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Mandoline statt Maschinengewehr

Von Jens Malling

Reflexionen

Jeden Samstag treffen sich in der ostukrainischen Stadt Slowjansk Veteranen, um alte Soldatenlieder zu singen. Nun hat sie der Krieg wieder eingeholt.


Der 91-jährige Ramasan Muchametgalijew ist einer der musikalischen Kriegsveteranen.
© J. Malling

Die Töne eines Akkordeons dröhnen durch den Raum. Das Instrument wird zusammengepresst und erweitert sich zwischen den kundigen Händen von Andrej Plakidkin. Rund um den 39-jährigen Musiklehrer steht ein Chor von Veteranen. Die alternden Sänger stimmen mit Strophen über den Zweiten Weltkrieg ein:

"In der Dunkelheit der Nacht zischen die Kugeln über die Steppe . . . In der Dunkelheit der Nacht, weiß ich, dass du nicht schläfst, meine Liebe . . . Ich glaube an dich, meine Liebe . . . In der Dunkelheit der Nacht schützt dieser Glaube mich gegen die Kugeln . . . Ich weiß, dass wir uns wieder treffen, egal was passiert . . . Du wartest auf mich und schläfst nicht bei der Wiege. . . Deswegen weiß ich, dass mir nichts passieren wird . . ."

Liste der Chormitglieder

Mehrere Chormitglieder kämpften in den Jahren 1941 bis 1945 gegen die Nazis und halfen mit, den Aggressor aus der damaligen Sowjetunion zu vertreiben. Die erste Nummer klingt aus. Mit einer Liste in der Hand versucht Andrej einen Überblick zu bekommen, wer heute noch erscheint. Es stellt sich heraus, dass einer der musikbegeisterten Kriegsveteranen, 93 Jahre alt, leider krank geworden ist und nicht kommen kann. "Tot" steht hinter mehreren Namen in dünnem Bleistiftstrich. Das respektable Alter der ehemaligen Soldaten bedeutet, dass die Zahl der Chormitglieder beständig fällt.

Nach dem ersten Lied bricht eine heftige Diskussion unter den zwölf Anwesenden aus. Welche Lieder sollen sie heute singen? Leidenschaftliche Argumente für das eine und gegen das andere werden angeführt. Endlich wird ein Konsens erzielt. Goldzähne glitzern, Hörgeräte werden eingeschaltet - dann gibt Andrej den Rhythmus vor, und die nächste Ballade beginnt.

Es ist Samstagvormittag in
Slowjansk im Osten der Ukraine - eine Stadt, die im aktuellen Krieg zwischen pro-russischen Separatisten und ukrainischen Regierungstruppen harte Kämpfe erlebt hat. Slowjansks umkämpfte Stellung verhindert jedoch nicht, dass die Chormitglieder sich einmal pro Woche in einem Klassenzimmer der Technischen Hochschule der Stadt treffen. (Die Studenten benutzen die Räumlichkeiten am Wochenende nicht.) Trotz ihres fortgeschrittenen Alters und ihrer schmächtigen Körper singen die Veteranen mit großer Kraft.

Ihre Lieder durchdringen das gesamte Gebäude und die Musikstücke sind bis weit auf die Straße hinaus zu hören. Bei den erfreulicheren Songs wird zwischen den Schultischen getanzt. Die Schritte werden mit rhythmischem Klatschen und von begeistertem Jubel begleitet.

