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Wiener Untergrund

Von Manfred Rebhandl

Reflexionen

Schriftstellerin Alex Beer hat einen Krimi über das Wien nach dem Ersten Weltkrieg geschrieben: "Der zweite Reiter". Eine Wanderung zu den Schauplätzen.


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Alex Beer am Tor zu Wiens Unterwelt (Litfasssäule).
© Rebhandl

Ich treffe Schriftstellerin Alex Beer an einem der Schauplätze ihres Krimis "Der Zweite Reiter", der im Wien nach dem Ersten Weltkrieg angesiedelt ist. Wir stehen vor einer Litfasssäule gegenüber dem Eislaufverein, die früher "Turm" geheißen hätte: Durch ein kleines Loch in der Eisentür, das jemand herausgebrochen hat, sieht man die Wendeltreppe, die hinunterführt in Wiens Unterwelt. Seit dem Mittelalter, dann verstärkt während der Monarchie, errichtete man eine weitläufige, verzweigte Kanalisation mit teils engen Rohren, teils breiten Wegen. Mal fließt mehr Wasser dort unten, mal weniger. Seit Ende des 19. Jahrhunderts, so Beer, lebten dort Menschen, anfangs unbehelligt, später von der Polizei verfolgt. Um die guten Plätze stritten und kämpften die, die nicht einmal als Bettgeher Unterschlupf fanden. Sie schliefen in "Betten, die niemals kalt wurden", so Beer.<p>Die ganz armen Hunde stellten sich vor Obdachlosenquartieren wie dem in der Blattgasse auf der Landstraße an, das 200 Betten hatte und stets überfüllt war. Man kam nur mit einer Zuteilkarte hinein, die gezwickt wurde, und nach fünf Nächten musste man draußen bleiben; in ihrem Buch schreibt Beer: "Ein Pulk von Männern in allen Altersklassen, vom bartlosen Knaben bis hin zum gebeugten Greis, hatte sich vor dem großen Tor versammelt. Es mussten mehrere Hundert sein, und die meisten von ihnen trugen weder Mützen noch Handschuhe oder winterfeste Jacken. Bibbernd warteten sie auf Einlass. Sie drängten sich eng aneinander, denn ein eisiger Wind, der den Geruch von Schnee heranwehte, war aufgezogen."

