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"Lasst den Samba nicht sterben"

Von Philipp Lichterbeck

Reflexionen

In Rio de Janeiro treffen sich zahlreiche Gruppen, um in zwangloser Form zu essen und zu trinken, und vor allem: um Musik zu machen.


Es ist ein verregneter Montagnachmittag in Rio de Janeiro. In einem Clubhaus im Mittelklasse-stadtteil Andaraí, fern von Copa-cabana und Zuckerhut, entkorkt Moacyr Luz eine Flasche Wein. Seine Hände zittern leicht, er leidet an einer frühen Form der Parkinson-Krankheit. Bevor er großzügig einschenkt, schneidet er einen Blaukäse auf. "Saúde!", sagt er. "Gesundheit! Auf den Samba!" Nach den ersten Schlucken beruhigen sich die Hände des 59-jährigen Gitarristen und Sängers.

Klargestellt werden muss zunächst, dass es sich hier nicht um die klassische Samba-Ernährung handelt. "Denn sonst trinkt der Sambista Bier und isst Frittiertes", sagt Moacyr Luz. "Aber bei uns hat sich das so eingebürgert. Wir waren eine Gruppe von Freunden. Wir trafen uns, um Musik zu machen und ein Gläschen Wein zu schlürfen."

Damals, das war im Jahr 2005, und es war die Geburtsstunde des "Samba do Trabalhador". Auf Deutsch heißt das: "Samba des Arbeiters". Die Idee dahinter sei es gewesen, erklärt Luz, Musik für die Arbeiter und Angestellten Rios zu spielen, die am Montag frei haben, weil sie sonntags arbeiten müssen. Aus der fixen Idee wurde eine der langlebigsten Sambarunden Rios, sogar die "New York Times" berichtete schon über sie.

Zwanglose Runde

Es treffen weitere Musiker ein, sie haben Gitarren, Ukulelen und Schlaginstrumente dabei, begrüßen Moacyr Luz mit einem Küsschen auf die Stirn und setzen sich zu ihm an die improvisierte Tafel aus Plastiktischen. Luz ist ein fülliger Typ mit nach hinten gekämmten grauen Haaren, er trägt mehrere Ringe und zwei dicke Holzketten um den Hals. Ein bisschen wirkt er wie ein Pate, und im Grunde ist er das ja auch. Er hält den Samba do Trabalhador seit zwölf Jahren am Leben.

Immer weitere Weinflaschen werden nun geöffnet und Häppchen gereicht während Moacyr Luz erläutert, was das eigentlich ist, eine Sambarunde, eine Roda de Samba. Das Wichtigste, sagt er, sei das Gemeinschaftserlebnis, denn wie der Name ja schon enthülle, handle es sich um eine Runde - und nicht um die übliche Musiker-auf-der-Bühne-und-Publikum-davor-Anordnung. Bei der Sambarunde sitzen die Musiker an einem Tisch und die Zuhörer stehen klatschend und singend um sie herum oder tanzen. Die Zahl der Musiker kann variieren. Hier, beim Samba do Trabalhador, sind es rund ein Dutzend. Aber es reichen schon ein Sänger, eine Akustikgitarre und ein Rhythmus-instrument, um ein Sambaründchen einzuberufen.

Diese Offenheit macht die Roda de Samba zu einer der schönsten und typischsten Erfahrungen, die man in Rio de Janeiro machen kann. Es gibt feste Runden wie den montäglichen Samba do Trabalhador, zu denen Hunderte Besucher strömen. Gleichzeitig aber kann man jeden Tag irgendwo spontane Minirunden in Bars erleben.

Das Repertoire an Stücken, das geboten wird, ist unerschöpflich; und es ist immer wieder verblüffend wie die Cariocas, die Bewohner Rios, ihre Musik auswendig kennen und mitsingen. Moacyr Luz, der selbst über 200 eigene Songs aufgenommen hat, erklärt es damit, dass im Samba die Geschichte Brasiliens und die Seele der Brasilianer stecke. In den Texten gehe es meist um traurige Dinge, um die alltäglichen Schwierigkeiten des Lebens in einem so ungerechten Land. Der Rhythmus aber widerspreche dieser Traurigkeit. Er sei fröhlich, animierend und sage: nicht resignieren, nicht bitter werden, nicht zurückschauen, es geht weiter.

