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Dampfende Nostalgie

Von Peter F. N. Hörz

Reflexionen

Eisenbahnmuseen und die Wiederbelebung historischer Lokomotiven und Zugstrecken sind in Deutschland und Österreich Touristenattraktionen - und damit zu einem Wirtschaftsfaktor geworden.


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Gehortete Requisiten am "Lokomotivfriedhof" in Falkenberg an der Elster (D).
© Hörz

Besteigt man in Berlin den Re-gionalexpress in Richtung Süden, so erreicht man nach eineinhalb Stunden Fahrt Falkenberg an der Elster. Nur knapp 6500 Einwohner zählt dieser Ort, bekannt ist er gleichwohl - zumindest bei Eisenbahnenthusiasten. Nicht nur, weil Falkenberg seit 1872 ein Eisenbahnknotenpunkt mit ausgedehnten Betriebsanlagen ist, sondern vor allem, weil sich hier der "Wald der toten Loks" oder - weniger romantisch - ein "Lokfriedhof" befindet.<p>Ganz treffend ist der Begriff "Friedhof" für das, was man am Rand des Städtchens vorfindet, freilich nicht. Denn die "Loksammlung Falz" - 50 Dampflokomotiven, Dieselloks, eine E-Lok, etliche Waggons und ein Kran mit 100 Tonnen Tragkraft - wurde in den 1990er Jahren aufgebaut, um die Maschinen vor dem Schneidbrenner zu retten und der "Nachwelt" zu erhalten. Untergebracht sind die Fahrzeuge in einem komplett erhaltenen Bahnbetriebswerk mit Lokschuppen, Bekohlungsanlage, Wasserturm und Wasserkränen. Ein Teil der Fahrzeuge findet im Schuppen Platz. Die meisten Maschinen jedoch stehen auf drei langen Abstellgleisen, wobei einige Dampfrösser sogar wieder betriebsfähig gemacht werden sollen. Einstweilen aber sind weite Teile der Anlage in einen Dornröschenschlaf versunken, wachsen junge Bäume in Führerstände hinein, nagt der Rost an Maschinen, die oft schon Jahre, bevor der "locophile" Privatmann Bernd Falz sie kaufte, im Freien standen.

Am Bahnhof Eisfelder Talmühle im Harz gibt es regelmäßige Parallelfahrten zweier Dampfzüge.

