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Beifallsdonner und Lorbeerkränze

Von Oliver vom Hove

Reflexionen

Er war der Inbegriff des Volksschauspielers und fand seine Paraderollen in Nestroy- und Raimundstücken: Alexander Girardi, "der Komödiant von Wien".


Alexander Girardi, hier 1917, ein Jahr vor seinem Tod.

Er war zu seiner Zeit der bedeutendste Wiener Volksschauspieler. Vor allem auch der beliebteste. Seine Zeit: das war das ausgehende 19. und beginnende 20. Jahrhundert. Der Ruhm des Alexander Girardi sprengte damals alle Grenzen. In der gesamten Donaumonarchie war der Name des Theaterstars in aller Munde. Die Zeitungen breiteten landesweit die Berichte, Anekdoten und Sottisen über den Schauspieler aus. Wenn je das Bühnengeschehen seine Breitenwirkung am unbegrenztesten entfaltet hat, dann war es zu jener Zeit, die Alexander Girardi maßgeblich mitgeprägt hat.

Die starke persönliche Wirkung dieses schmächtigen Mannes auf der Bühne muss so herausragend gewesen, sein, dass die Bereitwilligkeit des Wiener Publikums zur grenzenlosen Mimenhuldigung groteske Ausmaße annahm.

Der "Girardi-Hut"

Im Jahr 1900, zum 50. Geburtstag des am 5. Dezember 1850 in Graz geborenen Bühnenkünstlers, schrieb Hermann Bahr über Girardis Ruhm, "der weit über die Grenzen des Theaters gegangen ist. Man höre heute irgendeinen Soldaten an, der seiner Köchin hofiert, oder man beobachte einen jungen Herrn der sogenannten Gesellschaft: sie intonieren alle wie Girardi, und sie haben alle seine Art, den Kopf vorzustrecken und die Finger zu bewegen. Dass seit zwanzig Jahren jeder Schauspieler, bis in die letzte Provinz, wenn er unwiderstehlich sein will, sogleich, vielleicht ohne es selbst recht zu wissen, die vulgäre und doch geheimnisvoll erregt zitternde Stimme des Girardi und seine unschuldig zynischen Gebärden annimmt, wäre noch das wenigste. Aber es gibt wirklich unter uns, oben oder unten, kaum einen jungen Menschen mehr, der mit einem Mädel anbandeln könnte, ohne ihn unwillkürlich zu kopieren."

Ein Modeschlager wurde der "Girardi-Hut" aus Stroh, den der Darsteller 1893 bei der Uraufführung der Strauss-Operette "Fürstin Ninetta" getragen hatte. In der Spätzeit von Girardis Karriere trugen auch noch seine zahlreichen Schellackplatten zum Ruhm im gesamten deutschen Sprachraum bei.

Als ihn auf dem Höhepunkt seiner Erfolge eine Zeitung fragte, wie man als Schauspieler Karriere machen könne, antwortete Girardi schelmisch: "Das Rezept ist sehr einfach. Man erlerne vorher sieben Jahre das Schlosserhandwerk, werde dessen überdrüssig, gehe nach Rohitsch-Sauerbrunn, nicht zur Kur, sondern der Bühne wegen, ziehe über Krems, Karlsbad, Bad Ischl, Salzburg, Linz direkt nach Wien und wirke dort erfolgreich weiter, wie ihr sehr ergebener Girardi".

Die Karrierebeschreibung entspricht den Tatsachen. Der Sohn eines aus Cortina d‘Ampezzo nach Graz eingewanderten Schlossermeisters sollte zunächst, auf Wunsch der Mutter, das Handwerk des früh verstorbenen Vaters erlernen. Der junge Girardi brachte es unter der Aufsicht des Stiefvaters bis zur Gesellenprüfung. Erste Ausbruchsversuche als Darsteller einer Grazer Laienspielgruppe indes bekräftigten ihn in seinem Entschluss, den Weg zum Theater einzuschlagen.

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Nach seiner Lehr- und Wanderzeit durch die Provinz gelangte er, nicht zuletzt durch Fürsprache des Schriftstellers Leopold von Sacher-Masoch, damals Rezensent der "Salzburger Zeitung", 1871 nach Wien, ans kleine Strampfer-Theater unter der Tuchlauben in der Innenstadt. Die ersten Auftritte Girardis in Wien erwiesen sich als vielversprechend. Bemängelnd wurde nur hie und da die noch etwas derbe Ausdruckskunst des 21-Jährigen.

