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Zauderer aus Gewissenhaftigkeit

Von Brigitte Biwald

Reflexionen
Das Ludwig-Türck-Denkmal auf dem AKH-Areal.
© Wikimedia commons

Vor 150 Jahren starb der Wiener Primarzt Ludwig Türck. Mit der Erfindung des Kehlkopfspiegels leistete er Vorarbeit für das neue Spezialfach Laryngologie.


"Herr Türck kam eben immer zu spät." Diese Feststellung seines Rivalen Johann Nepomuk Czermak (1828-1873) kennzeichnet das ganze Forscherleben Ludwig Türcks. Bei seinen bahnbrechenden Entdeckungen auf dem Gebiet der Neurologie kam der "Zauderer aus Gewissenhaftigkeit" mit seinen Veröffentlichungen manchmal um einige Tage zu spät. Den wissenschaftlichen Ruhm heimsten andere ein. Im Areal des AKH in Wien im Bereich der sogenannten Neuen Kliniken steht das Denkmal, das an Ludwig Türck erinnert.

Ludwig Türck wurde am 22. Juli des Jahres 1810 in Wien geboren. Er studierte Medizin im vormärzlichen Polizeistaat und schloss sein Studium am 27. Fe-bruar 1837 an der Wiener Universität ab. Anschließend unternahm er eine Studienreise nach Paris, um sein Wissen auf dem Gebiet der Neuropathologie zu erweitern. 1837 trat Türck als Sekundararzt ins Wiener Allgemeine Krankenhaus ein. Dieses entstand durch die Umgestaltung des Wiener Großarmenhauses in ein Groß-spital, das 1784 von Joseph II. als Hauptspital und als Allgemeines Krankenhaus unter der Direktion des Mediziners Joseph Quarin (1733-1814) mit vier medizinischen und zwei chirurgischen Abteilungen eröffnet worden war.

1848 bestanden bereits sieben medizinische und drei chirurgische Abteilungen, eine chirurgische Ambulanz, eine Augenkrankenabteilung, acht Kliniken, die Gebär- und Irrenanstalt, das Findelhaus, das Ammen- und Impfinstitut, die pathologische Anstalt und das pathologisch-chemische Labor.

Das Krankenhauszwischen den Fronten

Dreizehn Primarärzte führten die Stationen, unterstützt von 29Sekundarärzten, die rund 3000 Patienten betreuten. Ludwig Türck wurde als junger Sekundararzt mit allerlei Missständen konfrontiert. Dabei war die Verantwortung groß: Wundärzte, Praktikanten, schlecht bezahlte, mitunter betrügerische Pflegerinnen und Pfleger, "Wärtersleute" genannt, und das subalterne Personal musste der junge Sekundararzt zur genauesten Pflichterfüllung anhalten und eventuelle Verstöße dem Primarius melden. Dazu kamen anstrengende Nachtdienste, Krankenrapporte und Journaldienste im Aufnahmezimmer des Krankenhauses. Überfüllte Krankensäle mit 45 Betten, in denen Patienten in unterschiedlichsten Erkrankungsstadien lagen, bereiteten ständig Probleme.

Als Sekundararzt verdiente Türck täglich 40 Kreuzer, was damals in etwa der Entlohnung eines Hausknechts entsprach und kaum das tägliche Überleben sicherte. Ein weiteres Übel war die schlechte Spitalskost. "Wärtersleute" betrieben illegalen Verkauf von Genuss- und Grundnahrungsmitteln und schafften sich damit einen Zusatzverdienst. So entstanden Abhängigkeiten zwischen "Wärtern" und Patienten. Ludwig Türck konnte aber keine kons-truktive Kritik anbringen, da sogleich die Macht der Krankenhausdirektion zu spüren war.

Als besonders empfehlenswert für die Karriere jedes Sekundararztes galt, ". . . durch Verfassung guter Krankengeschichten seinen Primararzt (. . .) zu unterstützen, das pathologische Museum mit wichtigen Präparaten zu bereichern und mit seinen Kenntnissen (. . .) zum wissenschaftlichen Ruhme des Krankenhauses (. . .) etwas beizutragen". Und genau das gelang dem strebsamen Sekundararzt Ludwig Türck.