Der 91-jährige Ramasan Muchametgalijew trägt zur Ensemble-Leistung mit Stimme und Mandoline bei. Sieben Jahrzehnte, nachdem Muchametgalijew mithalf, das Dritte Reich ins Grab zu legen, brach der neue Krieg in der Ostukraine aus. Von seiner Wohnung aus hört der alternde Veteran nun wieder Granaten fallen und Salven krachen. Für ihn lässt sich der Große Vaterländische Krieg, wie der Zweite Weltkrieg in den ehemaligen Sowjetrepubliken genannt wird, aber nur schwer mit den aktuellen Kämpfen um Slowjansk vergleichen:

"Was jetzt in der Ukraine passiert, halte ich nicht für Krieg. Es kommt mir vor, als ob die beiden Seiten bloß spielen, so wie Kinder. Sie schießen einfach, um zu schießen. Damals, als wir eine Offensive einleiteten, kam es nicht selten vor, dass tausend Männer niedergemäht wurden. Nun erzählen sie darüber im Radio, wenn ein oder zwei gefallen sind."

Keine Musik damals

Die schlimmsten Kämpfe wüteten im Frühjahr 2014 in Slowjansk. "Die Bomben konnte ich nicht zählen, sie trafen zufällig. Diejenigen, die sie abgeworfen haben, konnten anscheinend nicht gut zielen", sagt der ehemalige Rotarmist und spielt ein paar Akkorde auf der Mandoline. Und er erinnert sich an die frühen 1940er Jahre, als er eine Waffe in der Hand hatte und gegen die Nazis kämpfte.

"Ich bin Musiker. Aber während der Jahre an der Front haben wir nicht gespielt. Es war nicht die Zeit dafür. Die richtige Atmosphäre fehlte. Das Geräusch von Maschinengewehren war unsere Musik", sagt Muchametgalijew, der mit 17 Jahren einberufen worden war. Im Jahr 1943 half er mit, Kiew zurückzuerobern. "Wir wollten den Fluss Dnjepr überqueren, um zu versuchen, die Stadt zurückzugewinnen - acht Männer in einem Schlauchboot. Kurz vor dem Ufer explodierte eine Mine und das Boot sank. Es war Ende Oktober und das Wasser sehr kalt. Vier Kameraden ertranken. Ob es damit zusammenhing, dass sie nicht schwimmen konnten, oder ob sie verletzt waren, habe ich nie herausgefunden. Wir vier anderen gelangten zum Ufer. Wir wrangen unsere Kleider aus und trockneten sie. Am rechten Ufer wurde ich dann getroffen. Eine Kugel ging hier durch", sagt der Kriegsveteran und zeigt an eine Stelle über seiner Hüfte.

Im Zweiten Weltkrieg hat die Rote Armee insgesamt 8,7 Millionen Soldaten verloren. Ganze Jahrgänge von jungen Männern der Sowjetunion (Muchametga-
lijew ist Jahrgang 1925) - unmittelbar davor geboren - wurden fast vollständig vernichtet. Zum Glück verlangt der gegenwärtige Krieg im Donbass nicht Opfer von gleichem Ausmaß, obwohl das für diejenigen, die ihre Geliebten, ihre Gehfähigkeit oder ihre Häuser verloren haben, wenig Trost bietet. Rund 10.000 Menschen sind ums Leben gekommen und etwa zwei Millionen auf der Flucht, seitdem die Kämpfe vor mehr als zwei Jahren begannen.

Mit den Chorstimmen im Hintergrund erzählt Ramasan Muchametgalijew weiter: "Ich wurde in ein Krankenhaus gebracht. Nachdem ich wieder gesund war, haben wir in Weißrussland gekämpft. In Ostpreußen - außerhalb von Königsberg - schlug eine Granate neben mir ein. Danach konnte ich mehrere Tage nichts hören. Der Luftdruck der Explo- sion zerstörte mein Ohr, daher muss ich nun ein Hörgerät benutzen" - und er zeigt auf den Apparat hinter seinem Ohr.

Kriegsende in Berlin

Später zog der heutige Mandolinenspieler mit seiner Truppeneinheit durch Polen und Pommern. "Ich kämpfte sowohl in Danzig als auch in Warschau. Ich habe Abzeichen von allen Städten, zu deren Einnahme ich beigetragen habe, aber ich erinnere mich nicht mehr so gut an alle ihre Namen. Wir machten uns auf den Weg weiter nach Westen, nach Deutschland. Die letzte Schlacht, in der ich kämpfte, war in Prenzlau. Als der Krieg Anfang Mai 1945 endete, befand ich mich 72 Kilometer außerhalb von Berlin, Schon ein paar Tage danach sind wir in die Stadt gefahren, um sie uns anzusehen."

