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Eine Kathedrale des Handels

Von Ingeborg Waldinger

Reflexionen
Das Kaufhaus ist ein Blickfang in Paris, steht aber heutzutage leer. 
© Adrian Scottow/ Wikimedia Commons

Das Pariser Warenhaus "La Samaritaine" war jahrzehntelang ein Zentrum des niveauvollen Konsums. Ein Blick in die Kulturgeschichte der Welt des schönen Scheins.


An der westfranzösischen Atlantikküste, vor den Toren von La Rochelle, erstreckt sich die Île de Ré. Als Ernest Cognacq am 2. Oktober 1839 im Hauptort Saint-Martin-de-Ré geboren wird, gilt die vom Salz- und Weinhandel lebende Insel in Paris als "exotische Provinz". Erst anderthalb Jahrhunderte später sollte das bäuerlich-archaische Ré die Metamorphose zur schicken Feriendestination der Pariser Gesellschaft vollziehen. Die Migration vom Rand ins Zentrum setzte - aus anderen Motiven - weitaus früher ein.

Ernest Cognacq wächst als Halbwaise bei seinem Vater auf, einem Amtschreiber im Handelsgericht von Saint-Martin. Dieser stirbt, als der Sohn gerade einmal zwölf Jahre alt ist. Ganz auf sich gestellt, verlässt Ernest die Schule und bringt sich in La Rochelle, Rochefort oder Bordeaux als "calicot" durch, als Gehilfe in Modewarengeschäften. (Die Bezeichnung calicot geht auf die - nach der indischen Stadt Kalkutta benannte - Baumwollsorte Kalikot zurück.)

Doch bald drängt es den aufgeweckten Jungen in die große weite Welt. Den Traum der Pariser Weltausstellung 1855 vor Augen, macht er sich auf den Weg in die Metropole und heuert in den "Galeries du Louvre" (später: "Grands Magasins du Louvre", heute: "Le Louvre des Antiquaires") an, die im Erdgeschoss der eben eröffneten 700-Betten-Luxusherberge "Hôtel du Louvre" Einzug gehalten haben.

Die Karriere währt kurz, Meinungsverschiedenheiten mit Kollegen kosten Ernest den Job. Als ein Niemand aus der Provinz hat er schlechte Karten und kehrt vorerst nach La Rochelle zurück. Doch der Reiz des großen Warenzaubers und der Ehrgeiz, in der Welt des Handels zu reüssieren, sind stärker. Ernest wird Wirtschaftsgeschichte schreiben - als Gründer des Pariser Warenhauses "La Samaritaine".

Konsum als Erlebnis

Die "Kathedralen des Handels" sind eine Chiffre der Moderne. Sie repräsentieren eine völlig neue Form des Wirtschaftens und des Konsums. Die Industrialisierung ermöglicht die Massenproduktion von Waren, die Eisenbahn deren zügige Beförderung wie auch eine höhere Mobilität der Kunden. Die neuen Großkaufhäuser bringen den Detailhandel in Bedrängnis und inszenieren den Konsum als Erlebnis. Eine avantgardistische Stahl-Glas-Architektur überspannt gigantische, lichtdurchflutete Verkaufsräume; und dunkelt es, rücken elektrische Lampen das üppige Angebot ins Rampenlicht. Eine Weltausstellung en miniature, gewissermaßen, deren Tore ganzjährig geöffnet bleiben.

Die Auswahl an Waren ist enorm. Sie reicht vom Luxusobjekt bis zur billigen Massenware, wird auf Plakaten, in Kalendern oder per Katalog beworben. Immer neue Kollektionen und Aktionen locken Besucher in Scharen. Sie flanieren, ganz ohne Kaufzwang. Doch sie konsumieren reichlich. Immer neue Tempel entstehen: "Le Bon Marché", die "Grands Magasins du Louvre", "Le Printemps", "La Samaritaine", "Les Galeries Lafayette", um nur einige der legendären Pariser Grands Magasins zu nennen.

