mich auf seine Tour mitnimmt, ist das aber kein Schimpfwort, es ist schlicht Teil seines Berufes. Er arbeitet für ein privates Unternehmen als "allgemein beeideter, gerichtlich zertifizierter Sachverständiger".

Gehölzwertermittler

Auf seiner Visitenkarte steht noch: Prüfer, Gutachter, Baumstatiker. Und: Gehölzwertermittler. "Was ist das?", frage ich zu Beginn unserer Wanderung, und er klärt mich auf: "Wenn ich mit dem Auto gegen eine 350 Jahre alte Linde fahre, deren Rinde zerstöre und somit den Baum, sodass er gefällt werden muss, obwohl die Linde noch locker 300 Jahre vor sich gehabt hätte, dann kommen schon ein paar zehntausend Euro zusammen." Berechnet wird dieser Wert wie folgt: Was kostet das Umschneiden des Baumes, das Wegbringen, was der Naturalersatz? Und vor allem: Was kostet es, den neuen Baum wieder dorthin zu bringen, wo der alte war?

Feste Schuhe sind für seine Arbeit ein Muss, und reißfeste Outdoor-Bekleidung sowieso. Der Gutachter muss sich jeden Tag durch Gehölz und Gestrüpp zwängen, Uferbefestigungen hinunter laufen und wieder hinauf. Pilz kennt kein schlechtes Wetter, aber auch keine schlechte Kleidung. Nur für die klammen Finger, sagt er, könnte man bei tiefen Außentemperaturen noch etwas erfinden. Und vielleicht etwas gegen die Nackenstarre, das allabendliches Übel des Baumprüfers.

Sein erster und wichtigster Blick gilt nämlich jedes Mal der Baumkrone: Wasser, Nährstoffe und - nicht zu vergessen! - Luft müssen bis in die obersten Spitzen und Verästelungen transportiert werden. Wenn das nicht mehr funktioniert, dann schlägt Pilz Alarm. Er holt eine rote Plakette (ganzer Baum muss weg!) aus seinem Kästchen, oder jedenfalls eine gelbe (Teile des Baumes müssen weg!), auf denen dann "M" wie Maßnahme steht, "16" wie die Jahreszahl, und eine fortlaufende Nummer. Seinen heutigen Arbeitstag beginnt er mit "05".

Pilz prüft Schulen und Sportplätze: dort und auf den Straßen Wiens werden die Bäume ein Mal im Jahr untersucht. Heute muss er "das Gefährdungspotenzial" abgestorbener Äste und toter Bäume entlang eines "ausgewiesenen Gehweges" am Ufer des Lainzer Baches im Wiener 13. Bezirk abschätzen. "Das ist ein typisches Wienerwaldgewässer", sagt er, "das bei Starkregen innerhalb von Minuten zum reißenden Bach werden kann". Heute aber ist es nicht einmal ein Bacherl.

Worin liegt nun also das Gefährdungspotenzial entlang dieses Weges? Wind und Wetter setzen den Bäumen das ganze Jahr über zu. Den Spaziergehern und Hundebesitzern, die sich auf der heutigen Prüfstrecke tummeln, soll aber auch bei Starkregen und orkanartigen Böen keinesfalls passieren, was dem Dichter Ödön von Horváth 1938 in Paris das Leben gekostet hat: Dem fiel dort ein Ast auf den Schädel.

Vielfalt im Biotop

Das geschulte Auge des Prüfers geht nun streng nach ÖNORM L1122 vor: Pilz muss sowohl den Baum begutachten als auch dessen Umgebung mit ihm in Zusammenhang bringen. Hängt das tote Geäst oder gar der sterbende Baum über den Bach, wo wahrscheinlich niemals jemand hinkommen wird, dann greift er gar nicht ein, sondern überlässt alles der Natur. "Generell lässt man Totholz immer häufiger liegen", sagt er. Nicht weil man zu faul wäre, es wegzuräumen, sondern weil es die Vielfalt fördert. "Oder man schneidet bei einem schadhaften Baum nur die Krone ab und lässt den Stamm stehen", der dann als Biotop für Insekten und Fledermäuse dient.

Anders sieht es mit jener Ulme aus, deren Leitungsbahnen, wie der Experte sofort erkennt, vermutlich von einem Schlauchpilz verschlossen sind. Sie neigt sich halbtot über eine kleine Grünfläche, die voll mit Hundehaufen ist. Hier treffen sich also die Wauzis und deren Besitzer (die nicht wegräumen, was ihre Hunde hinterlassen haben!). Pilz muss eingreifen, um den Auftraggeber vor eventuellen Klagen und Schadensersatzansprüchen zu bewahren.

Er stellt sein Köfferchen ab, holt sein Maßband heraus, misst den Umfang des Baumes in einem Meter Höhe, schreibt M wie Maßnahme auf eine rote Plakette, nagelt sie an den Baum, fotografiert ihn, und gibt die GPS-Daten mit Hilfe eines handyähnlichen Gerätes an den Schneidetrupp weiter, der in drei bis sechs Monaten den Job erledigen wird: Umschneiden, weg damit! Zuvor nämlich wird noch ein "Verfahren" eingeleitet. Wenn in Wien ein Baum kaputt geht, muss er laut Gesetz 1:1 ersetzt werden. Wenn ein gesunder Baum gerodet werden soll, muss pro angefangenen 15 cm Baumumfang, gemessen in einem Meter Höhe, eine Ersatzpflanzung vorgenommen oder eine Ersatzzahlung in Höhe von 1090 Euro geleistet werden. Heimische Bürokratie verschafft den Todgeweihten ein bisschen Schonfrist.

