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Erschöpfungstod am Mont Ventoux

Von Thomas Karny

Reflexionen

Vor fünfzig Jahren starb der britische Radweltmeister Tom Simpson während der Tour de France an einem Mix von Amphetaminen, Alkohol und Dehydrierung.


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Tom Simpson, aufgenommen im Jahr 1965.
© Ullstein/Roger Viollet

Tour de France 1967, 13. Juli. Es ist der Tag, an dem die Etappe von Marseille nach Avignon und dann hinauf in die kahle, brütend heiße Mondlandschaft des 1912 Meter hohen Mont Ventoux führt. Und es ist jener Tag, an dem Doping auf tragische Weise ein Gesicht bekommt. Jenes des Briten Tom Simpson, Triumphator bei berühmten Eintagesklassikern, Bronzemedaillen-Gewinner bei den Olympischen Spielen 1956 im Rad-Vierer, Straßenweltmeister 1965 und aufgrund seiner humorvollen Schlagfertigkeit und fairen Fahrweise bei Kollegen, Fans und Medien gleichermaßen beliebt.<p>40 Grad Celsius werden an jenem Tag gemessen, das Peloton quält sich unter gnadenlosen Bedingungen durch die Provence, am Schluss wartet ein 21 Kilometer langer Anstieg mit nahezu acht Prozent Steigung. Simpson glaubt an den Toursieg, wenn er bei einzelnen Etappen reüssieren könne und vor dem abschließenden Zeitfahren nicht mehr als drei Minuten Rückstand habe. Die Fahrt über den Ventoux schätzt er als eine der Schlüsseletappen ein, zu Beginn des Anstiegs befindet er sich in der Spitzengruppe. Als der Franzose Raymond Poulidor und der spanische Bergspezialist Julio Jiménez attackieren, zieht Simpson mit, kann das Tempo aber nicht lange halten. Seit 200 Kilometern sitzt er im Sattel, seit Tagen plagen ihn massive Magenbeschwerden, seine Wasserflaschen sind geleert, mittlerweile stillt er seinen Durst mit Cognac.<p>

Wasserknappheit

<p>Es gehörte zu den Besonderheiten der Tour, dass die Fahrer keinen Getränkenachschub aus den Teamfahrzeugen bekommen durften, da man verhindern wollte, dass sie sich von den Autos ziehen lassen. Waren die zwei Liter, die sie zu Beginn einer Etappe in ihre Trinkflaschen füllten, aufgebraucht, begann la chasse à la canette, die Jagd nach Trinkbarem. Die Fahrer rannten zu Brunnen und Bächen oder baten die Zuschauer, ihre Flaschen aufzufüllen, stürmten Cafés und Kneipen, nahmen, was sie kriegen konnten, auch Alkohol.<p>Andererseits: Eine weit verbreitete Ansicht jener Zeit war, während des Rennens so wenig Flüssigkeit wie möglich zu sich zu nehmen, um das Schwitzen zu vermeiden. Man wusste nicht, dass daraus Dehydrierung folgte und an einem Tag wie jenem jedem Fahrer Hitzschlag und Herzversagen drohten.<p>Zweieinhalb Kilometer vor dem Gipfel beginnt Simpson, in unkontrollierten Zick-zack-Linien zu fahren, einen Kilometer später stürzt er zum ersten Mal. Er treibt seine Betreuer, die rasch aus dem Begleitwagen gesprungen und zu ihm geeilt sind, an, ihn wieder aufs Rad zu setzen: "Put me back on my bike!" Ein Satz, der berühmt geworden ist, aber wohl der Fabulierkunst eines "Sun"-Reporters auf der Suche nach einer griffigen Formulierung entsprungen sein dürfte. Simpson fährt noch ein paar hundert Meter, dann sehen ihn die Betreuer abermals taumeln. Als sie bei ihm sind, fällt er ihnen quasi in die Arme. Möglicherweise war Tom Simpson da bereits tot und die vom Tour-Arzt Pierre Dumas angeordnete Überstellung per Hubschrauber in das Krankenhaus von Avignon der letzte Akt, dessen Aussichtslosigkeit er bereits erkannt hatte, nachdem die Wiederbelebungsversuche mittels einer Sauerstoffmaske erfolglos geblieben waren.<p>Auf der abendlichen Pressekonferenz im Etappenzielort Carpentras gibt Félix Lévitan, Chefredakteur der Zeitung "Parisien Libéré" und gemeinsam mit Jacques Goddet Leiter der Tour, bekannt, dass Simpson um 17.40 Uhr an Herzversagen gestorben ist. Und dennoch: "Die zuständigen Ärzte haben entschieden, einem Begräbnis vorerst nicht zuzustimmen." - Nur ein kleiner Kreis von Eingeweihten wusste zu diesem Zeitpunkt, dass in Simpsons Trikot drei Röhrchen, in denen er Amphetamine aufbewahrt hatte, gefunden worden waren. Zwei waren leer, im dritten befanden sich noch ein paar Pillen. Noch in der Nacht wurden Betreuer von der Polizei vernommen, die Unterkünfte durchsucht - und weitere Stimulanzien gefunden.<p>Die Tour hatte ihren ersten Doping-Toten und aufgrund der Beharrlichkeit, mit der Dr. Dumas auf einer Obduktion bestand, bald die Simpson-Affäre. Es war die Zeit, als sich allmählich ein Problembewusstsein für Doping entwickelte und die Funktionäre auch bereit waren, etwas dagegen zu unternehmen. Seit dem 1. Juni 1965 war die Einnahme von leistungssteigernden Mitteln verboten, es drohten Geldbußen und sogar Gefängnisstrafen bis zu einem Jahr. Exekutiert wurde das Gesetz lax, Dopingtests verkamen zur Farce, weil Fahrer - zuweilen durch Streiks - die Urinabgabe verweigerten.<p>

