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Napoleon, der Sonnengott

Von Alfred Plischnack

Reflexionen

Der Napoleon-Kult ist in seiner mythisch-christlichen Dimension einzigartig. - Ein paar unernste Betrachtungen zur Apotheose dieses Staatsmanns.


Napoleons Auferstehung (Jean-Pierre-Marie Jazet, 1840).
© Musée National Château Malmaison

Derzeit ist ein Verfahren anhängig, ob die Verehrer des "Fliegenden Spaghettimonsters" als Religionsgemeinschaft (wie es in den Niederlanden und Neuseeland bereits erfolgte) anerkannt werden sollen. Der Gründer dieser "Religion", der US-amerikanische Physiker Bobby Henderson, wollte sich dadurch 2005 über den erstarkenden christlichen Fundamentalismus lustig machen.

Sein französischer Kollege, der Physiker und Mathematiker Jean Baptiste Pérès, hat sich bereits 1827 über den damals wieder einsetzenden katholischen Fundamentalismus lustig gemacht und als Persiflage das Gedankenexperiment gewagt, dass Napoleon nur ein Mythos und in Wirklichkeit eine Sonnengottheit gewesen sei (J. B. Pérès: "Grand erratum, source d’un nombre infini d’errata, à noter dans l’histoire du XIXe siècle"; "Großer Irrtum, Quelle einer unendlichen Anzahl weiterer, in der Geschichte des 19. Jahrhunderts festzustellender Irrtümer").

Aus gegebenem Anlass scheint es reizvoll, sich wieder - nicht ganz ernst gemeint und aus heutiger Sicht - mit der Napoleonlegende zu befassen und sich auf die Suche nach Zeichen für seine "Göttlichkeit" zu begeben.

In der Offenbarung des Johannes (9, 11) heißt es: "Und hatten über sich einen König, den Engel des Abgrunds, des Name heißt auf Hebräisch Abaddon, und auf Griechisch hat er den Namen Apollyon." (Das griechische Partizip von apoléo kann mit der Zerstörende, Vernichtende übersetzt werden.) Ein Zusammenhang mit dem griechischen Gott Apollon, der schon in frühchristlicher Zeit für diesen "Apollyon" gehalten wurde, drängt sich auf. In seiner ursprünglichen Gestalt war dieser Gott auch der Todesbringer und wurde erst gegen Ende des 5. Jh. v. Chr. unter dem Beinamen Phöbus mit dem Sonnengott Helios gleichgesetzt.

Weiters stellt "ne" oder "nai" im Griechischen eine Bekräftigung im Sinne von "wirklich, wahrhaftig" dar. Der Name Napoleon bzw. Neapolio (wie die Inschrift an der Vendômesäule in Paris lautet) bedeutet also nichts anderes als eine Bekräftigung des Gottes Apollo ("wirklicher, wahrer Vernichter"). Angesichts der von Napoleon verursachten Verluste an Menschenleben ist das wohl keineswegs untertrieben.

Nächste Spur: der Lorbeer. Die Pflanze ist dem Gott Apollo zugeordnet. Ein Kranz aus ihren Blättern ist auch bei vielen Darstellungen Napoleons auf dessen Haupt zu sehen. Eine weitere Übereinstimmung besteht darin, dass Napoleon wie Apollon von Inseln her kamen und ihre Mütter die Namen Lätitia bzw. Leto (lat. Latona) hatten. Auch deren Niederkunft auf der Flucht (Leto floh vor Junos Eifersucht auf die Insel Delos, Laetitia floh vor den Franzosen in die Berge Kosikas) zeigt klare Parallelen. Für den russischen Napoleonbiographen Dmitri Mereschkowsky stand somit fest: "Napoleon ist die letzte Verkörperung des Sonnengottes Apollo".

Im Napoleonmythos zeigt sich überdies ein deutlicher Einfluss des Manichäismus bzw. der aus Persien stammenden dualistischen Lehre Zarathustras, welche damals in Europa in Mode kam: Gut und Böse, Licht und Dunkel, (Sonnen-) Auf- und Untergang, Anfang und Ende in einem Wesen vereint: das ist N(e)apoleo (wahrer Zerstörer = schlechter Teil) und Bona-parte (guter Teil). - "Das wahrhaftig zerstörende Gute" wäre also die korrekte Übersetzung dieses Namens; oder, mit Goethes Mephisto gesprochen: "Ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft." Ein freudianischer Psychologe würde dies (in Zeiten eines Donald Trump durchaus treffend) mit der These übersetzen, wonach gesellschaftlich anerkanntes narzisstisches Macht- und Luststreben des Ich eigentlich die sublimierte bzw. verdrängte Sexualität des Es darstellt.