Der älteste Baum

Der faule Ast eines Maulbeerbaumes muss als nächstes daran glauben - Gelbe Plakette, fortlaufende Nummer 06. Die holzzersetzenden Stockschwämme daran sind ein Zeichen dafür, dass es dem Baum nicht gut geht. "Maulbeerbäume wurden früher zur Seidenraupenzucht verwendet, in einigen Wiener Hinterhöfen finden sich sehr alte Exemplare mit bis zu drei Meter fünfzig Umfang." Generell, sagte Pilz, würden die Leute das Alter der Bäume aber meistens zu hoch schätzen, zumal in Wien, wo ja während des Krieges und danach die meisten Bäume als Brenn- und Bauholz daran glauben mussten.

Der älteste Baum, den Pilz jemals gesehen hat, steht in Wilhe-ring in Oberösterreich, es war eine 800 Jahre alte Eibe. In Wien kennt er ein paar wenige Eichen, die um die 600 Jahre alt sind.

"Bäume sind Opportunisten", erklärt Pilz, als wir weiter gehen und eine verdammt schiefe Ölweide sehen, die zunächst Richtung Bach hineingewachsen und dann die Kurve hinauf Richtung Himmel genommen hat. "Sie wollen um jeden Preis zum Licht", weiß Pilz, und unterirdisch tun sie alles, um feindliche Wurzeln zu verdrängen. Manche entwickelten ausgeklügelte Methoden, um andere von sich fernzuhalten. So haben Nussbäume oder Eichen sehr viele Gerbstoffe in ihrem zu Boden fallenden Laub, die herbeigeflogene Samen daran hindern zu keimen. Buchen wiederum sorgen durch ihre hohen, dichten Kronen dafür, dass es am Boden ziemlich finster bleibt und somit neben ihnen kaum etwas wächst.

"Der nordamerikanische Eschenahorn", den wir nun sehen, ist hingegen "ein ziemliches Klumpert. So etwas wollen wir hier eigentlich nicht haben." In Ostösterreich dominiert die forstwirtschaftlich durchdachte Idee eines Eiche-Hainbuchen-Mittelwaldes, wobei die langlebigen, hohen Eichen als Wertholz gedeihen, und die kleineren Hainbuchen darunter als Brennholz.

Weil so ein Prüfer irgendwie offiziell aussieht, wird Pilz immer wieder mit Beschwerden konfrontiert, und mit Hunden hat er ohnehin ständig zu tun. Neulich knurrte ein Pitbull gefährlich zwischen seinen Beinen, sodass er dem Besitzer erklären musste, was strafrechtlich der Unterschied zwischen Körperverletzung (Hund beißt Mann) und Sachbeschädigung (Mann beißt Hund) wäre. Neben Hunden begegnet er auf seinen Wanderungen "allerlei anderem Gevickert", erzählt Pilz. "Dachs, Fuchs, Marder." Ein Fuchs, weiß er zu berichten, hat einmal 50 Meter von ihm entfernt oben auf der Hermesstraße zuerst brav nach links und rechts geschaut, bevor er die Straße überquert hat.

Kunst des Schneidens

Wir schütteln einen wilden Zwetschkenbaum und freuen uns auf die Früchte, aber wie so oft im Leben folgt die Enttäuschung auf den Fuß - Würmer! Die sind aber kein Grund, den Baum zu fällen. Mit einem toten Nussbaumast daneben hat Pilz hingegen kein Erbarmen, gelbe Plakette M1610, Maßnahme: Schnitt! Wobei es ihm ein Anliegen ist, dass möglichst richtig geschnitten und der Baum nicht verstümmelt wird.

Immer wieder kommen wir an von ihm so genannten "Kleiderhaken" vorbei - übrig gebliebene Stummel unsachgemäß abgeschnittener Äste. Richtig wäre es gewesen, das tote Holz am Astkragen abzuschneiden, erklärt Pilz, und dies auf möglichst wenig Fläche. Amateure schneiden den Ast leider auch nie von unten an, sodass der herabfallende Ast dann auch noch Rinde abreißt und mitnimmt. "Zwischen Rinde und Stamm spielt sich aber das Leben ab, das Holz darunter ist nur totes Stützmaterial." Eindringende Pilzsporen verursachen dann Probleme im Baum.

Nach drei Stunden erreichen wir den Lainzer Teich. Dort fliegen drei seltene, blau schimmernde Eisvögel; sie zu beobachten ist ein Genuss. Pilz hat an diesem Vormittag acht Bäume mit "M" markiert. Kahlschlag sieht anders aus.

Manfred Rebhandl, geb. 1966 im oberösterreichischen Roßleithen, lebt in Wien. Er schreibt Krimis um den Superschnüffler Rock Rockenschaub, die am Wiener Brunnenmarkt spielen, und Reportagen für Zeitungen.