An einen von seinen damaligen "Feinden" erinnert sich Ramasan Muchametgalijew noch besonders genau: "Wir hatten einen jungen Deutschen gefangengenommen. Er war ein ganz normaler Mensch, so wie ich. Die meisten deutschen Soldaten wollten keinen Krieg, aber Hitler hatte es so befohlen. Sie wurden gezwungen, in den Krieg zu ziehen . . ."

Chormitglied Wladislaw Wolkov unterbricht, um seine Fähigkeiten als Solist zu demonstrieren: "Steh auf, du großes Land", singt er aus voller Brust. Der sowjetische Marsch, der durch den Raum rollt, war sehr beliebt und flößte der Bevölkerung zu Beginn des Großen Vaterländischen Krieges Mut ein, erklärt er. "Steh auf, du großes Land. Steh auf und kämpfe bis zum Tod. Gegen die dunklen faschistischen Kräfte. Gegen die verfluchte Horde. . ."

Wladislaw Wolkov als halb- wüchsiger Matrose.
© privat

In den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs arbeitete der nunmehr 85-jährige Wolkow als Schiffsjunge auf einem sowjetischen Kriegsschiff in der Ostsee. Er holt ein paar Schwarz-Weiß-Fotos aus seiner Tasche: Auf einem sieht man ihn halbwüchsig in einer Seemannsuniform. Ein kommunistischer Stern mit Hammer und Sichel ziert die Matrosenkappe (siehe Abbildung).

"Der Kriegsminister gab eine Verordnung heraus, damit auch ganz junge Burschen wie ich auf den Schiffen dienen konnten. Es bestand ein großer Mangel an Männern in den letzten Kriegsjahren", erzählt er.

Ehemaliger Schiffsjunge

Bevor Wolkow aufs Schiff ging, überlebte er im Gegensatz zu seiner Mutter die Blockade von Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg. "Ich lebte mit meiner Mutter und Schwester in Leningrad. Die Deutschen hatten die Stadt eingekesselt. Das Brot war rationiert, wir bekamen 50 Gramm pro Tag. Es gab kein Brennholz, sodass die Einwohner mit ihren Möbeln heizten. Es gab Salz und Wasser, also tranken wir gekochtes Salzwasser. Die Leichen wurden auf Schlitten weggefahren und einfach im Schnee begraben. Meine Mutter starb - an Hunger und Kälte. Was hätte ich dagegen machen können? Ich war damals elf . . ."

Bevor Wolkow sich in Slow- jansk ansiedelte, arbeitete der ehemalige Schiffsjunge 30 Jahre in den Minen von Jenakijewe - einer Stadt, die sich nun unter der Kontrolle der Separatisten befindet. Dort leben seine Tochter, sein Enkel und sein Urenkel. Nach 70 Jahren Frieden in der Ukraine holte der Krieg Wolkow wieder ein. Die Schlacht um
Slowjansk im Frühjahr 2014 erlebte er hautnah: "Häuser brannten ab. Bombensplitter flogen in unserem Hof herum. In unserer Wohnung gab es kein Wasser, keinen Strom und kein Gas. Ich saß einfach drinnen und wartete, bis die Soldaten weiterzogen und mit dem Töten fertig waren", erzählt er, während die Melodie hinter ihm heute zum letzten Mal ausklingt.

Die Gesangs- und Geschichtsstunde ist zu Ende. Ramasan Muchametgalijew steckt die Mandoline in ihr Etui und zieht den Reißverschluss zu. Mehrere Chormitglieder verabreden sich für Abend zu einem Konzerttermin. Dann gehen sie summend und plaudernd Richtung Bushaltestelle.