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New Age und alte Weisheiten

Von Günter Spreitzhofer

Reflexionen

Die Beatles waren hier, Donovan auch und Mike Love von den Beach Boys . . . Die selbsternannte Yoga-Welthauptstadt Rishikesh zehrt von ihrem Hippie-Image ebenso wie von ihrem spirituellen Erbe.


Das Rückgrat des Tourismus in Rishikesh bilden kleine Yogaschulen wie diese.
© Spreitzhofer

Helga ist begeistert. Gestern noch im Büro in Hernals, heute schon Dreadlocks im Haar und Crocs am Bein. Bloß 20 Euro haben die acht Kilometer vom Busbahnhof bis zur Hängebrücke Lakshman Jhula gekostet, mit einer Vikram, einem gecharterten Sammeltaxi in Gestalt einer Riesen-Autorikscha. Und morgen beginnt der einwöchige Astrologie-Grundkurs mit Handlese-Ausbildung, gleich neben der German Bakery, wo die Zimtschnecken so gut sein sollen. Hat ihre Freundin gesagt.

In Rishikesh leben rund 75.000 Menschen. Nicht alle steuern Vikrams, aber das Taxifahren zahlt sich aus, obwohl Inder nur ein paar Cents für die Strecke zahlen, die den Touristen 20 Euro kostet. Zu Pilgerzeiten ist der Andrang groß, doch Zählen ist nicht einfach, denn viele sind bloß auf der Durchreise und lagern überall. Sadhus, die heiligen Männer Indiens, rauchen allerlei Gras unter den Balkonen schäbiger Apartment-Blocks, wenn im Sommer die Monsunregen prasseln. Sonst übrigens auch meistens. Doch nicht jeder vermeintliche Sadhu ist ein wahrhaftiger, nur weil er Orange trägt.

Am heiligen Fluss

Die Stadt liegt am heiligen Fluss Ganges an der Südflanke des nordindischen Himalaya: Benannt wurde der alte Pilgerort des Hinduismus nach Hrishikesha, einem Beinamen Vishnus. Das Wort bedeutet "Meister der Sinne" - oder eben Gott Vishnu.

Zur Verwaltungsregion Rishikesh werden fünf lose miteinander verbundene Gebiete gezählt: Siedlungen an beiden Seiten des Flusses. Diese Gebiete beinhalten Rishikesh selbst mit seinen Geschäften und Gebäuden der öffentlichen Verwaltung, den Vorort Muni-Ki-Reti oder "Sands of the Sages", Shivananda Nagar, die Heimat des Shivananda Ashrams und der "Divine Live Society" nördlich von Rishikesh, die Tempelregion von Lakshman Jhula ein wenig weiter nördlich, sowie weitere Ashrams am östlichen Ufer des Ganges.

Rishikesh, das "Tor zum Himalaya" rund 250 km nördlich von Delhi, hat jedenfalls lange Tradition und gilt als Heimstätte des 120 Jahre alten Kailas Ashram Brahmavidyapeetham. In dieser Mediations- und Übungsstätte soll Swami Sivananda - einer der Pioniere des modernen Yoga - Vedische Traditionen studiert und an seinen Schüler Andre van Lysebeth weitergegeben haben. Diese sogenannte Rishikesh-Reihe wurde zur Grundlage für viele Hatha-Yoga-Richtungen, unter anderem auch für die Yoga-Vidya-Reihe, auf deren Grundlage alleine in Deutschland alljährlich hunderte Yoga-Lehrer ausgebildet werden.

Das Städtchen liegt dort, wo der Ganges die letzten grünen Schluchten am Fuß des Himalaya verlässt und sich seinen Weg durch die nordindischen Tiefebenen zu bahnen beginnt. Seit Jahrhunderten strömen Pilger genau hier nordwärts, hinauf zu den Quellflüssen des heiligen Flusses. Zigtausende klettern alljährlich zu den Tempelanlagen von Kedarnath, Badrinath, Yamunotri oder Gomukh, wo Gletscher die ersten Wasser des Ganges freigeben. Ein wenig Meditieren davor in Rishikesh soll jedenfalls näher zur Moksha, zur Erlösung, führen. Angeblich. Dazu ein Bad im heiligen Fluss, der hier noch grün und eisig ist und so schnell fließt, dass sich auch mit Rafting reichlich Rupien machen lassen.