Während er seinen Dienst verrichtete, geriet das Allgemeine Krankenhaus im Revolutionsjahr zwischen alle Fronten. Chaotische Zustände auf den Straßen Wiens, andauernde Kampfhandlungen, Brände, Unfälle und Zerstörungen führten zu einem Anstieg an Verwundeten. Die arbeitsintensivste Zeit war im Oktober 1848 gekommen. Personal und Patienten litten unter dem tagelangen Kanonendonner und den Bränden. Ein Verwundetentransport nach dem anderen traf ein, Notoperationen wurden vorgenommen. Insbesondere am 28. Oktober flogen Geschosse und Brandraketen über das Krankenhaus. Eine Granate verfehlte einen Krankensaal, in dem 45 Verwundete lagen, nur knapp.

Im Laufe der Jahre wendete sich das Blatt: Aus dem Hilfsarzt wurde eine Kapazität. Ludwig Türck profitierte von der Aufbruchsstimmung der Medizin in Wien. Zusammen mit Josef Skoda (1805-1881), Ferdinand Hebra (1816-1880), Carl von Rokitansky (1804-1878), Franz Schuh (1804-1865) oder Josef Hyrtl (1810-1894) gehörte er zu den anerkannten Repräsentanten der Zweiten Wiener Medizinischen Schule.

Diese Ärzte leiteten eine neue medizinische Ära, einen Paradigmenwechsel ein, der die naturphilosophisch ausgerichtete Medizin hin zu einer modernen, naturwissenschaftlich orientierten Medizin führte. Es entstanden neue Diagnose- und Therapiemöglichkeiten. Allerdings hatte zu dieser Zeit die Wiener Medizinische Schule wenig zur Förderung der sich langsam entwickelnden Neurologie und Neuropathologie beigetragen.

Fern vomRevolutionsgeschehen

Da lenkte 1843 Ludwig Türck mit seiner "Abhandlung über Spinalirritation" - den Reizzustand des Rückenmarkes - die allgemeine medizinische Aufmerksamkeit auf dieses Gebiet. Nachdem er 1846 die neu geschaffene Abteilung für Nervenkrankheiten übernommen hatte, fand er ein reiches Feld für seine Forschungstätigkeit.

Es folgten zahlreiche Veröffentlichungen und weitere Arbeiten über den Verlauf der Nervenstränge und Nervenbahnen im Rückenmark und Gehirn. 1864 wurde Ludwig Türck außerordentlicher Professor. Nach seinem Tod wurde die Abteilung für Nervenkranke wieder geschlossen, nur das Ambulatorium, das später in die psychiatrische Klinik eingegliedert wurde, blieb bestehen.

Ludwig Türck war im Revolutionsjahr 1848 bereits 38 Jahre alt. Während die jungen Ärzte zusammen mit Studenten demonstrierten, petitionierten, debattierten, barrikadierten, Reden hielten und Flugblätter entwarfen, hielt sich Ludwig Türck vom Revolutionsgeschehen fern. Damit befand er sich nicht auf einer Linie mit seinen Kollegen, den bekannten und äußerst zeitkritischen Medizinern Hebra, Rokitansky, Hyrtl oder Semmelweis. Insbesondere Türcks Rivale aus Prag, Johann Nepomuk Czermak, damals noch Student und Mitglied der Wiener Burschenschaft Arminia, war aktiv am Revolutionsgeschehen beteiligt. Diese Berühmtheiten der Zweiten Wiener Medizinischen Schule befanden sich übrigens nicht im "Grundbuch politisch bedenklicher Personen" und auch nicht in den Geheimpolizeiakten. Die Polizeihofstelle attestierte Hebra und Rokitansky sogar eine "politisch unbedenkliche Haltung", obwohl die beiden Ärzte ihre politische Einstellung in ihren Unterricht einfließen ließen.

