Ist Körpergröße bei Männern wichtiger als bei Frauen? Betz dreht seine Handflächen um: Eindeutig ja. Hat ein kleiner Mann ein großes Auto, heißt es: der hat es wohl nötig. Ist ein kleiner Mann besonders durchsetzungsstark, heißt es: der hat den Napoleon-Komplex, ein übersteigertes Geltungsbedürfnis. Sarkozy als berühmtes Beispiel, Berlusconi oder Gerhard Schröder. Fragt man eine Frau nach den Kriterien für ihren Traummann, wird man wohl niemals hören: auf jeden Fall muss er klein sein.

Partneragenturen geben an, Männer unter 1,80 Meter seien schwer vermittelbar, unter 1,75 Meter noch wesentlich schwerer. Eine andere wissenschaftliche Statistik ergab, dass größere Männer überdurchschnittlich häufig in leitenden Funktionen zu finden sind. Weil man sie unterbewusst öfter als kleine Männer für selbstbewusst, führungs- und durchsetzungsstark hält. Weil man zu ihnen aufschaut. Buchstäblich. Hat jemand gleiche Qualitäten, die gleiche Ausbildung, fällt die Entscheidung fast immer auf den Bewerber mit 1,86 Meter statt den mit 1,68 Meter. Zwischen den Jahren 1900 bis zur Präsidentschaft Barack Obamas wurden 85 Prozent aller Wahlkämpfe vom größeren Kandidaten gewonnen.

Wann ist man klein als Mann? Ein guter Anhaltspunkt, sagt Dr. Betz, ist immer die Durchschnittsgröße eines Landes: in Österreich aktuell 1,79 Meter, in Deutschland 1,80 Meter, in den USA 1,81 Meter, in Norwegen 1,82 Meter und in den Niederlanden, dem größten Volk der Welt, 1,84 Meter. In Mitteleuropa und Nordamerika ist man also heutzutage als Mann schon mit 1,70 Meter klein. Je nach Land auch noch mit 1,75 Meter. Dort auch, bei 1,75 Meter, verlaufe eine Art imaginäre Grenze, die man überschreiten sollte, um nicht mehr als klein zu gelten.

Marcel D. wäre am Ende bei 1,77 Meter. Auf der Heimfahrt fühlt er die künftige Größe vor. Die Entscheidung ist gefallen. Kein Gedanke an Schmerz. Nur Vorfreude auf die Vollendung seines Traums. Für 35.000 Euro pro Bein, den lange zusammengesparten Preis.

Der große Tag

Es ist der Tag der OP. Um elf Uhr geht es los. Marcel D. wird in den OP-Saal geschoben. Nach wenigen Minuten dämmert er in die Vollnarkose. Am Vortag reiste er an, zusammen mit seiner Frau und dem Sohn, drei Jahre alt. Zwei Wochen nach seinem ersten Gespräch mit dem Arzt erzählte er ihr, dass er nicht beruflich unterwegs war, sondern bei Dr. Betz.

Betz, weißer Mundschutz, Handschuhe, schneidet ein kleines Loch in den hinteren Teil der linken Hüfte, dort, wo der Oberschenkelknochen, der längste Knochen des menschlichen Körpers, abschließt. Geht dann mit einer winzigen Spezialsäge durch den Hohlraum im Inneren des Knochens hinunter bis zu jener Stelle, an der er ihn durchtrennen will - auf einem Drittel der Strecke zwischen Hüfte und Knie. Beginnt behutsam den Knochen zu zersägen, von innen nach außen. Versucht dabei möglichst wenig Gefäßstrukturen zu zerstören.

Dann kommt der Nagel, "Teleskopnagel" genannt - der Schlüssel zum Wachstum, aus hochlegiertem Chirurgenstahl, nicht aus Titan, das sich als chemisches Element mit dem Knochen verwüchse, was zu enormen Schwierigkeiten führen würde beim Herausnehmen des Nagels eineinhalb Jahre nach der OP.

Mit zwei Querschrauben befestigt Betz den Nagel am oberen Ende des Knochens, legt ihn über die durchtrennte Stelle, befestigt ihn eine Hand breit darunter mit einer weiteren Querschraube. Konstruiert wie eine Autoantenne, die sich ausfährt und die Lücke zwischen dem zersägten Knochen um einen Millimeter pro Tag in Richtung des Knies vergrößert. Deswegen trägt während der Verlängerung und auch danach allein der Nagel den Oberkörper des Patienten. Denn erst mit Ende der Verlängerung beginnt der Knochen damit, die Lücke zuzuwachsen. Er braucht dazu etwa siebzig Tage je Zentimeter. Bei acht Zentimetern Verlängerung gut eineinhalb Jahre.

Als der Nagel am linken Bein verankert ist, wiederholt Betz das ganze Prozedere am rechten. Nach über drei Stunden ist er fertig. Der Grundstein zum Wachstum ist gelegt.

Sonne und blauer Himmel über Neunkirchen. Zimmer 519 des Klinikums ist abgedunkelt. Eine Woche ist vergangen seit der Opera-tion. Marcel D. sitzt auf dem Rand seines Bettes. Müde. Neben ihm liegt ein Mitpatient aus Saudi-Arabien, der fünf Tage vor ihm operiert wurde und immerzu wimmert. Marcel D. spricht leise. Ich habe insgesamt fünf Stunden geschlafen in den letzten fünf Nächten. Drei Tage nach der OP hat mich Dr. Betz das erste Mal geklickt. Es war die Hölle. Einen Tag später habe ich dann das erste Mal selbst geklickt.

Reden sie von Klicken, sprechen sie von jenem mechanischen Vorgang, der die Verlängerung auslöst. Fünfzehn Mal Klicken pro Tag und je Bein ergibt einen Millimeter Wachstum. Jetzt ist das nächste Mal fällig. Marcel D. legt zittrig die Hand an sein gebeugtes Knie, atmet tief ein, presst den Mund zusammen und schließt die Augen. Dann drückt er den Oberschenkel einmal fest nach außen, als müsste er die Innenseite dehnen. Ein leise klickendes Geräusch im Bein. Dazu lautes Stöhnen.

Das Schlimmste aber ist der Rückweg, der das Klicken erst abschließt. Davor braucht er eine Minute der Überwindung. Dann drückt er den Schenkel in die entgegengesetzte Richtung nach innen, bis es, viel lauter diesmal, klickt. Noch lauter ist der Schrei, der ihm dabei entfährt. Seine Frau ist vorgestern wieder nach Hause gefahren, der Sohn muss in den Kindergarten. Was soll ich sagen? So schlimm hätte ich es mir nicht vorgestellt. Es ist wie ein dunkles Loch, in dem ich sitze. Heute Morgen, kurz nach dem Aufstehen, wo es am Schlimmsten ist, die Schenkel schmerzen und steif sind wie Holzklötze, habe ich mich gefragt: In was für eine Scheiße hast du dich da hineinmanövriert? Noch 7,7 Zentimeter Weg vor sich. Noch dreißig Mal Klicken an jedem von siebenundsiebzig Tagen. 2310 schmerzhafte Schritte bis zur Wunschgröße.