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Heiliger Geist und derbe Worte

Von Rolf-Bernhard Essig

Reflexionen
Eines der weltweit größten Reformationsdenkmäler steht in der Reichstagsstadt Worms. Es ist eine gebaute Anspielung auf Luthers Liedzeile "Ein feste Burg ist unser Gott . . ."
© JD (de.wikipedia.org)

Der Reformator Luther war ein Meister der deutschen Sprache. Viele Redewendungen sind durch seine Bibelübersetzung populär geworden, manche Zitate wurden ihm jedoch auch fälschlich zugeschrieben.


In Punkto Volkstümlichkeit kann ihm kaum eine deutschsprachige Berühmtheit das Wasser reichen. Bei mehreren hundert Veranstaltungen und Radiosendungen mit Hörerbeteiligung zum Thema "Sprichwörter und Redensarten" erlebte ich kaum eine, bei der nicht Luther-Sprüche aufs Tapet gebracht wurden - fast immer mit einem verschmitzten Lächeln. Die sieben Dauerbrenner waren:

"Warum rülpset und furzet Ihr nicht? Hat es Euch nicht geschmecket?"

"Aus einem verzagten Arsch fährt niemals ein fröhlicher Furz."

"Iss, was gar ist, trink, was klar ist, sprich, was wahr ist."

"Wenn morgen die Welt unterginge, würde ich ein Apfelbäumchen pflanzen."

"Wer nicht liebt Wein, Weib und Gesang, der bleibt ein Narr sein Leben lang."

"Hier steh ich, ich kann nicht anders."

"Tritt fest auf, tu’s Maul auf, hör bald auf."

Keines dieser vielverwendeten Sprichwörter stammt tatsächlich von Luther. Sie wurden ihm nur zugeschrieben, teils von Zeitgenossen, teils im 18. oder sogar erst im 20. Jahrhundert. Das gilt insbesondere für das berühmte Apfelbäumchen-Zitat. Es findet sich zum ersten Mal vierhundert Jahre nach Luther: 1944!

Gut erfunden

Von den sieben zitierten "Luther"-Weisheiten kann immerhin die letzte direkt aus seinen Ratschlägen für einen guten Prediger destilliert werden, aber auch die anderen spiegeln seine Standhaftigkeit, seine Genuss- und Leibfreude wider, die ja in vielen seiner Äußerungen belegt sind. Der derbe Ton manch erfundenen Spruches passt ohne Zweifel zu Luthers üblicher Sprachpraxis. So schrieb er 1527: "Gnade und Frieden! Nichts neues gibt es, was ich an Dich schreiben könnte, mein Wenzeslaus, und was sollten wir, die wir in diesem Arsch der Welt verborgene Würmer sind, an Euch schreiben, die ihr auf Gipfelpunkt der Welt sitzt, und an Ort und Stelle die Schönheit der Welt seht und hört?" Ehrlicherweise muss man erwähnen, dass er diese Zeilen auf Latein verfasste, und da klingt "nos vermes in hoc culo mundi" nicht ganz so derb.

Die beliebten Schein-Luthersprichwörter beweisen überzeugend die Sonderstellung des Reformators als Teil der Volkskultur weit über protestantische Kreise hinaus. Ungezählte Selbst- und Fremdbeschreibungen ließen Martin Luther zu einer geradezu mythischen Figur werden, die dennoch erdverbunden und menschlich blieb. Seine an der Tafel oder im Studierzimmer geäußerten Worte wurden schon zu Lebzeiten eifrig notiert und nach seinem Tod als "Tischreden" veröffentlicht. Sie vor allem festigten das populäre Bild eines glaubensgewissen Hausvaters, urwüchsig, genussfreudig, kampflustig.

Goethe, der sich 1817 über den damaligen Thesenanschlagsjubiläumsrummel ärgerte, betonte: "Denn, unter uns gesagt, ist an der ganzen Sache nichts interessant als Luthers Charakter und es ist auch das Einzige, was der Menge eigentlich imponiert."

