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Wo sogar Ehen gestiftet wurden

Von Gerhard Strejcek

Reflexionen

Der Wiener Stadtforscher Peter Payer hat eine eindrucksvolle Kulturgeschichte der Aufzüge vorgelegt.


In Karl Kraus’ epischer Abrechnung mit dem Ersten Weltkrieg, "Die letzten Tagen der Menschheit", deren Epilog 1917 im Schweizer Kanton Glarus entstand, spielt das "Sirk-Eck" eine wichtige Rolle. Gegenüber der Hofoper (heute: Staatsoper) defilierten die modebewussten Wienerinnen mit Hüten, die in Ascot Furore gemacht hätten und betörten die wohlhabenden sowie einflussreichen Geschäftsleute, die sich mit ihren Gehröcken, -stöcken und Zylindern auf der Ringstraße vor dem Hotel "Bristol" wichtig machten. Darunter befanden sich der Präsident der "Anglobank", Julius von Landesberger, und der "Bodencredit"-Gouverneur Rudolf Sieghart, die Kraus besonders aufs Korn nahm, weil sie als Financiers und Einflüsterer der Habsburger galten.

Wer im wahrsten Sinn des Wortes hinter die Kulissen dieser Szenerie blicken möchte, sollte das neue, bibliophile Werk von Stadtforscher und Historiker Peter Payer zur Hand nehmen. Payer, der auch als Kurator im Technischen Museum wirkt, gelingt mit der Aufzugsgeschichte "Auf und Ab" ein großer kulturgeschichtlicher Wurf. Der Autor zeigt dem Leser das "Bristol" und die Rotisserie "Sirk" nicht nur mit den fotografischen Augen des Literaten und Chronisten, sondern er liefert dem Betrachter auch Einblick in einen Aufzug der Sonderklasse.

Mit Ledercouch

Der vergoldete "Bristol"-Fahrstuhl (renoviert 1995) mit Marmorboden und einer Ledercouch für müde Hotelgäste ist an Luxus kaum zu überbieten. Vor der Schiebetür des Lifts weisen Messingschilder zu den noblen Salons im Unter- und Obergeschoß. Wer diese Transporthilfe betreten darf, der hat es geschafft und zählt zu den Oberen Zehntausend, möchte man meinen.

Im Gegensatz dazu nehmen sich die zahlreichen Paternoster, welche Payer dokumentiert, wie basisdemokratische Statements der Technikgeschichte aus. Jedem Benutzer steht derselbe, meist schmucklose Kabinentyp zur Verfügung, auch die noble Hofratswitwe muss das Bein heben, um rasch den offen dahingleitenden Aufzug zu betreten. Leider handelt es sich bei den hölzernen Permanentaufzügen, die durch niedrige Wartezeiten und hohes Passagieraufkommen punkten, um eine aussterbende Spezies.

Wer in Wien mit einem Paternoster auf- oder abwärts fahren möchte, muss diese erlebnisreiche Fahrt in einem der wenigen öffentlich zugänglichen Gebäude verrichten, wofür sich vor allem das Rathaus auf der - vom Zen- trum aus gesehen - "rechten" Seite der Felderstraße (Ein- und Ausgang wenden sich der Votivkirche zu) anbietet. Aber auch hier gilt, dass der gute alte Paternoster der Favoritner Firma Freissler, der mehr als hundert Jahre auf der Umlenk-Welle hat, immer seltener in Betrieb ist.

Die meisten Benutzer der Wien-Bibliothek scheuen den Umweg zum Holzaufzug und nehmen den modernen Kone-Glaskobel, der eine beachtliche Rundumsicht in einen der Höfe bietet und zudem rasch das Ziel im dritten Zwischengeschoß erreicht. Der Paternoster-Benutzer rumpelt hingegen mit gemischten Gefühlen an drei Auslässen vorbei und erwischt im schlimmsten Fall den richtigen Ausstieg nicht rechtzeitig.

Sodann beginnt ein Abschnitt, den Internet-User und Aufzugsfans zu Recht als "spooky" bezeichnen, weil der Paternoster in einem kafkaesk-dachbodenartigen, nur matt von einer Glühbirne beleuchteten Raum die Kabine über den Totpunkt hebt, die dann, natürlich ohne umzudrehen, sanft bergab gleitet.

Allein die Akustik dieses Vorgangs und der kurze Einblick in die Umlenkmechanik sind den Ausflug wert. Man kann auch bei Zusehern für Furore sorgen, indem man sich den kleinen Scherz erlaubt und beim Umlenken einen Kopfstand macht, was aber nicht empfehlenswert ist.

Der NIG-Paternoster

Die Gründe, warum die Paternoster verschwinden (zuletzt fand eine Still-Legung im Bundesrechenzentrum 2017 statt), liegen bei Wartungskosten und der Fehlbedienung dieser sicheren Aufzüge, welche laut Payer keiner Fangvorrichtung bedürfen.