Ruhm und Geld

<p>Im Frühjahr 1959 hatte Simpson, der Bergarbeitersohn aus Harworth, seiner Heimat den Rücken gekehrt und war nach Frankreich übersiedelt. Er war 21 Jahre alt, hatte Medaillen bei den Olympischen Spielen, den "Empire Games" und nationalen Meisterschaften eingeheimst und die Absicht, seinen Lebensunterhalt als Radrennfahrer zu verdienen.<p>In den ersten sechs Wochen nach seiner Ankunft in Frankreich hatte er fünf Rennen gewonnen und nach drei Monaten seinen ersten Profivertrag in der Tasche. In seinen Briefen nach Hause genoss die Höhe des Preisgeldes stets einen höheren Stellenwert als seine Platzierung. Er erkannte schnell, dass die großen Rennen bloß die Auslage waren, in der sich ein Fahrer für ein Engagement bei den kleineren Kriterien präsentieren konnte. Seine Erfolge bei Mailand-San Remo, Bordeaux-Paris, der Flandern- und der Lombardeirundfahrt waren aller Ehren wert. Sein "Gelbes Trikot", das er sich bei der Tour de France 1962 vorübergehend überstreifte, und sein Straßenweltmeistertitel 1965 sicherten ihm den Eintrag in die Annalen der Sportgeschichte.<p>Doch es waren die Radbahnkriterien und "Kirmesrennen" in Frankreichs und Belgiens Dörfern, die das Konto füllten, den Fahrern aber auch schier Übermenschliches abverlangten. In den drei Wochen nach dem Gewinn seines WM-Titels bestritt Simpson 18 Rennen, zwischen denen er Tausende Kilometer im Auto zurücklegte!<p>