Tatsächlich gibt es wohl kaum ein zweites Land, in dem die Menschen sich so wenig damit beschäftigen, was war und stattdessen versuchen, das Beste aus der Gegenwart zu machen. Diese Leichtigkeit, der dennoch etwas Melancholisches innewohnt, ist perfekt im Samba ausgedrückt.

Im Clubheim in Andaraí greifen sie nun zu den Instrumenten. Rund 200 Menschen sind erschienen, aber manchmal haben wir bis zu 1000 Besucher, sagt Moacyr Luz. Der Eintritt beträgt umgerechnet sechs Euro, andere Runden sind gratis.

Schwarze Tradition

Das Clubheim ist denkbar einfach. Es besteht aus einer hohen Halle mit Plastiktischen und Getränkeverkauf. Aber es hat eine lange Tradition. 1951 wurde hier der Renascença Clube von Afro-Brasilianern gegründet, die sich von den Clubs der Weißen ausgeschlossen sahen. An den Wänden prangen riesige Plakate mit den Gesichtern schwarzer Helden und Heldinnen: Joaquim Barbosa, der erste schwarze Präsident des Obersten Gerichtshofs; oder Ruth de Souza, die als erste schwarze Schauspielerin auf der Bühne von Rios Stadttheater stand. An der Frontseite der Halle heißt es unter dem Wappen des Renascença Clubes: "66 Jahre Widerstand."

Moacyr Luz, selbst kein Schwarzer, stimmt dem zu. Der Samba, das sei die Musik derer, die unten seien. Aber er transzendiere auch die Rassen- und Klassenschranken Brasiliens. Denn bei so einer Sambarunde seien alle gleich, ausgedrückt im demokratischen Kreis.

Dann geht es los. Mehrere Gitarren setzen ein, dazu Ukulelen, Tamburins, Ratschen, Bongos, Glocken und die typische kleine Reibetrommel, die auf Portugiesisch so heißt, wie sie sich anhört: Cuíca. Das erste Stück, ein Klassiker, ist ein Statement: "Não Deixe O Samba Morrer" von 1975: "Lass den Samba nicht sterben." Die Halle singt geschlossen mit.

Als der Song endet, macht Moacyr Luz eine Ansage. Er äußere sich ja sonst nicht politisch. Aber der neue Bürgermeister von Rio sei eine Schande. "Er steht gegen alles, was unsere Stadt ausmacht." Grund für den Zorn ist die Karnevalsfeindlichkeit von Marcelo Crivella, seit Januar Stadtoberhaupt. Crivella ist im ersten Beruf Pastor einer konservativen evangelikalen Kirche. Diese lehnt Ausschweifungen (Alkohol, Tabak, außerehelichen Sex) ab und hält den Karneval zwangsläufig für Teufelszeug. In diesem Jahr blieb Crivella dem Umzug der Karnevalsschulen fern. Es war ein klarer Affront. Nun hat er den Karnevalsvereinen die Zuschüsse gekürzt und strenge Regeln für Musikveranstaltungen auf der Straße erlassen. Moacyr Luz ruft: "Dieser Crivella wird den Geist Rios nicht brechen." Er erntet Applaus.

Samba und Choro

Es folgt ein Samba nach dem anderen mit diesem trippelnden und swingenden 2/4-Takt, bei dem man irgendwann ganz von selbst mitsteppt und mitklatscht. Bis Moacyr Luz um 22 Uhr, nach fünf Stunden, zum Aufbruch bläst. Zum Abschluss wieder ein Klassiker: "Canto Das Três Raças", "Gesang der drei Rassen", eine Hommage an Brasiliens ethnische Vielfalt und den Widerstand von Ureinwohnern und Schwarzen. Dann heißt es: Austrinken und Sachen packen.