Hier, im Schloss Malmaison (schlechtes Haus) verbrachte Napoleon 1815 seine letzten Tage in Frankreich...
© creative commons

Vermag es da noch zu verwundern, dass der angebliche Herrscher Napoleon 1815 seine letzten Tage in Frankreich ausgerechnet im Schloss Malmaison (schlechtes Haus, Haus des Übels) verbrachte, nachdem er zuvor im Elyséepalast (das Elysium ist in der griechischen Mythologie das Gefilde der Seligen) abgestiegen sein soll?

Auch an die eindeutige, eine menschliche Existenz Napoleons klar verneinende Aussage des tatsächlich nachweisbaren Erzherzog Karl sei hier erinnert: "Bonaparte war seinen Zeitgenossen, was unseren Voreltern der Teufel und allen Völkern das böse Grundwesen: das Außerordentliche in Kraft, Geist und Verruchtheit."

Neuer Konstantin?

Beachtenswert scheint ferner eine Parallele zum römischen Kaiser Konstantin (285-331 n. Chr.). Dieser beendete die Christenverfolgungen, nahm das Christentum an und machte die katholische Kirche zur Staatskirche. Napoleon wurde von seinen Huldigern auch als "zweiter Constantin" gepriesen, als er, nach dem Atheismus der Revolution, wieder das christliche Staatskirchentum einführte. Dabei fällt auf, dass (Zufall?) sein Kammerdiener Constant hieß und auch der (angebliche) Todesort Napoleons offensichtlich eine Parallele zur Mutter Konstantins darstellt: Die Insel Sankt Helena ist tatsächlich nach der heiligen Helena, der Mutter des ersten christlichen Kaisers, benannt.

Das angebliche Geburtsdatum Napoleons ausgerechnet am 15. August (im Sternzeichen des Löwen) - also (natürlich) mit der Sonne als bestimmendem Stern - dürfte auf die in alten Religionen übliche Praxis zurückzuführen sein, bestehende große Festtage (hier das am 15. August gefeierte Fest der Göttin Isis bzw. später das Fest Maria Himmelfahrt) mit neuer Sinngebung weiter zu belassen.

Auch ist ein derartiger "Himmelfahrtstag" durchaus mit antiken Kulten in Einklang zu bringen, welche diesen Inthronisations- und Himmelfahrtsmythos im Zusammenhang mit der - am Himmel aufsteigenden - Sonne begehen. Bemerkenswert ist ferner der Umstand, dass die Insel St. Helena in unmittelbarer Nachbarschaft der Himmelfahrtsinsel liegt.

Schon bei den alten Völkern war der Zeitpunkt, an dem die Tage wieder länger werden, ein Sonnenfeiertag. Zur Wintersonnenwende (23. bis 25. 12. - so genau waren die alten Beobachtungen nicht) wurden die altrömischen Saturna-lien abgehalten (wo Herr und Sklave die Rollen tauschten - also ein Kammerdiener Konstantin als Kaiser denkbar wäre). Am 25. Dezember wurde das germanische Julfest gefeiert, desgleichen dem spätrömischen Sonnengott Sol invictus, Mithras und dem christlichen Erlösergott Jesus Christus gehuldigt.

Wenn Napoleon also tatsächlich ein Sonnengott war, müsste man auch hier fündig werden - und wird es auch: Sein entscheidender Aufstieg zum Staatsoberhaupt als Erster Konsul erfolgte durch das Plebiszit vom 24. Dezember 1799. Und der Tag seines Fast-Todes oder seiner Wiederauferstehung fällt auf den 24. Dezember 1800, wo er auf dem Weg zur Pariser Oper - er wollte Haydns Oratorium die "Schöpfung (!)" hören - ein Bombenattentat knapp überstand.

Das Ende seines wichtigsten Feldzuges markieren die Friedensverhandlungen in Pressburg 1805: Deren Höhepunkt waren das Schreiben von Kaiser Franz vom 23. 12. und Napoleons Antwort vom 25. 12., dass alle Hindernisse für den Frieden ausgeräumt seien.

