"Später verstieg ich mich zu dem Gedanken, hier, und nur hier könne man die kosmische Hintergrundstrahlung hören . . .": das Weinhaus Sittl am Wiener Gürtel. - © Polleross
"Später verstieg ich mich zu dem Gedanken, hier, und nur hier könne man die kosmische Hintergrundstrahlung hören . . .": das Weinhaus Sittl am Wiener Gürtel. - © Polleross

Auf den Wiener Gürtel kam ich zuallererst der Sünde wegen. Eine ganze Kindheit lang wurde mir in der Kirche die Sünde schmackhaft gemacht, sie erschien mir schließlich so attraktiv, dass ich lieber in der Hölle schmoren wollte als eine ganze Ewigkeit lang im Himmel langweilige Gesänge mit ebenso langweiligen Engeln zu singen, die ich mir in etwa so vorstellte wie die Biedermänner und -frauen in den Kirchenbänken vor, hinter und neben mir.

Sündigste Meile


Der Gürtel war weithin bekannt als sündigste Meile von Wien, ja von ganz Österreich, wo, wenn nicht hier, musste ich fündig werden. Tatsächlich stöckelte hier die Sünde in vielfacher Ausführung und in unzweifelhaft sündigem Aufzug gemächlich über das sündige Pflaster. Nach aufgeregter Annäherung entpuppte sie sich jedoch als herbe, ja niederschmetternde Enttäuschung.

Entweder stellte sie sich als sehr einfaches Mädchen mit breitem Slang und billigstem Parfüm heraus, sodass die Sünde auf der Stelle von ihm abfiel und direkt durch das sündige Pflaster hindurch in die Hölle verschwand oder ich ließ mich in ein Gespräch mit der Sünde verwickeln, in dessen Verlauf die traurige Geschichte hinter der Sünde auftauchte, Drogen, Gewalt, Migration, Armut, und die Sünde verwandelte sich in einen gefallenen Engel, der mein Mitgefühl erweckte.

So stand ich dummerweise höchst tugendhaft auf der sündigsten Meile von Wien und wusste nicht wohin. Ich brauchte dringend einen Zufluchtsort, wo ich das Erlebte verarbeiten, sprich vertrinken konnte, und so entdeckte ich die fremde Welt der sogenannten Gastarbeiter, die sich hier in einer Fülle von Balkan-Lokalen manifestierte. Anfangs wurde ich ein wenig skeptisch beäugt, wenn ich als einziger Inländer, als der ich hier flugs zum Ausländer mutierte, an der Schank stand. Doch mit der Zeit kam man ins Gespräch, radebrechte sich durch ein paar Geschichten, stieß die Gläser zusammen und verbrüderte sich schließlich in einer gemeinsamen Schnapsrunde.

So gewöhnte ich mir eine gewisse Regelmäßigkeit meiner Ausflüge in diese Welt an, in deren Mittelpunkt zunehmend die Musik stand. Ich kannte und bewunderte die Musik von Béla Bartók, eine Kunstmusik, oft basierend auf den Volksmusiken Ungarns und des Balkans, die ich hier erstmals ungeschminkt in ihrer Urform erleben konnte. Hier wurden oft Feste gefeiert, Geburtstage, Hochzeiten, Begräbnisse, bei denen meist aberwitzige Kapellen aufspielten, die in mir einen begeisterten Zuhörer fanden, die dies aber gar nicht verstehen konnten, weil diese Musik für sie doch völlig selbstverständlich war.

Am Ende war ich meist in ein Trinkgelage verwickelt, bei dem man sich gegenseitig einlud und hochlizitierte, was die Brieftasche wegen der Größe der Runden oft ähnlich belastete, als hätte ich mein Geld draußen mit den Schönen der Nacht verprasst. Die sogenannten Szene-Lokale verließ ich damals oft nach Stunden, ohne ein einziges Wort gewechselt zu haben, die New-Wave-Generation wollte cool und unnahbar erscheinen, hier aber war das pralle Leben und stieß mich nicht von seiner Seite, dafür bin ich noch heute dankbar.

Summen & Sirren


Irgendwann verschlug es mich dann auch ins nahe Weinhaus Sittl, hier hauste das Altwiener Leben, still und kaputt. Kaum hatte ich die Tür hinter mir zugemacht, nahm ich eine Art Summen oder Sirren wahr, ganz leise, aber doch vernehmbar, so als läge hier eine Art Antimusik in der Luft, so wie es Antimaterie gibt, von der ich schon gehört hatte.

Mag sein, dass es eine ganz profane Ursache in Form eines irgendwo versteckt laufenden Fernsehapparats gab, mag sein, dass es in meinem Kopf war, sozusagen als Widerhall des draußen tobenden Straßenlärms und nur für mich wahrnehmbar. Später verstieg ich mich zu dem Gedanken, hier, und nur hier könne man die kosmische Hintergrundstrahlung hören, ein Phänomen, das mich schon lange faszinierte und das ich mir als eine Art von Passepartout vorstellte, auf dem das Universum stattfindet.

Der Raum hatte etwas Sakrales an sich, ein paar verwahrloste Männer lungerten an der Theke und schwiegen, nur hin und wieder erhob sich eine raue Stimme wie zum Gebet, um um ein weiteres Glas des Göttertranks zu bitten, um einen weiteren Schritt in Richtung Nirwana. Nur einmal erlebte ich in diesen Tagen Lärm und Aufruhr im Sittl. Es war kurz vor Weihnachten, also in einer Zeit, in der Trinker unruhig werden, da einer, womöglich sogar mehrere Ruhetage bevorstehen.

Christbaum-Fight


Wahrscheinlich aus diesem Grund war das Lokal schon am Nachmittag gut gefüllt, man hatte für die freie Zeit vorzuarbeiten, da stürzte eine nicht mehr ganz nüchterne Dame mittleren Alters durch die Tür und bestellte lautstark ein Viertel Wein. Ihre sündige Vergangenheit war ihr deutlich anzumerken, in der Hand hielt sie einen offenbar soeben erstandenen Christbaum, den sie jetzt, da sie den ersten Schluck genommen hatte, mit einem Seufzer der Erleichterung neben sich stellte.

Ein paar Minuten später, bei Einbruch der Dämmerung, in einem Moment also, da im Sittl eine Art von blauer Stunde von besonderer Innerlichkeit einsetzt, platzte eine weitere Dame herein, mit der es sich ganz ähnlich verhielt wie mit der ersten, auch sie hatte, nebst einer Fülle von Paketen, einen Christbaum bei sich und ließ ihre ganze Last sofort mit großem Trara auf den Boden fallen. Die beiden waren offenbar verabredet, schienen sich auch gut zu verstehen, unterhielten sich aber in einer Lautstärke, die ich in diesem Haus für absolut unangemessen hielt.