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Schleichhandel

<p>In der Unterwelt aber herrschten "die Wilden", und Schleichhändler erledigten dort ihre Geschäfte. Der engagierte Sozialist Max Winter, der als Erster Sozialreportagen verfasste, schlief bei den Obdachlosen und stieg hinab in die Kanalisation, er berichtete darüber in der "Arbeiterzeitung". Seine wichtigsten Artikel wurden in Buchform verlegt, sie dienten Beer zur Recherche - etwa "Höhlenbewohner in Wien" oder "Im unterirdischen Wien". Wolfgang Maderthaner wiederum schrieb "Anarchie der Vorstadt". Darin beschreibt er die dort ansässigen Banden, die oft sehr junge Mitglieder hatten und "Platten" genannt wurden. Es gab die "G’stutzte Mirzl Platte", die "Holumek Platte", die "Steinhauer Platte" oder - am schlimmsten von allen - , die "Beer Platte".<p>Da muss Alex Beer lachen, aber sie heißt ja eigentlich Daniela Lacher und stammt aus Vorarlberg, mit Verbrechen hat sie nur zu tun, wenn sie ihre Krimis schreibt und dafür monatelang in der Nationalbibliothek alte Zeitungen liest. Sie fand dort einen Artikel des "Illustrierten Wiener Extrablattes", das diese Platten bereits 1905 mit den "Apachen aus Paris", den "Hooligans aus London" oder den "Mularias aus Triest" verglich und meinte, "dass in Paris, London, Triest durch die Banden in zwei Monaten nicht so viele Verbrechen begangen wurden wie in Wien in zwei Nächten." Nach Kriegsende war es dann freilich noch schlimmer.<p>"Keine Fisimatenten!", hieß ein guter Rat, wenn man von Banden ausgeraubt wurde. Das Diebesgut lagerte dann zum Beispiel unter dem Schwarzenbergplatz. Von der Litfasssäule, an der wir stehen, erreichte man unterirdisch einen "Zwingburg" genannten Hohlraum, der das ganze Jahr über trocken blieb. "Man konnte ihn nur über einen Steg erreichen, der jederzeit eingezogen werden kann", liest man in Beers Buch. "In dem Raum häuften sich Kisten und Fässer in allen Größen und Formen. Dazwischen werkelten im Schein von Gaslaternen unzählige Männer, die emsig stapelten, schleppten und Geld zählten."<p>In Beers Krimi heißt einer der Schleichhändler Veit Kolja, er war früher mit Rayoninspektor August Emmerich befreundet, der den Mord an einem "Kriegszitterer" aufzuklären hatte. Das waren Männer, die psychisch schwer angeschlagen aus dem Krieg nach Hause kamen und die Erinnerungen daran nicht mehr loswurden. Auch der Mann seiner Luise, mit der Emmerich sich zusammengetan hatte, ist ein solcher, und als er unversehens aus sibirischer Gefangenschaft heimkehrt, ist auch Emmerich sein Obdach los.<p>Das Schicksal meinte es eben nicht gut mit Emmerich: "Nicht nur, dass seine Schuhe eine Nummer zu klein waren", schreibt Beer, "es waren zudem auch noch Kriegsstiefel. Leder war rar, weswegen man begonnen hatte, Schuhe mit Holz zu besohlen. Er quetschte seine durchgefrorenen Füße in die klobigen Treter, nahm den Verband ab und trat zurück auf den Flur". Gegen die Schmerzen, die ihm ein Granatsplitter im Bein bereitet, schluckt er "Heroin von BAYER", damals legal und in Tablettenform in den Apotheken erhältlich. Heroin war ein eingetragener Markenname.<p>Wir gehen nun schmerzfrei über den Schwarzenbergplatz, unter dem die Zwingburg lag, und Beer erzählt, dass viele vom "Strotten", vom Wühlen in Abfällen und Sortieren derselben, lebten. Auch bekannt waren damals die sogenannten Fettfischer, im Buch heißt es über sie: "Emmerich querte die Nußdorfer Lände und stapfte einen (. . .) Abhang zum Ufer des Donaukanals, der im Volksmund Wiener Arm genannt wurde, hinunter. Aus dem Donaukanal fischten die Fettfischer Knochenreste und alles, was sich an die Seifenfabrikanten verkaufen ließ." Hygiene war ein Riesenproblem, Seife Mangelware, Krankheiten allgegenwärtig.<p>

Lebensmittelhilfe

<p>Beer führt mich nun zur Hofburg in den Schweizer Hof, wo heute die Schatzkammer untergebracht ist. Die dort ausgestellten Reichskleinodien, die Krone und das Zepter, hatte der Staat belehnt, anderes veräußert, was insbesondere bei den Bürgerlichen und ehemaligen Adeligen nicht gut ankam. Emmerichs Assistent heißt Winter, und dessen Großmutter schimpft über "die Linken": "Solche Banausen!"<p>Nach dem Hungerwinter 1918 war im Schweizerhof das Lebensmittellager der American Relief Administration eingerichtet, in kein europäisches Land, außer Belgien, mussten damals mehr Lebensmittel pro Kopf gebracht werden. Kommunistische Agitatoren lockten das hungernde Volk Richtung Russland, ein gänzlicher Verlust der Lebensmittelhilfe durch die Amerikaner hätte wohl zur Revolution geführt.<p>"Es gab einen großen Hartkeks aus Mehl, Zucker, Fett und Kakao", erzählt Beer, "der alles enthielt, was Kinder zum körperlichen Wachstum benötigen. Man versorgte damit täglich 2,5 Millionen Kinder." Und die Mütter mussten nach "Notrezepten" kochen: Sie streckten Brot mit Sägemehl oder kochten "Kaffee" aus altem Brot und Unkraut. Beer fand gar ein Rezept für eine "falsche Linzertorte: 30 Deka Erbsen (grün oder gelb), zehn Deka Zucker, ein Packerl Backpulver, zwei Packerl Puddingpulver und, wenn nicht erhältlich, dann neun Deka Mehl." Auch Rüben waren ein gefragtes Gut, da man sie einfach konservieren und den ganzen Winter davon zehren konnte. "Eine Horde von Kindern umkreiste wie Aasgeier die Boote und Karren und wartete auf eine Gelegenheit, die begehrte Ware zu stehlen", schreibt sie. Stehlen nannte man "Böhmisch einkaufen", Vorurteile hatten die Menschen also immer schon.<p>Wir gehen nun am Loos-Haus vorbei, das Kaiser Franz Josef so sehr hasste, dass er die Fenster der Hofburg zunageln ließ, um es nicht sehen zu müssen; der Volksmund nannte es "Haus ohne Augenbrauen". Nach Kriegsende waren auch die Habsburger heimatlos geworden, Kaiser Karl hatte die Verzichtserklärung unterschrieben und ging ins Exil in die Schweiz. Dafür, sagt Beer, kamen wegen des hohen Wertes von Devisen wieder viele Ausländer nach Wien und investierten, in der Innenstadt gab es Nachtclubs, Varietés, Champagner. Das Leben wurde nicht nur bei den "Kriegsgewinnlern" intensiv gelebt, meint die Autorin, sondern auch in den Tanzlokalen, etwa entlang der Neulerchenfelder Straße in Ottakring. "Die Leute fraßen, soffen und hatten Sex", sagt sie. "Wenn jeder Tag der letzte sein kann, dann lebt man ihn auch."<p>

