Zwei Wochen nach der OP verlässt er die Klinik. Seine Frau holt ihn ab. Bis jetzt ist er im Urlaub auf den Kanaren - für seinen Arbeitgeber und seine Eltern, die Geschwister, Freunde. Am Ende des Urlaubs wird er bei einem schweren Verkehrsunfall einen doppelten Bruch an jedem Bein erleiden. Seine Mutter weint am Telefon, als er sie anruft und darüber informiert. Und sagt dann noch: Oh mein Junge, dass immer du so ein Pech haben musst. Aber es wird wieder werden? Ja, Mama. Das wird wieder.

Niemand außer seiner Frau soll davon erfahren. Jetzt nicht und später auch nicht. Niemals. Das ist mein Traum. Das geht niemanden etwas an. Ich bin ja auch nicht damit hausieren gegangen, wie ich unter meiner Größe gelitten habe.

Zwei Monate später

Besuch bei Marcel D. in der kleinen Wohnung eines Mehrfamilienkomplexes am Rande einer süddeutschen Kleinstadt. Es geht aufwärts. Marcel D. misst bereits 1,74 Meter. Noch drei Zentimeter. Er sitzt auf der Couch. Ich hoffe, es ist in Ordnung, wenn ich meine Beine hochlege; er legt beide Hände, die Finger ineinander verschränkt, unter jeden Oberschenkel. Wie von selbst gewachsen ist er nicht in den vergangenen zwei Monaten.

Die Schmerzen des Klickens blieben - auch wenn er sie abgefedert hat. Seine Tage waren immer gleich getaktet. Maximal eineinhalb Stunden Schlaf am Stück in der Nacht. Weil die Spannung in den Beinen am stärksten ist, wenn er liegt. Dann aufstehen, gehen auf Krücken. Sitzen auf dem Ergometer. Bewegung gegen die Steifigkeit des Liegens. Wieder eineinhalb Stunden Schlaf. Um neun Uhr Aufstehen. Oder um zehn. Erschöpft. Klicken. Noch erschöpfter. Physiotherapie. Dazwischen Momente kleinen Glücks. Lächelndes Kopfschütteln vor dem Spiegel oder neben dem Maßband. Trotzdem denke er jeden Tag an das Ende des Klickens. Die Vollendung des Wachstums. Das ist vielleicht so, wie wenn jemand im Gefängnis die Tage runterzählt bis zu seiner Entlassung. Nur mit dem Unterschied, dass ein Entlassener sich nicht sicher sein kann, rückfällig zu werden. Ich dagegen weiß, dass ich für immer draußen bleibe. Denn die Schmerzen werden vergehen. Aber größer bleibe ich danach ein Leben lang.

Der Neubeginn

Dann ist er da, der Tag des neuen Lebens. So viele Pläne hatte er dafür. Neue Hosen kaufen. Am liebsten den ganzen Tag unter Menschen. Schreien vor Glück. So hatte er es sich von Beginn an vorgestellt. So kommt es aber nicht. Wie oft im Leben ist die Vorfreude die schönste. Weil die Entfaltung der Freude mehr Zeit braucht als den kurzen Augenblick der Gegenwart. Und es war ja nicht so, sagt Marcel D., dass eine Fee kam, bei der ich mir acht Zentimeter wünschen durfte. Ich bin da ja reingewachsen über all die Wochen. Eltern merken ja auch nicht, wie ihre Kinder größer werden, weil sie sie jeden Tag sehen.

Nur eines macht er am ersten Tag: er beantragt einen neuen Personalausweis - mit der neuen Größe darin. Gegen Abend schließt er sich für einen Moment ein auf der Toilette. Und weint. Es ist tatsächlich vollbracht. In der ersten Nacht schläft er sechs Stunden durch. Am nächsten Morgen fährt er zur Arbeit. Noch immer geht er mit Krücken.

Niemand bemerkt etwas an ihm. Einige sagen, schön, dass du wieder da bist. All die Erklärungsversuche, die er sich zurechtgelegt hatte in den letzten Wochen, waren überflüssig. Die Furcht davor, dass man ihm nicht glauben würde. Dass man sich lustig machen würde über ihn, wenn es rauskäme. Überflüssig. Eine Last fällt ab von ihm. Gleichzeitig aber steigt tief in ihm Enttäuschung auf. Dass es nicht einmal diejenigen gemerkt haben, die nur wenig größer waren als er und die er nun überholt hat. Vielleicht auch deswegen, weil nur wenige von der Möglichkeit einer Verlängerung wissen. Und was nicht sein kein, gibt es nicht.

Nur einmal, als ihm eine Freundin, mit der er, seine Frau und sein Sohn durch den Park spazieren, ein Blatt aus dem Haar wischen will, fragt sie ihn: Bist du irgendwie größer geworden? Er lacht laut auf, fast erleichtert darüber, dass es doch noch jemand bemerkt hat: Ja, ja, schön wär’s.

Ein letztes Treffen. In einer Pizzeria in einem Industriegebiet vor der Stadt. Er hat keine Krücken mehr. Sein Gang ist noch ein wenig steif. Ansonsten erinnert nichts mehr daran, dass er einmal acht Zentimeter kleiner war. Ein neues Leben? Glücklicher als zuvor? Ach, was heißt schon glücklich. Ich war davor ja auch nicht immer nur unglücklich. Aber ich habe es gemacht. Und das war wichtig.

"Das passt jetzt"

Ob die Menschen ihn jetzt anders wahrnehmen? Kann ich nicht beurteilen, sagt Marcel D. Ich glaube es aber nicht. Diejenigen, die mich zuvor nicht kannten, wissen ja auch nicht, dass ich größer geworden bin. Ich fühle mich ja selbst ehrlich gesagt auch nicht direkt körperlich größer. Manchmal merke ich, wenn ich im Bad bin oder etwas vom Boden aufhebe, dass sich meine Statik ein wenig verändert hat. Und ich mag jetzt meine Beine sehr. Weil ich speziell meine Oberschenkel immer zu kurz fand - von den Proportionen her. Das passt jetzt. Ich habe ein halbes Dutzend neuer Hosen gekauft. Das war großartig. Ansonsten ist die neue Größe vor allem in meinem Kopf.

Würde er es wieder machen? Trotz all der Schmerzen? Ja. Natürlich. Auf jeden Fall. Die Schmerzen habe ich längst vergessen. Er macht eine Pause und lächelt. Nur fühle ich mich manchmal ein bisschen leer. Es gibt kein großes Projekt mehr. Wobei, einen letzten Höhepunkt wird es noch geben: Der Nagel wird operativ entfernt, wenn auch der letzte Millimeter Knochen hinterher gewachsen ist. Darauf freue ich mich, das wird dann mein endgültiger Abschied von den verdammten 1,69 Metern.