Floßtouren sind erst seit ein paar Jahren ein Renner, viele Sandbänke stromaufwärts längst mit Fixzelten reserviert. Trekkingtouren gibt es schon länger. Und längst haben auch indische Abenteurer das neue Outdoor-Dorado hinter der Stadt entdeckt, mit White Water Rafting, Cliff Jumping und Kayaking. Auch Bungee wird angeboten, für alle, die das nach einem gebratenen Reis zum Frühstück noch verdauen können.

"Happy Rishikesh" lebt

In früheren Jahren waren eher andere da, die ausgiebig geblieben sind. Der "Happy Rishikesh Song" und andere Beatles-Hits des "White Album" lockten seit den 1960ern Hippies in Scharen an.

Die Freaks von heute haben sich ethisch korrekt im "Free Tibet"-Shop eingekleidet und machen nordindische Kochkurse im Ganga Beach Restaurant. Oder sie spielen ein bisschen Sitar auf den Flachdächern des morbiden Bombay Guest House, wo 1968 schon ihre Hippie-Opas gewohnt haben könnten. Bloß gab es damals gerade noch zwei andere Unterkünfte. Heute speist man Holzofenpizza und Crêpes oder wartet im Little Buddha Rooftop Cafe auf seinen Tatoo-Termin. Das kann dauern.

Spätestens nach dem monatelangen Aufenthalt von John Lennon und Freunden im klostergleichen Ashram von Maharishi Mahesh Yogi ist Rishikesh zum Mekka für europäische Sinnsucher und Spiritualistinnen geworden. Die legendäre Anlage ist heute eine überwucherte Ruine am Südende von Swarg Ashram, dem Stadtteil mit den meisten Ashrams drüben am linken Gangesufer. Diese ist über eine Hängebrücke erreichbar, die gerade breit genug ist für ein Fahrrad, eine kleine Kuh und zwei bis drei ihrer Fladen.

Ein paar Kilometer stromaufwärts ist es nicht anders: Die Lakshman Jhula Brücke liegt gleich bei den Märchentempeln von Swarg Niwas und Shri Trayanbakshwar, den Wahrzeichen der Stadt, wo sich die Traveller der ersten Stunde ein Stelldichein gaben. Angeblich hat Lakshmana, der kleine Bruder des mythischen Rama, hier den Fluss auf einer Jute-Seil-Brücke überwunden. Er würde staunen, welche Preise die Shiva-Büsten in den Souvenirbuden am Brückenende heute erzielen, gemeinsam mit Gebetsmühlen und winzigen Hanumans (Affengöttern) aus Blech.

An den Flussufern dazwischen haben sich in wackeligen Bretterbuden allerlei Yoga-Meister eingenistet, die zwar nicht wirklich alle Yoga-Meister sind, aber zumindest farbenprächtige Flyer verteilen: Lach-Yoga am Dach, Gong-Meditation am Boden oder Kristall-Heilung auf der Matte. Je prächtiger der Bart, desto größer ist wohl die Weisheit des allwissenden Gurus. Ausbildung und imposante Titel haben sie alle, nicht anders als westliche Coaches und Lebensberater, die sich der gleichen Zielgruppe widmen: Entschleunigen und Entfetten, innere und äußere Reinigung, gute Kräfte gegen böses Karma.

Entschlacken geht hier nebenbei, denn Alkohol ist zumeist tabu, genau wie Fleisch. Seelische Harmonie ist angesagt, die Balance mit dem eigenen Körper, der am besten mit möglichst vielen bunten Ketten behängt werden sollte, wenn man sich so umsieht. (Touristen sind nämlich nur die anderen.)