Gehobenes Amüsement

<p>In der Innenstadt war die erste Anlaufstelle für gehobenes Amüsement die Chatham-Bar. Sie befand sich an der Adresse des Café Hawelka, wo wir bei einer Melange inmitten wartender Touristenscharen unsere Tour beschließen. "Noch bevor Emmerich antworten konnte", heißt es in Beers Buch, "wurde ein kleines Fensterchen geöffnet, durch das zwei wässrig blauen Augen starrten. Einen Moment später schob die Wand sich wie von Geisterhand zur Seite und gab den Blick auf einen in diffuses Licht getauchten Raum frei, der in kleine Separées aufgeteilt war. Kichern, Stöhnen und das Quietschen von Bettfedern ließen keinen Zweifel daran aufkommen, was hier vor sich ging. Lebenslust, um für ein paar süße Momente das graue Elend zu vergessen."<p>Wer allerdings gleichgeschlechtliche "Unzucht" trieb, auf den wartete schwerer Kerker. "Ein blonder Dandy mit zurückgekämmtem Haar, Zwirbelbart und übertriebener Gestik zog seine rechte Augenbraue hoch und musterte die beiden", heißt es über einen, am Piano saß ein anderer und sang zeitgenössische Schlager: "Die Männer sind alle Verbrecher, ihr Herz ist ein finsteres Loch, hat tausend verschied’ne Gemächer, aber lieb, aber lieb sind sie doch."<p>Unweit von hier, am Graben, "gingen Damen in Abendkleidern und Pelzstolas auf und ab, sie hießen Grabennymphen oder Schnepfen", weiß Beer. Im Buch lässt sie Emmerichs Assistenten Winter sagen: "Heutzutage gehen nicht mehr nur die armen, ungebildeten Weiber anschaffen. Auch die feinen müssen langsam lernen, dass das Leben kein Zuckerschlecken ist." Und: "Wenn dir deine Eier lieb sind, dann lass dich nicht von solchen einlullen. Geh zu den Offiziellen. Die Heimlichen haben nämlich keine Amtsarztpflicht. Sich mit denen zu vergnügen, ist Russisches Roulette spielen."<p>Diese "Nymphen" und "Schnepfen" sind wohl schon zu Zeiten Maria Theresias dort herumgelaufen, trotz Keuschheitskommission. Maler Hieronymus Löschenkohl hat das Treiben, so Beer, 1784 auf der Zeichnung "Der Spaziergang des Abends am Graben oder der Schnepfen-Strich" festgehalten, und 1789 erschien das "Taschenbuch für Grabennymphen" von Jospeh Richter. Inseriert wurde damals schon in der Zeitung, Massagen wurden angeboten. "Es gab ja keinen Rückzugsort", sagt Beer. "In den Wohnungen lebten auf einem Zimmer bis zu 12 Leute".<p>Wer dort keinen Platz hatte, der schlief im Obdachlosenasyl - oder ging hinunter in die Kanalisation.

Manfred Rebhandl, geb. 1966 in Roßleithen/OÖ, lebt in Wien. Er schreibt Krimis um den Superschnüffler Rock Rockenschaub, die am Wiener Brunnenmarkt spielen, und Reportagen für Zeitungen.