Ein Paternoster, der überaus nutzbringend war, brachte im Neuen Institutsgebäude an der Universitätsstraße Studierende, Lehrende und Gäste von den 1950er Jahren bis zur Jahrtausendwende bis fast in die Mensa im Dachgeschoß und überwand dabei immerhin acht Etagen. Doch eines Tages stieg eine junge Mutter mit Kinderwagen in den dafür nicht zugelassenen Lift und verkeilte diesen, ohne dabei zu Schaden zu kommen. Lastentransporte sind in Paternostern immer verboten, dasselbe gilt für schweres Gepäck, Fahrräder und eben auch Kinderwagen.

Der Vorfall markierte das Ende des modernen Umlauflifts mit Resopalanmutung, in dem zwei Fahrgäste zusammengewürfelt wurden. Vermutlich stiftete der Paternoster sogar Ehen, es sei denn eine dritte Person stieg im ersten Stock unerlaubt hinzu. Der NIG-Paternoster ist jedenfalls Geschichte, seither müssen Mensabesucher auf einen der Pendellifte warten. Dafür ist man heute rascher am Ziel.

Film-Klassiker

Auch das Wiener Straflandesgericht, das "Einser-Landl" an der alten Lastenstraße (= Landesgerichtsstraße oder "Zweier-Linie") verfügte, wie sich aus Payers Monumentalwerk ergibt, über einen Paternoster, der auch fotografisch dokumentiert ist. Unweigerlich denkt der Leser an den "Fahrstuhl zum Schaffott" ("L’ascenseur pour l‘échafaud"), einen Krimi, den Louis Malle 1958 mit Jeanne Moreau verfilmt und den Jazztrompeter Miles Davis musikalisch in Szene gesetzt hat.

Doch sowohl der Würgegalgen der Österreicher als auch die Guillotine der NS-Machthaber standen im Erdgeschoss, die Delinquenten gingen zu Fuß von den Zellen bergab in diese Stätte des Schreckens, die heute einen Gedenkraum beherbergt.

Payer klärt den Leser auf, dass Hamburg die eigentliche Paternoster-Hochburg war, aber auch die Wiener Firma Freissler einige dieser in der Anschaffung teuren, im Betrieb jedoch (mangels Aufzugsbegleiters) billigen Massenbeförderungsmittel herstellte und liebevoll individualisierte, wie den noch existenten Lift im "Haus der Industrie" am Schwarzenbergplatz. Freissler stieg zum liberalen Abgeordneten im Reichsrat auf und belieferte vom Favoritner Davidplatz aus internationale Kunden mit seinen innovativen Produkten. Neben Aufzügen entwarf er auch imposante Lastenkräne, die in Docks und Bergwerken Verwendung fanden. Die Firma wurde später vom amerikanischen Aufzugsgiganten Otis übernommen. Am Wienerberg stand auch die Fabrik von Wertheim, neben Füglister (seit 1888) und Theodor d’Ester Marktführer in Wien.

Gesamtkunstwerk

Payer beschränkt sich nicht auf Paternoster, sondern zeigt Rolltreppen und Pendellifte, darunter wunderschöne Jugendstilmodelle. Edle Kabinen-Modelle stammten vom Hersteller Petravič, der Aufzugs- und Tresorfirma Wertheim sowie von Freissler und d’Ester. Kristallglas und Furniere gestalteten die Kabinen, die mit moderner Steuerungstechnik und Fangvorrichtungen ausgestattet waren oder nachgerüstet wurden. Allein die Schalter aus Porzellan und die kunstvollen Messingknöpfe und -schilder formierten ein Gesamtkunstwerk, dessen kulturhistorische Bedeutung der technikaffine Autor in den Vordergrund hebt.

Payer lässt aber auch die soziale Komponente des Aufzugsbaus nicht außer Acht. Denn während in der k.u.k. Monarchie und noch weit in die Erste Republik hinein das edle Berganschweben in Wohn- und Geschäftshäusern das Vorrecht privilegierter Wiener Bürger und bis zum März 1919 auch Adeliger war, ließ in der Zweiten Republik das wiedererstandene Wohnbauprogramm der Gemeinde verbunden mit einfacheren Aufzugskonstruktionen eine technische Aufrüstung der jüngeren Gemeindebauten zu. Dasselbe galt für die Wohnhäuser von Genossenschaften.

Das vorliegende Werk vermittelt eindrucksvoll, wie eng die Geschichte der mechanisierten Aufzüge mit kulturellen und sozialhistorischen Aspekten verbunden ist. Payer gelingt es, die paradigmatische Funktion und das Protzgehabe, das mit den "SUVs" der Gründerzeit verbunden war, in Wort und Bild zu bannen, wobei mehr als 150 Abbildungen auch den Preis einer halben Tankfüllung rechtfertigen.

Peter PayerAuf und AbEine Kulturgeschichte des Aufzugs in Wien. Brandstätter, 200 Seiten, ca. 150 Abb., 34,90 Euro.