Der Samba, dieser brasilianischste alle Musikstile, ging zwischen 1910 und 1920 in den Vergnügungsvierteln von Rio aus verschiedenen Stilen hervor. 1928 gründete man in Rio die erste Sambaschule, sie nannte sich "Deixa Falar" - "Lass sie reden". Bald entwickelte sich die Musik zum Artikulationsinstrument der Armen und Schwarzen, und damit der Favelas.

Vor dem Samba aber war der Choro, er gilt als sein älterer Bruder. Und auch er ist lebendiger denn je. Ebenso häufig wie Samba-Runden findet man in Rio Chorinho-Runden, die ganz ähnlich ablaufen. Um aber etwas über den Choro zu erfahren, muss man zu Hamilton de Holanda.

Der Weg zu ihm führt weit in den Westen Rios, mit dem Schnellbus geht es über die Avenida das Américas, immer parallel zum Atlantikstrand. Schließlich, schon fast an der Stadtgrenze, erreicht man eine gepflegte Apartmentanlage mit Einlasskontrolle. Hier hat sich de Holanda vor einigen Jahren eine Wohnung gekauft. Es ist etwas steril und weit weg vom Geschehen, für einen Musiker in der Musikstadt Rio.

Die Liebe habe ihn hergeführt, sagt de Holanda. Seine Freundin, die heute seine Frau ist, wohnte ja in der Nähe. Die Liebe - der 41-jährige de Holanda wird sie immer wieder erwähnen. Als kleiner Junge bekam er vom Großvater eine Mandoline geschenkt - er sagt "Liebe auf den ersten Klang" - und ist heute weltweit einer der virtuosesten Spieler dieses Instruments, das auf Portugiesisch Bandolim heißt.

Hamilton de Holanda kommt also mit seiner Mandoline in den grünen Innenhof, setzt sich und zupft und schlägt drauflos. Er improvisiert einige bunte Melodien, die Gärtner recken neugierig die Hälse. Im Ausland wird de Holanda oft als Jazzmusiker bezeichnet, weil er mit den Größen des Genres auftritt. In Brasilien aber ist er für seine Choros bekannt. "Der Choro", erklärt er, "ist das Resultat der Vermischung europäischer Salonmusik des 19. Jahrhunderts mit dem afrikanischen Lundu". Choros haben normalerweise keine Texte, die Melodie wird von einer Querflöte oder einer Klarinette gespielt. Weitere typische In-strumente sind: Gitarre, Ukulele, Tamburin und Mandoline. Letztere kam mit Portugiesen und Italienern nach Brasilien und traf hier auf all die afrikanischen Rhythmen, die zur Grundlage der populären Musik des Landes wurden.

Die Mandoline hat vier Doppelsaiten, aber de Holanda brachte es schon früh zu so großer Fingerfertigkeit, dass sie ihm nicht mehr genügten. Heute spielt er auf einer Spezialanfertigung mit fünf Doppelsaiten. Wegen seiner Virtuosität hat man ihn in den USA schon als "Jimi Hendrix der Mandoline" bezeichnet. Er selbst glaubt bescheiden, dass der Vergleich mit seiner Haarpracht zu tun habe.

Weil er zu großer Empathie fähig ist, engagiert sich de Holanda sozial, gibt Musikworkshops für Kinder in Rios Favelas. Es helfe ihnen in ihrer Entwicklung, ist er überzeugt. Ohnehin sei es in Brasilien ein Muss, Musik zu machen. Denn was bleibe denn sonst? Die Politik korrupt, die Wirtschaft in der Krise, der Fußball 1:7 und die Gesellschaft polarisiert. "Die Samba- und Choro-runde sind die letzten Gemeinschaftserlebnisse, die uns positiv verbinden." Sagt er und zupft eine blumige Melodie.

Philipp Lichterbeck, geboren 1972, lebt zur Zeit in Rio de Janeiro und arbeitet als Journalist für verschiedene Printmedien.