Gesangskomiker

Sein Triumphzug indes begann ab 1874 am Theater an der Wien. Zunächst sah er sich häufig im Rollenfach des jugendlichen Liebhabers eingesetzt. Bald jedoch wurde diese Bühne, vorwiegend im Genre der Wiener Operette, das Stammhaus für Girardis größte Bühnenerfolge. Seit den 1860er Jahren hatte im Theater an der Wien, unter der Leitung der gefeierten Operettendiva Marie Geistinger und ihres Co-Direktors Maximilian Steiner, die abendfüllende Operette das wienerische Volksstück weitgehend verdrängt.

Girardi brillierte zunächst in Werken des Begründers der Wiener Operette, Franz von Suppé. Dessen "Boccaccio", "Fatinitza" und "Die Afrikareise" bescherten Girardi schöne Erfolge. Maßgeblich für den Durchbruch von Girardis Karriere als Gesangskomiker aber wurde seit 1875 die Zusammenarbeit mit Johann Strauss Sohn, der nach der sehr wienerischen Hochstapler-Operette "Ca-gliostro", in der Girardi den durchtriebenen Gaunergehilfen Blasoni spielte, in nahezu jedes seiner Werke eine wesentliche Rolle für den Künstler hineinschrieb.

Den unerhörten Erfolg seines Gesangswalzers "Nur für Natur" in "Der lustige Krieg" musste sich Girardi gegen den Zweifel des Komponisten geradezu erkämpfen. Stürmisch bejubelt wurde Girardis Gesangskunst vor allem auch beim Lagunenwalzer der Strauss-Operette "Eine Nacht in Venedig": "Girardi sang die herrliche Melodie mit Blut und Seele, und er musste sie unter dem Beifallsdonner des Publikums dreimal zum Vortrag bringen." (Hadamowsky, "Wiener Operette")

"Man muss staunen über den Drang zur Darstellung, die ihm Bedürfnis war und zugleich eine hochgeartete Lust bedeutete." Das schrieb Erhard Buschbeck über Hermann Bahr, aber es könnte auch für Alexander Girardi gelten. Die Ära der "Goldenen Wiener Operette" verdankt Girardi einen Großteil ihres Glanzes. In einer zeitgenössischen Kritik hieß es: "Man ging nicht mehr ins Theater, um ein neues Stück kennenzulernen, sondern um Girardi in einer neuen Rolle zu sehen."

Nach seinem Abschied vom Theater an der Wien 1896 verlief Girardis Karriere unstet. Der Künstler wechselte häufig die Theater. Er spielte nun allzu oft im Genre der allerleichtesten Posse, freilich mit Bravour und durchschlagendem Erfolg. In der Presse häuften sich allerdings Klagen, er hätte durch seinen solistischen Starkult manchem Textdichter die ohnehin oft zu dünne Suppe versalzen. Indes, der Vorwurf, er diene als Zugpferd für mindere Theaterware, fiel auf die Librettisten und Theaterprinzipale zurück.

Psychiatrie-Gutachten

Bitter endete für Girardi zu dieser Zeit seine Ehe mit der Volkstheater-Schauspielerin Helene Odilon. Wenige Monate nach der Heirat im Mai 1893 hatte die leichtlebige Mimin eine Affäre mit dem Bankier Albert Rothschild begonnen. Um für den wohlhabenden Liebhaber frei zu sein, bat sie den Psychiater Julius Wagner-Jauregg, den Geisteszustand ihres vor Eifersucht glühenden Mannes zu untersuchen.

Der berühmte Arzt stellte prompt die Ferndiagnose, dass Girardi "vom Cocainwahn befallen, irrsinnig und gemeingefährlich" sei, und verfügte die Einweisung in eine Irrenanstalt. Girardi, der davon Wind bekommen hatte, wandte sich in seiner Not an die befreundete Kollegin Katharina Schratt und bat sie um Intervention beim Kaiser. Franz Joseph ordnete prompt eine Untersuchung Girardis durch eine ärztliche Kommission unter Vorsitz des Gerichtspsychiaters Hinterstoißer an, die dem Bühnenstar Geistesgesundheit attestierte. Die Ehe mit Helene Odilon wurde 1897 geschieden. Girardi heiratete später die Adoptivtochter des Klavierfabrikanten Bösendorfer und genoss zwanzig glückliche Ehejahre.