Als Held der deutschen Geschichte und als jemand, dem nichts Menschliches fremd war, lebte Luther in einer Art Heiligengeschichte weiter, wurde Stoff für Literatur, bildende Kunst, Musik, Film und Fernsehen. Dass er trotz unbestrittener Gelehrtheit und Frömmigkeit volksnah war, macht ihn zum Sprichwortereignis noch für die heutige Zeit.

Mehr als ein Scherflein

Luther war zwar kein fleißiger Sprichwortproduzent, bedeutsam ist er aber als außerordentlich wirkungsvoller Sprichwortkatalysator, der Sprichwörtliches durch den Gebrauch - besonders in seiner Bibelübersetzung - hervorhob, veränderte, normierte und dadurch bekannt hielt.

Damit trug er weit mehr als ein Scherflein zum deutschen Sprichwortschatz bei, beispielsweise auch dieses selbst. Sowohl Markus- wie Lukas-Evangelium berichten von einer Witwe, die trotz Armut in das Almosenkästchen zwei Lepton einlegt und von Jesus dafür gelobt wird, weil sie es sich vom Munde abspart und weil sie sich damit nicht brüstet. "Lepton", die kleine Münze der griechisch-römischen Antike, übersetzte Luther mit "Scherflein". Der Scherf, Schaerf oder Schärft war eine ebenfalls geringwertige, gängige sächsisch-niedersächsische Münze, die Luther durch das "-lein" noch verkleinerte.

Ähnlich sieht es aus mit dem Denkzettel, den wir jemandem verpassen. Das Wort "gedenkcedel" gab es zwar schon vor Luther für gerichtliche Mitteilungen in Schriftform, doch seine Entscheidung, die jüdischen Gebetsriemen in der Bibel mit "Denkzettel" zu übersetzen, verhalf dem Ausdruck zu weiter Verbreitung und anderer Bedeutung im Sinne von "Erinnerung an etwas". Daraus entwickelte sich noch im 16. Jahrhundert die Bezeichnung für eine Art To-Do-Liste und dann unter dem Einfluss von Strafzetteln für Schüler in Jesuitenanstalten, auf denen auch zu erwartende Züchtigungen vermerkt waren, unser Ausdruck für eine handgreifliche Erinnerung.

Beim Sündenbock, der gesucht oder gefunden wird, sorgte ebenfalls Luthers Bibelübersetzung für die Redensart, gab er doch dem Tier, das stellvertretend die Sünden des Volkes Israel auf sich zu nehmen hatte und in die Wüste gejagt wurde, diesen Namen. Ähnlich ist es bei "das ist nur ein Lippenbekenntnis", das er wohl nach Jesaja 29,13 bildete, bei "eine Richtschnur sein" (Jesaja 28,17) oder bei der Wendung "im Dunkeln tappen" (5. Mose 28,29).

Auch das oft zu hörende "man soll sein Licht nicht unter den Scheffel stellen" geht auf den Reformator zurück, der es nicht nur in seiner Bibelübersetzung, sondern auch in weiteren Schriften gern verwendete, um falsche Bescheidenheit zu bezeichnen. Da Scheffel heute als Messgefäße nicht mehr üblich sind, sprechen und schreiben manche inzwischen, man solle sein Licht nicht "unter den Schemel stellen".

Einer von Luthers prominentesten Sprüchen, programmatisch erwähnt als Beispiel für richtiges Übersetzen im selbst sprichwortreichen "Sendbrief vom Dolmetschen", ist: "Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über". Die Übernahme des offenbar gebräuchlichen deutschen Sprichworts hatte bereits sein katholischer Gegner Hieronymus Emser als Übersetzung im Sinn - Luther rühmt sich dessen gleichwohl unbescheiden selbst. Der international führende Sprichwortforscher Wolfgang Mieder schreibt: "Luther erweist sich also auch an diesem Beispiel als Normgeber der Schriftsprache und wegen des gewaltigen Einflusses seiner Bibelübersetzung auch als Normgeber der Umgangssprache und ihrer Sprichwörter."