Kraftschwingungen

"Rishis sind die großen Weisen. Und so ist Rishikesh der Ort, wo diese Schwingungen, diese spirituellen Kraftschwingungen da sind. Rishikesh gehört sicherlich zu den machtvollsten spirituellen Kraftorten auf der ganzen Welt, deshalb haben sich dort seit Jahrtausenden immer wieder Menschen niedergelassen, die spirituell praktizieren wollten, die Gott erfahren wollten, Gott verwirklichen wollten", lässt Sukadev Volker Bretz, Gründer und spiritueller Leiter von Yoga Vidya, in seinen Video-Botschaften wissen.

Szenenwechsel. Vinod Kumar Gupta forscht im Kultusministerium in Neu Delhi seit 2006 in alten Schriften nach Yoga-Übungen, um sie dann auf Video festzuhalten. 900 Yogastellungen (Asanas) sind bisher archiviert, es gibt allerdings mehrere Zehntausend. Die Traditional Knowledge Digital Library hat als Datenbank für jahrtausendealtes medizinisches Wissen bereits erfolgreich Argumente für Prozesse gegen Pharmahersteller geliefert, die sich Heilpflanzen patentieren lassen wollten. So will Gupta auch gegen Yoga-Patente vorgehen.

Seriöse, dem Kerngedanken des Yoga verpflichtete Lehrende hat er auf seiner Seite. Jan Sonntag, Lehrer und Musiktherapeut in Hamburg, zieht einen drastischen Vergleich: "Yoga-Übungen patentieren zu lassen, ist so absurd wie ein Patent auf das Vaterunser. Ein jahrtausendealtes Gemeingut wird aus ökonomischen Gründen von einem Einzelnen vereinnahmt."

Die Aussagen der Quelltexte des Yoga sind im Hinblick auf Gewinnstreben unmissverständlich: "Wer in Pflichterfüllung handelt, ohne auf den Lohn zu achten, den nennt jeder einen Yogi." So steht es etwa in der Bhagavad Gita, einer 2000 Jahre alten Überlieferung hinduistischen Ursprungs, die zu den wesentlichen spirituellen Grundlagen des Yoga zählt. Zugleich finden immer mehr Yogis elegante Lösungen, um Erfolg und Lehre in Einklang zu bringen.

Ein bisschen Räuchern

Also: Erhaben denken, Askese üben? Der Welt entsagen, Verwirklichung um jeden Preis? Doch mit ein bisschen Räuchern, Einölen und Summen sind viele Gäste ohnedies zufrieden. Der Lohn für eine einzige "Behandlung" reicht vielen indischen Großmeistern - auch der Yoga-Unterliga - für ein paar Wochen zum Leben, bis man sich wieder nach Neuankömmlingen umsehen muss: Zum Flughafen Delhi sind es bloß sechs bis acht Stunden, und nicht wenige Esoteriker und Esoterikerinnen kommen von dort gleich per Taxi in das nordindische Yoga- und Adventure-Ghetto, ohne die indische Hauptstadt je zu betreten. Good Price, was sonst.

Äther, Luft, Wasser, Erde und Feuer sind die Elemente. Vata, Pitta und Kapha sind Persönlichkeitsmerkmale, die in der Philosophie der Veden bedeutsam sind. Dann gibt es noch die drei Gunas, also die Temperamente Ramas, Rajas und Sattva. Alles lässt sich hervorragend miteinander vermengen. Alles klar? "Ihr müsst nichts verstehen, nur fühlen", sagt Mister Rasgupta, Yogalehrer in der Himalayan Yoga Academy, die längst Packages für Wellness und Wohlfühlen anbietet: Yogagrundkurs und Rafting und Sitarkonzert, WIFI inklusive. Das ist eigentlich Standard überall hier. Wer Yogalehrer werden will, braucht übrigens mindestens 200 Stunden Training. Und das ließe sich hier gar nicht übel aushalten.

Rishikesh ist recht klein und beschaulich geblieben. New Age auf behaglich. Und Helga fühlt sich gut, obwohl sie nicht viel versteht. Aber darauf kommt es nicht an, Mister Rasgupta hat Recht - und bald genug hat er auch Geld für seine eigene Vikram.

Günter Spreitzhofer, geb. 1966, ist Lektor am Institut für Geographie und
Regionalforschung der Universität Wien; Arbeitschwerpunkte:
(Südost)Asien; Tourismus, Urbanisierung & soziokulturelle
Transformation.