Der Kaiser verfügte nach dem Vorfall eine Neuregelung des Entmündigungsverfahrens. Seither ist für die zwangsweise Einweisung einer Person in eine psychiatrische Klinik ein Gerichtsbeschluss nötig.

Alexander Girardi wurde in Wien, in der Nachfolge von Ferdinand Raimund, als "Komiker des Gemüts" geliebt. Im Volksstück fand er als Charakterdarsteller bei Nestroy, aber mehr noch in den "Original-Zaubermärchen" von Raimund seine Paraderollen: den Fortunatus Wurzel im "Bauer als Millionär", den Rappelkopf im "Alpenkönig und Menschenfeind", vor allem aber den Valentin mit seinem Hobellied im "Verschwender".

Sein jüngerer Kollege Alexander Moissi, nach Girardis Tod dessen Nachfolger als Wiener Publikumsliebling, meinte dazu einst voll Bewunderung: "Ich bin überzeugt, dass Girardis Genie von Natur aus dazu bestimmt und geeignet war, auch die tragischen Gestalten unserer großen Dichter darzustellen!" Karl Kraus hielt Girardis Valentin schlichtweg für "gewiss das größte Ereignis des Wienerischen Theaters".

Unerhört gesteigert wurde Girardis Beliebtheit in Wien durch seine erste Interpretation des Fiakerlieds von Gustav Pieck im Mai 1885 zur Hundertjahrfeier der Fiaker im Prater. Girardi fuhr im Fiaker in die Rotunde ein und hob das Lied unter Beifallsstürmen aus der Taufe. Es wurde ein Schlager, den Girardi unermüdlich überall wiederholen musste.

13 Mal an der Burg

Mit Girardi hat das Virtuosentum auf der Bühne einen ersten überwältigenden Höhepunkt markiert, den die Nachwelt mit großen Persönlichkeiten der Bühne zwar zweifellos künstlerisch, doch kaum an Beliebtheit und Heldenverehrung übertroffen hat.

Zu Beginn des Ersten Weltkriegs zog sich Girardi von der Bühne zurück und lebte wieder in seiner Geburtsstadt Graz. Von Tragik überschattet sind seine letzten Lebenswochen im Frühjahr 1918. Zwei Monate vor seinem Tod erreichte ihn der ersehnte Ruf ans Burgtheater. Insgesamt dreizehn Mal trat er dort, vom Publikum stürmisch akklamiert, auf: zehnmal als Raimunds Fortunatus Wurzel, dreimal als Weiring in Schnitzlers "Liebelei".

Sein letzter Auftritt fand Anfang April, in seiner Leibrolle als Valentin im "Verschwender", bei einem Gastspiel in Pilsen statt. Am 20. April 1918 starb Alexander Girardi in Wien an den Folgen einer Lungenembolie nach einer Beinamputation.

In seinem Nachruf in der "Neuen Freien Presse" schrieb Raoul Auernheimer: "Ein gewisses Etwas, ein poetischer Goldglanz, der jeder seiner Leistungen und mit zunehmenden Jahren in zunehmenden Maße anhaftete, unterschied ihn von seinesgleichen in der Vergangenheit wie von seinen Zeitgenossen, unter denen er, auf seinem eigentlichen Gebiet, nicht seinesgleichen besaß. (. . .) Er war der Schauspieler unseres Nationalcharakters und bezeichnenderweise ein heiterer Künstler."

Karl Kraus dekretierte: "Girardi hat nichts vertreten; er war." In Leo Prerovskys Gedenkblatt hieß es, angesichts des vierten Kriegsjahrs 1918, nachdenklich: "Mit ihm ist der letzte Biedermeier gestorben. Nun hat der Krieg auch für Wien eine neue Zeit heraufgeführt . . . Die Menschenmassen, die sich auf dem Wege drängten, den sein Leichenzug nahm, ahnten, was diese Totenfeier bedeutete. Sie grüßten ergriffen eine sterbende Zeit. Armes neues Wien!"

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Oliver vom Hove lebt als Dramaturg, Literaturwissenschafter und Publizist in Wien.