Originalton Luther

Ähnlich stark wie seine Bibelübersetzung wirkten sich für den Bereich des Sprichwörtlichen im Deutschen Luthers Werke aus, allein schon durch ihren Gebrauch im protestantischen Alltag. Geflügelte Worte, also auch die Luthers, dienten überhaupt in Bürgertum und Adel des 19. Jahrhunderts als eine Art Erkennungszeichen und Bildungsbeweis; natürlich ebenso als eine leichte Möglichkeit, Bildung durch ein paar klassische Spruchweisheiten nur vorzutäuschen. Die große Beliebtheit der Luther-Zitate zeigt sich dabei verantwortlich für die häufige Zuschreibung von Sätzen an ihn, wie die eingangs erwähnten.

Sechs tatsächlich auf ihn zurückgehende "Geflügelte Worte" entstammen dafür allein seinem Kirchenlied "Ein feste Burg ist unser Gott", geradezu die Hymne der Reformation. Da ist der Titel selbst - weiters "ein gute Wehr und Waffen", "Das Wort sie sollen lassen stahn", "Und wenn die Welt voll Teufel wär", "der Fürst dieser Welt", "Lass fahren dahin".

Einflussreich war selbstverständlich Luthers "Katechismus", vor allem der kleine, den jeder Konfirmand zu studieren, ja über Jahrhunderte hinweg auswendig zu lernen hatte. In dessen 4. und 5. Hauptstück kommt immer wieder die zum Geflügelten Wort gewordene Frage vor "Wo steht das geschrieben?" Hier findet sich ebenfalls das inzwischen als Hüllformel fürs Sterben oder als Redensart fürs Pleite-Sein verwendete "Dann ist Matthäi am Letzten". Eigentlich handelt es sich hier nur um eine Stellenangabe für die Bibel: "Da unser Herr Jesus Christus spricht Matthäi am letzten. Geht hin in alle Welt . . ." Das am Ende des Matthäus-Evangeliums erwähnte Weltende ließ sich leicht auf das Ende von Geld, Leben oder Geduld übertragen.

Was ist ein "Ölgötze"?

Volkstümlich wurde Luthers Forderung aus dem "Sendbrief vom Dolmetschen", die eigentlich nur an den Übersetzer gerichtet war, man müsse dem "Volk aufs Maul schauen". Wie gerufen kam Luther das im 16. Jahrhundert neugebildete Wort "Ölgötze", das zuerst bemalte heidnische Standbilder bezeichnete. Er benutzte es als Schimpfwort für die mit heiligem Öl gesalbten Priester der katholischen Kirche bis hin zum Papst, die er so gleichzeitig mit heidnischen Standbildern verglich. Noch näher lag die Übertragung von "Ölgötze" auf die Heiligendarstellungen der Katholiken, ob als Gemälde oder bemalte Skulptur. Im Zusammenhang damit prägte oder popularisierte Luther die spöttische Redewendung "dastehen wie ein Ölgötze" für Dumm- und Klotzköpfe.

Zur Verbreitung und Sinnveränderung trug Luther mit seiner Verwendung der Redewendung "einen Köhlerglauben haben" bei. Heute versteht man darunter eine Art blinder, blöder Gefolgschaft, doch früher bedeutete sie "treu, einfach und richtig glauben". Eine in vielen Varianten erzählte Geschichte steckt dahinter, die im Ursprung von einem Köhler und seinem simplen, doch rechtschaffenen Glauben berichtet, der selbst den Teufel überwindet.

Luther erzählte die Geschichte anders. Bei ihm argumentiert der Köhler im Zirkelschluss: ". . . ein Doktor hab einen Köhler zu Prage auf der Brücken aus Mitleiden als über einen armen Laien gefragt ‚Lieber Mann, was gleubstu?‘ Der Köhler antwortet ‚Das die Kirche gleubt‘. Der Doktor ‚Was gleubt denn die Kirche?‘ Der Köhler ‚Das ich gleube‘. Deshalb bezeichnete die Redewendung vom Köhlerglauben irgendwann nur noch unreflektierte Autoritätshörigkeit.

Rolf-BernhardEssig, 1963 in Hamburg geboren, lebt als Autor, Literaturkritiker und Universitätsdozent in Bamberg. Seit 2008 tourt er - besonders als Experte für Sprichwörter - mit Edutainmentprogrammen zur Sprache durch Deutschland, Österreich und die Schweiz.