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Freilichtmuseum

<p>An den wenigen Tagen, an welchen die Sammlung geöffnet ist, wenn im Lokschuppen Würstel, Kaffee und Eisenbahnbegeisterung angeboten werden, verwandelt sich das Gelände in eine Art Abenteuerspielplatz für Eisenbahnnostalgiker, die sich im Angesicht der Dampfrösser "alternative Fakten" herbeiträumen: Etwa indem sie sich in vergangene Epochen der Verkehrsgeschichte hineinfantasieren, oder sich vorstellen, wie es wäre, wenn der "Friedhof" wieder zum Betriebswerk würde und die Loks nicht einfach nur abgestellt wären, sondern gut abgeschmiert auf ihre nächste Bekohlung warteten. Manche träumen von einem Freilichtmuseum, das täglich mehrere Loks auf die Strecke schickt. Dampflokomotiven in Aktion seien schließlich Touristenmagnete.<p>Das zeigt sich rund 200 Kilometer nordwestlich von Falkenberg, in den Bergen des Harzes, wo das mit 140 Kilometern längste schmalspurige Eisenbahnnetz Deutschlands verläuft. Schon zu DDR-Zeiten stand das gesamte Netz unter Denkmalschutz; heute schützt das sachsen-anhaltinische Denkmalgesetz die Harzer Schmalspurbahnen. Und nicht nur das: Weil es ein öffentliches Interesse am Weiterbestand der Bahnen und ihrem täglichen Betrieb gibt, und der Tourismus der Region vor allem von der "Bimmelbahn" abhängt, findet hier in einer Art "living museum", ein mit öffentlichen Mitteln geförderter Bahnbetrieb statt, der den Anschein erweckt, als wäre die Zeit vor 40 Jahren stehen geblieben.<p>Eine Dreiviertelmillion Menschen jährlich nutzt die hauptsächlich dampfbetriebene Bahn, wenn sie - als Monopol-Carrier - auf den 1140 Meter hohen Brocken fährt. Eine gute Viertelmillion Reisende entfällt auf das restliche Netz, darunter Eisenbahntouristen aus ganz Europa, den USA, Australien und Japan.<p>Das Bahnpersonal agiert dabei wie die Akteure einer historischen Inszenierung, in der Ungleichzeitiges aus der Verkehrsgeschichte für ein zahlendes Publikum zur Aufführung gelangt. Und nicht anders als bei sonstigen Historienspielen wird auch hier emotionales Engagement für Geschichtliches geweckt, wird fotografiert und Fachwissen ausgetauscht - und es wird darüber fantasiert, wie es wäre, wenn jener Teil der Bahn wieder aufgebaut würde, der mit dem Bau der innerdeutschen Grenzanlagen der Stilllegung anheimgefallen ist.<p>"Mehr Bahn!" und vor allem "mehr Dampf!" sollen es sein. Zumindest aus der Sicht derer, denen die neue Eisenbahnwelt der Hochgeschwindigkeitszüge und Shuttles zu nüchtern und zu digitalisiert ist und die eine störanfällige Elektronik gerne gegen "bewährte" Technologien eintauschen würden.<p>Dabei dampft es in Deutschland ohnehin an allen Ecken und Enden: Allein die "Dampfbahnroute Sachsen" promotet 68 Schauplätze für das Historienspiel mit Eisen- oder Straßenbahnen, darunter vier Schmalspurstrecken mit täglichem Dampfbetrieb und zwei vor Jahrzehnten abgebaute und erst in jüngster Vergangenheit mit hohem historischen Authentizitätsanspruch wieder aufgebaute Museumsstrecken mit gelegentlichem Verkehr.<p>Doch damit nicht genug: Weil der Lokbestand der Schmalspurbahn von Bad Doberan nach Kühlungsborn an der Ostsee Anfang der 2000er Jahre infolge steigender Fahrgastzahlen und verdichteten Fahrplans an seine Kapazitätsgrenze gelangte und von der legendären sächsischen "I K" kein Exemplar die Wirren der Eisenbahngeschichte des 20. Jahrhunderts überlebte, gaben die Mecklenburgische Bäderbahn und die Stiftung Sächsische Schmalspurbahnen vor einigen Jahren den Neubau zweier Dampfloks nach alten Baumustern (1932 und 1881) in Auftrag!<p>"Railway Heritage is big, important business", heißt es in einer Broschüre der in London ansässigen International Railway Heritage Consultancy Ltd., die Eisenbahnmuseen und Touristenbahnen in Großbritannien und Übersee berät und auf die volkswirtschaftliche Bedeutung von Nostalgiebahnen verweist, die durch die Ergebnisse einer Studie der Hochschule Harz unterstrichen wird: Touristen, die der Schmalspurbahn wegen in den Harz kämen, so heißt es hier, hielten sich nicht nur länger an ihrem Reiseziel auf, sondern gäben dort auch mehr Geld aus als andere Reisende.<p>Dies hat man auch in Österreich längst erkannt, zählen doch die Schmalspurbahnen im Waldviertel, die Mariazeller Bahn, die Schafberg-, Achensee- und Zillertalbahn zu den schienengebunden Touristenattraktionen. Aber auch hier sollen es noch mehr werden: Seit einiger Zeit bietet der niederösterreichische Verein "Neue Landesbahn" in den Sommermonaten Nostalgiezüge von Wien nach den Leiser Bergen an und setzt sich für die Reaktivierung der Strecke Korneuburg-Ernstbrunn und deren täglichen Betrieb ein.<p>Und ginge es nach dem Willen von lokalen Enthusiasten, so sollte mit dem Wiederaufbau der bereits vor Jahrzehnten stillgelegten Ischlerbahn lieber heute als morgen begonnen werden - sei es als reine Touristenbahn, sei es in Kombination mit einer leistungsfähigen Regio-S-Bahn.<p>

Historienspiele

<p>Dass alte Bahnen als etwas Besonderes (und besonders Schönes) empfunden werden, zeigt auch deren bewusste Integration in urbane Räume, die der erlebnistouristischen Aufwertung bedürfen. Wie etwa die Einrichtung einer historischen Straßenbahn im Istanbuler Stadtteil Taksim oder die mit Tramway-Oldtimern betriebene "F-Line" in die Market Street von San Francisco. Nicht viel anders verhält es sich im ländlichen Raum, wo oft große Hoffnungen in historische Bahnen gesetzt werden, weil diese die Massen - im doppelten Wortsinn - mobilisieren.<p>Dabei leben wir - ungeachtet der in Österreich beachtlichen Wachstumsraten im Bahnpersonenverkehr - in automobilen Gesellschaften, in welchen drei Viertel aller Personenkilometer auf der Straße zurückgelegt werden. Aber gerade wenn die Eisenbahnreise im Alltag seltener oder nur als notwendiger Transit empfunden wird, erhält die Nostalgiefahrt einen höheren Wert - als Erlebnisausflug, Bildmotiv und Historienspiel. Vor diesem Hintergrund erscheint es also keineswegs als absurd, auf einer verlassenen Bahnanlage im südlichen Brandenburg Dampflokomotiven zu horten. Die eine oder andere Maschine könnte noch als Requisit für Historienspiele dienen.

Peter F.N. Hörz ist Kulturanthropologe und Herausgeber des Buches "Eisenbahn Spielen! Populäre Aneignungen und Inszenierungen des Schienenverkehrs in großen und kleinen Maßstäben" (Universitätsverlag Göttingen, 2016).