Die kapitalistische Marktwirtschaft beschleunigt den Umlauf des Geldes und den Umschlag der Waren. Produzenten wie Händler vertrauen auf das freie Wechselspiel von Angebot und Nachfrage - und auf das unerschöpfliche Potential des Marktes. Sie setzen viel Geld ein - und immer mehr Fremdkapital, dessen Zinsen es erst zu verdienen gilt. Damit kommt jene "Wachstumsspirale" in Gang, deren Zwänge schon die Kapitalismuskritiker der Gründerzeit auf den Plan rufen.

Neue Unternehmer

Die Industrielle Revolution bedingt auch einen breiten gesellschaftlichen Wandel. Sie bringt einen dynamischen Unternehmertypus hervor, und, mit den Angestellten, einen neuen Mittelstand. Abertausende Menschen fliehen die Armut ländlicher Gebiete, um in den Zentren der Produktion und des Handels ihr Glück zu versuchen. Auch Ernest Cognacq wagt einen weiteren Anlauf. Diesmal findet er Arbeit im Pariser Großkaufhaus "La Nouvelle Héloïse", wo er seine spätere Frau, die aus Ober-Savoyen stammende Marie-Louise Jay kennen lernt. Es folgen weitere dürre Jahre.

Ernest absolviert mehrere Arbeitsstationen, etwa im noblen Kaufhaus "Au Tapis Rouge", ehe er 1867 in einem Speicher der Rue Turbigo seinen Textilstand "Au petit Bénéfice" eröffnet. Über dem Hangar-Eingang lockt ein Transparent mit der Losung: "Hier zahlt man keine Luxussteuer". Vielleicht ist der Firmenname unglücklich gewählt, denn der "Bénéfice", der Gewinn erweist sich als gar zu klein, und Cognacq geht in Konkurs. Wieder beginnt er von vorne, als fliegender Händler quer durch Frankreich.

Dann der dritte Versuch in Paris. Der Kaufmann präsentiert sein Stoffsortiment nun in einer Nische des Pont Neuf, auf Kisten mit rotem Baumwollbezug. Alsbald trägt ihm sein Geschäftssinn den Beinamen "Napoleon des Straßenhandels" ein. Auf eben dieser Brücke befand sich einst ein hydraulisches Pumpwerk, das den Louvre und Umgebung mit Seine-Wasser versorgte. Im Volksmund hieß das 1813 zerstörte Pumpengebäude "La Samaritaine" - wegen seines Reliefs, das Jesus und die Samariterin am Jakobsbrunnen zeigte. Ganz nahe jener Stelle hatte Ernest Cognacq seinen Verkaufsstand aufgebaut.

Kurz vor Ausbruch des deutsch-französischen Krieges 1870 verfügt der Händler über ausreichend Erspartes, um am rechten Seine-Ufer, in der Rue du Pont-Neuf, einen Raum in einem Café zu mieten. Er nennt auch diesen ersten eigenen Laden "Au petit Bénéfice", um die Klientel der nahen Markthallen und des Kaufhauses "À la Belle Jardinière" anzusprechen. Die Zeiten sind hart. Ein Hungerwinter ist überstanden, der Krieg gegen Deutschland verloren. Paris gerät für Wochen unter die "Arbeiterherrschaft" der Kommune - und Cognacq in die Klemme, droht ihm doch die Mobilisierung als Nationalgardist und damit der Verlust der Lizenz. Doch der kreative Unternehmer erbittet sich eine alternative Form der Mitwirkung und beliefert die Gardisten mit Hosen.

Der Erfolg

Ende Mai 1871 ist das revolutionäre Experiment der Kommunarden - mit hohem Blutzoll - gescheitert, die Stadt in weiten Teilen verwüstet. Auf diesen Trümmern baut Cognacq seine große Karriere. Er stellt zwei Verkäufer ein, gestaltet das Lokal um und gibt ihm einen neuen Namen: "La Samaritaine". Damit ist der Grundstein für die "Grands Magasins de la Samaritaine" gelegt. Das Motto über dem Ladeneingang, "per laborem" (durch Arbeit), nehmen die Verkäufer als Ehrennamen für ihren disziplinierten, unprätentiösen Chef.