Sonnenwende

Wenn die Wintersonnenwende Geburt und Triumph der Sonne bedeutete, wäre es nur folgerichtig, um die Sommersonnenwende Untergang und Niederlage anzusetzen. Auch hier bietet die angebliche Lebensgeschichte Napoleons eine Bestätigung: Am 24. Juni 1812 beginnt der Feldzug gegen Russland (der Anfang vom Ende). Napoleons Herrschaft ist nach der legendären Schlacht von Waterloo endgültig Geschichte - mit der Rückkehr des Helden nach Paris in der Nacht vom 20. auf den 21. Juni 1815 und seiner Abdankung am 22. Juni 1815.

Selbst der bei antiken Gottheiten wie im Christentum gegebene, einen Aspekt der Sonnenverehrung darstellende Mythos der Wiederauferstehung ist in der Napoleonlegende anzutreffen: 300 Tage nach seiner Verbannung auf Elba kommt er wieder für 100 Tage zu Macht und Herrlichkeit. Dies noch dazu an einem 1. März (1815), mit Beginn der Vegetation (als "Père La Violette", Vater Veilchen) - also am Tag des Frühlingsbeginns.

Der Napoleonkult weist auch christliche Bezüge auf: Die angeblichen Marschälle - von denen einer, Marmont, zum Verräter werden sollte - scheinen den christlichen Aposteln (und Judas) zu entsprechen. Kann es da weiters ein bloßer Zufall sein, wenn sich die Abdankung Napoleons ausgerechnet in der Karwoche des Jahres 1814 ereignet und er - wiederauferstanden - genau zum Osterfest des Jahres 1815 zurückkehrt ?

Selbst die Natur scheint den Mythos Napoleon zu befestigen. Ein über acht Monate in ganz Europa sichtbarer Komet, der nach antiken Vorstellungen Unheil über große Herrscher ankündigt, sowie der ab 1812 (Russlandfeldzug) aktive Vulkan Tambora, der 1815 (Waterloo und endgültige Abdankung) ausbricht, bis 1816 die Sonne verdunkelt und die größte Hungersnot im Europa des 19. Jh. verursacht, passen gut zu üblichen religiösen Untermalungen, um den Untergang eines verehrten Menschen oder Gottes dramatisch zu gestalten.

Weltlicher Heiland

In die Anbetungen Napoleons stimmt 1827 auch Heinrich Heine ein: "Sankt Helena ist das heilige Grab, wohin die Völker des Orients und Okzidents wallfahren in buntbewimpelten Schiffen, und ihr Herz stärken durch die große Erinnerung an die Taten des weltlichen Heiland, der gelitten unter Hudson Lowe, wie es geschrieben steht in den Evangelien Las Cases, O’Meara und Antommarchi." ("Ideen. Das Buch Le Grand").

Und im "Glaubensbekenntnis der Liberalen", einer deutschen Flugschrift um 1830, liest man: "Ich glaube fest an das Licht, das uns erleuchtet, an Napoleon, seinen eingeborenen Sohn, der empfangen ist vom Sieg, sitzend zur Rechten des Gottes Mars, getauft vom Ruhm, verschachert und ausgeliefert, niedergefahren zur Insel Elba, wieder auferstanden von den Toten, hochherziger und größer denn je."

Obschon es nicht möglich ist, die Nichtexistenz des Spaghettimonsters nachzuweisen, ergeben die obigen Übereinstimmungen mit anderen Religionen doch klar, dass ein Mensch Napoleon Bonaparte nie existierte, er nur als eine Verkörperung religiöser Vorstellungen bzw. mythologischer Archetypen anzusehen ist oder, wie es sein Zeitgenosse François- René de Chateaubriand formulierte (der in seinen "Mémoires d’outre tombe" die irrationale, verklärende Kaiserverehrung anprangerte): "Napoleon Bonaparte, von dem man so vieles gesagt und geschrieben, hat niemals gelebt! Er ist nichts weiter als ein allegorisches Wesen. Er ist die personifizierte Sonne."

Nachsatz: Die genannten Daten, Zitate und Fakten sind korrekt. Lediglich die Schlussfolgerungen sind einer "erleuchteten Eingebung" geschuldet.

Alfred Plischnack, geboren 1951, Richter i.R., Ausstellungskurator, Verfasser von Büchern und Artikeln über die Epoche 1792–1815.