Der Perfektionist

<p>Neben einem ausgeprägten Geschäftssinn, der ihm luxuriöse Autos erlaubte und ihn von einem Hotelprojekt in der Normandie träumen ließ, hatte Simpson einen mindestens ebenso starken Hang zum Perfektionismus. Er entwickelte einen Rennsattel mit Schaumstoffauflage, ließ seine Schuhe von einem belgischen Spezialisten handfertigen und seine extraleichten Schlauchreifen mit einem speziellen Kitt kleben. Selbst als Mitglied des Peugeot-Rennstalls vertraute er nicht auf das Werksprodukt, sondern ließ seine Rennmaschinen von Masi in Italien maßanfertigen und danach in Peugeot-Farben lackieren. Bereits als junger Amateur hatte er sich mit der Ernährungslehre auseinandergesetzt und einen Speiseplan, der vor allem aus frischem Obst, Gemüse und Fleisch bestand, erstellt.<p>Jener Epoche, in der die Rennfahrer nach dem Motto, wer mehr isst, hat mehr Energie, zum Frühstück 20 Eier verschlangen oder einen Kilo Honig zu sich nahmen, gehörte Simpson nicht mehr an. Als junger Profi trat er ein in die Welt der Amphetamine und Pervitine, Äther und Opiate, Strychnin und Arsen. Es gab kein Bewusstsein für die Gefahren dieser Substanzen, man registrierte nur ihre leistungssteigernde beziehungsweise schmerzmildernde Wirkung, nahm sie ohne Scheu, spritzte sie vor aller Augen sich selbst und den Teamkollegen in die Armbeugen oder Beine.<p>Einer wie Simpson, der stets an und über seine Grenzen ging, sah darin - wie viele seiner Kollegen - nicht mehr als legitimes Körpertuning. Denn die Anforderungen jener Zeit waren enorm. Der Eintagesklassiker Bordeaux-Paris, den Simpson 1963 gewann, ging über 557 Kilometer und wurde von den Spitzenfahrern in 14 Stunden absolviert. Die 432 Kilometer zwischen London und Holyhead legte Simpson bei seinem Sieg 1965 im Windschatten motorisierter Schrittmacher mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 42 km/h zurück. Den Teilnehmern der Tour de France 1967 standen 4800 Kilometer bevor, fast 1300 Kilometer mehr als 2017. Der fünffache Tour-Sieger Jacques Anquetil bekannte öffentlich: "Wer glaubt, dass ein Radprofi, der an 235 Tagen im Jahr fährt, das Tempo ohne Stimulanzien halten kann, ist ein Dummkopf oder ein Heuchler."<p>Wie der britische Journalist William Fotheringham nachweist, wurde Simpson vor Beginn der Tour von seinem Manager unter Druck gesetzt. Die Saison 1966, die für den regierenden Weltmeister (und für seinen Manager) außerordentlich lukrativ hätte werden können, wurde zum Desaster, weil er sich vor deren Beginn beim Skifahren ein Bein brach. 1967 startete er mit drei Renn-triumphen und zwei Etappensiegen bei der Spanienrundfahrt erfolgreich, dennoch würde erst ein beeindruckender Auftritt bei der Tour seinen Marktwert wieder deutlich steigen lassen.<p>

"Alles oder nichts"

<p>Außer 1962, als Simpson Sechster wurde, war es für ihn bei der Tour immer schlecht gelaufen, drei Mal hatte er sogar vorzeitig aufgeben müssen. Nun hielt er sich zwar unter den top ten, doch sein Magen machte ihm schwer zu schaffen. Nach der Alpenetappe über den Col du Galibier musste sein Mechaniker das vom Durchfall verdreckte Rad reinigen, den Mont Ventoux, für den sein Manager die Devise "Alles oder nichts" ausgegeben hatte, erreichte er nicht mehr. Ein Mix aus Amphetaminen, Alkohol und Dehydrierung hatte ihn für immer aus den Pedalen gekippt.<p>1968 war am Mont Ventoux ein Gedenkstein für Simpson enthüllt worden. Und als 1970 erstmals seit der Tragödie die Tour daran vorbeiführte, warf der belgische Rad-Star Eddy Merckx, der als einziger Radprofi an Simpsons Begräbnis teilgenommen hatte, seine Rennmütze als symbolischen Tribut an den verstorbenen Weltmeister ab.<p>Bereits im November 1967 hatte der Radsportweltverband UCI neue internationale Sanktionen erlassen. Erstmals drohte für Dopingvergehen eine lebenslange Sperre. Hätte man die neuen Gesetze streng ausgelegt, wäre das Fahrerfeld wohl um die nahezu gesamte Riege der damaligen Spitzenleute dezimiert worden. Erst der Festina-Skandal 1998, die Operacion Puerto 2006 und der Sturz des Giganten der Rennstrecke, Lance Armstrong, zeugten von scharfem Durchgreifen. Freilich, gedopt wird weiterhin werden. Denn, so formulierte es bereits der deutsche Weltmeister von 1966, Rudi Altig, knapp und deutlich: "Wir sind keine Sportler, wir sind Profis."

Literaturtipp: William Fotheringham: Put me back on my bike. Die Tom-Simpson-Biografie. Covadonga Verlag, Bielefeld 2007, 286 S.

Thomas Karny, geb. 1964, ist Sozialpädagoge, Autor und Journalist. Mehrere Buchveröffentlichungen zur Zeit- und Motorsportgeschichte. Lebt in Graz.