"Türckenkrieg"zweier Forscher

Dem spanischen Gesangslehrer Manuel García gelang 1854, was seit Beginn des Jahrhunderts viele Forscher vergeblich versucht hatten: mit einem kleinen Spiegel das Innere des menschlichen Kehlkopfs direkt zu beobachten. Ohne von der Erfindung Garcías zu wissen, experimentierte Türck im Sommer 1857 mit selbst konstruierten Spiegelchen an Patienten. Als Lichtquelle verwendete er das Sonnenlicht. Mit Beginn des Winters musste er seine Versuche aus Mangel an ebenjenem unterbrechen. Im Herbst überließ er dem Physiologen Johann N. Czermak einen Spiegel für weitere Untersuchungen. Am 27. März 1858 publizierte Czermak, ohne Türck informiert zu haben, seine Beobachtungen, die er den Winter über an seinem eigenen Kehlkopf mit künstlicher Beleuchtung gemacht hatte.

In einer denkwürdigen Sitzung der Gesellschaft der Ärzte am 9. April 1858 versuchte Türck sich die Priorität der Erfindung zu sichern. Der "Türckenkrieg" hatte begonnen. Am 14. April erkannte Czermak die Leistung von Türck zwar an, in späteren Publikationen zog er diese Anerkennung jedoch wieder zurück.

Der heftige Streit der beiden Forscher war aber für die Entwicklung der neuen Wissenschaft, der Laryngologie, höchst nützlich. Die gesamte medizinische Welt verfolgte und kommentierte die Auseinandersetzung. Das neue Fach blühte in kurzer Zeit auf. Johann N. Czermak, technisch geschickt und redegewandt, eroberte mit Vortragsreisen durch Europa eine große Anzahl begeisterter Schüler. Während er die Türcksche Erfindung vor allem technisch bereicherte - er verwendete die künstliche Beleuchtung und den durchbohrten Konkavspiegel -, sammelte Türck in jahrelanger Arbeit die klinisch-pathologischen Befunde an den nun einsehbaren Organen.

Voraussetzungen für ein neues Spezialfach

1866 erschien von Türck das Lehrbuch "Klinik der Krankheiten des Kehlkopfes und der Luftröhre", das zum Standardwerk des neuen Fachgebietes wurde. Zwei Jahre später starb Türck, am 25. Februar 1868. Einer seiner Schüler, Karl Stoerk, trug dann wesentlich zur praktischen Anwendung des Kehlkopfspiegels bei. Es gelang ihm bald, unter Sicht Medikamente in den Kehlkopf einzuführen, und er wagte als erster einen laryngoskopischen Eingriff am Kehlkopf. Mit einer speziell konstruierten Zange verätzte er ein syphilitisches Geschwür bei einer Patientin. Ein bis dahin bestehendes Dogma der Medizin, das jede Manipulation am Kehlkopf untersagte, war durchbrochen.

Mit der Erfindung des Kehlkopfspiegels hatte Türck die Voraussetzung für das neue Spezialfach Laryngologie geschaffen. 1870 gründete die Fakultät die Klinik für Laryngologie, die erste der Welt. Ihr erster Leiter wurde der Skoda- und Türck-Schüler Leopold Schrötter von Kristelli. Dieser entwickelte die Dilatationsbehandlung von Verengungen des Kehlkopfes und ersparte damit einer Menge Patienten den Kehlkopfschnitt.

Literatur:
Kathrine E. Kogler, ". . . die Heilärzte des kranken Staates." Die Beteiligung von Medizinern an der Revolution 1848 in Wien. Verlagshaus der Ärzte, Wien 2012.

Brigitte Biwald, geboren 1951, ist Historikerin und in der Erwachsenenbildung tätig, Schwerpunkt Medizingeschichte. Veröffentlichungen über die Revolution 1848 (1996) und über das Sanitätswesen im Ersten Weltkrieg (2003). Lebt in Perchtoldsdorf.