1872 heiratet Cognacq Marie-Louise Jay, damals Leiterin des Konfektionsrayons im allerersten Grand Magasin, dem "Bon Marché". Der Warentempel am gegenüberliegenden Seine-Ufer dient dem Paar als Modell, etwa in der Organisation von ergebnisverantwortlichen Abteilungen oder der Kalkulation mit Fixpreisen, die ausgeschildert werden.

Anno 1875 erwirtschaftet die "Samaritaine" mit nunmehr 40 Verkäufern einen Umsatz von 800.000 Francs. Im Jahr 1894 sind es 3000 Angestellte, und der Umsatz beläuft sich auf 40 Millionen Francs. Die Milliarde ist 1925 überschritten - bei einem Beschäftigtenstand von 8000. Die betriebliche Umsicht des Gründers ist bald ebenso Legende wie die Höflichkeit seines Verkaufspersonals. Die zahlreichen, bis 1933 durchgeführten Um- und Anbauten im Stil des Art Nouveau tragen die Handschrift der Architekten Frantz Jourdain und Henri Sauvage. Die Verkaufsflächen erreichen stolze 48.000 m².

Die Cognacqs, ein Musterbeispiel für den sozialen Aufstieg im ausgehenden 19. Jahrhundert, entwickeln sich zu Pionieren einer modernen Unternehmenskultur. Sie ermöglichen die Anprobe von Kleidungsstücken, räumen den Kunden ein Rückgaberecht ein. Ernest Cognacq verfasst die Werbung höchstpersönlich und ficht beim Obersten Verwaltungsgericht sogar erweiterte Öffnungszeiten durch: Fortan können die Pariser ihre Hüte, Schuhe und Stoffe, ihre Möbel, Teppiche oder Haushaltsartikel auch sonntags kaufen. Das Personal kommt in den Genuss freiwilliger Sozialleistungen: Jeder Angestellte erhält ein Pensionskonto; eine hauseigene Kinderkrippe erlaubt Verkäuferinnen, ihre Kleinsten direkt am Arbeitsort betreuen zu lassen und dort auch zu stillen. Darüber hinaus stellt der paternalistische Unternehmer billigen Wohnraum, ein Lehrlingszentrum, ein Sanatorium und ein Altenheim bereit.

Nachfolgerprobleme

Die Cognacqs gründen die - bis heute aktive - Stiftung "Fonda-
tion Cognacq-Jay" und loben einen Preis für kinderreiche Jungfamilien aus. Nur unter dem eigenen Dach (einem standesgemäßen Palais in der heutigen Avenue Foch) bleibt der Kindersegen aus.

Die Nachfolge will indes geregelt sein. Der erste Kandidat, ein Neffe von Madame Cognacq-Jay, zieht allerdings der kommerziellen die kirchliche Laufbahn vor und wird Priester. Der zweite Anwärter auf die Chefetage, ein Sohn von Ernests Halbbruder, übt sich in die Rolle als Patron ein. Dass er sich in eine kleine Verkäuferin der Samaritaine verliebt und mit dieser einen Sohn zeugt, wird von den Gönnern aber nicht goutiert. Aus der Traum. Das Mädchen stamme aus unpassendem Milieu, lautet die Begründung der immer gestrengeren Eigentümer.

Der verhinderte Juniorchef stirbt früh, worauf die Cognacqs der Witwe anbieten, für das Kind zu sorgen. Sie bedingen sich dafür deren Wegzug aus. Die mittellose Frau hat keine Wahl - und La Samaritaine einen neuen Chef: Gabriel Cognacq, den Großneffen des Unternehmensgründers.

Die "Grands Magasins de la Samaritaine" gingen nach Cognacqs Tod 1928 in den Besitz der Familie Renan über, die den Komplex 2001 an den Konzern LMVH verkaufte. Im Juni 2005 schloss das Warenhaus für immer seine Pforten. Der alte Werbeslogan "Im Samaritaine findet man alles" ist Geschichte. Doch das denkmalgeschützte Hauptgebäude soll voraussichtlich 2018 in neuem Glanz erstrahlen - als Luxushotel.

Ingeborg Waldinger, geb. 1956, Romanistin und Germanistin, ist Redakteurin im "extra" der Wiener Zeitung und literarische Übersetzerin.