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Gesellschaftskritik und Liebesleid

Von Katharina Hirschmann

Reflexionen

Sie wurde vom Vorstadtmädchen zum Pariser Chanson-Star, er entsprang dem belgischen Bürgertum und empfand Hassliebe für seine Heimat: Édith Piaf und Jacques Brel starben vor 55 bzw. 40 Jahren.


Ihre Wege kreuzten sich nicht, und auch musikalisch haben sie, abgesehen von der vagen Definition des "Chanson", nicht viel gemein. Sie, das von Schicksalsschlägen gebeutelte Skandalmädchen, das der Liebe hinterherlief. Er, der exaltierte Realist, stets darauf bedacht, der Gesellschaft kritisch erhobenen Hauptes gegenüberzutreten. Zwei Lebenskonzepte, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. In ihrer Intensität jedoch treffen sie sich. Beide starben im Oktober, sie am 10. vor 55 Jahren, er am 9. vor 40 Jahren.

Der Grundstein für Piafs Schicksal als tragische Figur wird schon mit ihrer Geburt gelegt. Denn sie wird, so will es zumindest die Legende, auf der Straße geboren. Aus dem Bauch der Mutter direkt vor die Füße eines Polizisten, so heißt es. Ein kleines Schild an der Wand des Gebäudes im 19. Pariser Bezirk erinnert daran. Tatsächlich jedoch wird die Mutter an diesem 19. Dezember 1915 in Wehen von zwei Polizisten in ein Krankenhaus im 20. Bezirk ganz in der Nähe gebracht, wo Piaf als Édith Giovanna Gassion um fünf Uhr morgens das Licht der Welt erblickt.

Einzige Konstante in ihrer Kindheit wird die Instabilität sein. Von ihrer Mutter, einer trinkenden Kaffeehaus- und Straßensängerin, rasch abgestoßen, wandert sie erst zu deren Mutter, bei der sie beinahe verhungert. Sie wird jedoch rechtzeitig zurückgeholt, ob von ihrem Vater, der selbst im Krieg war, oder seiner Schwester, ist nicht klar. Jedenfalls kommt das Kind nun zur Großmutter väterlicherseits, die in der Normandie ein Bordell führt. Umgeben von leichten Mädchen, die allesamt entzückt sind von dem Baby, wächst Édith auf. Prägende Jahre, die ihre zukünftigen Beziehungen zu Männern und ihr Verständnis von Liebe sicher mitbestimmen.

Fehlende Zuwendung

Mit zehn Jahren holt ihr Vater, ein Schlangenmann, sie zu sich in den Wanderzirkus, um mit ihr auf der Bühne zu arbeiten und durch die Länder zu reisen. Doch die Geschäfte gehen zunehmend schlecht - und schließlich hat er die Idee, seine Tochter auf der Straße singen zu lassen. Ein rentables Projekt. Doch er kennt nur die Welt des Alkohols und der Gewalt, die auch Édith zu spüren bekommt.

Sie macht sich schließlich ohne ihn auf, um sich gemeinsam mit ihrer (vorgeblichen) Halbschwester Momone auf die Straßen von Paris zu begeben. Überleben kann sie diese Zeit durch Kontakte zu diversen Männern aus zwielichtigen Kreisen. Inwieweit sie sich ihnen verkauft, lässt sich nur vermuten. In ihrer Autobiografie freilich streitet sie jegliche sexuellen Kontakte ab. Fest steht, dass Gewalt und fehlende Zuwendung ihre jungen Jahre bestimmen.

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Jacques Brels Kindheit wirkt dagegen wie ein Paradebeispiel bourgeoiser Sittlichkeit. Denn "Jacky", wie man ihn nannte, wuchs in bürgerlichen Verhältnissen auf, sein Vater war Teilhaber einer Kartonagenfabrik, seine Mutter Elisabeth Hausfrau. Er besuchte eine Privatschule, las viel und gerne und schloss sich einer katholischen Jugendbewegung an, deren Präsidentschaft er später sogar übernahm. Hier spielte er erste Lieder auf der Gitarre.

Doch die blanke Fassade weist bei genauerem Hinsehen ebenfalls kleine Risse auf. So war Brel ein begnadet schlechter Schüler, der Jahr um Jahr die Klassen wiederholte und schließlich, als die dritte Wiederholung der neunten Klasse drohte, von seinen Eltern von der Schule genommen wurde. Er sollte in die Firma des Vaters einsteigen und ein bürgerliches Leben führen.

Rückblickend bezeichnet er diese behütete Kindheit als von Einsamkeit und Langeweile geprägt. Dennoch ging er erst noch diesen für ihn vorgesehenen Weg der Bürgerlichkeit. Er heiratete Thérèse Michielsen, die er aus der katholischen Jugendgruppe kannte. Erst später zieht er nach Paris, um den Weg Richtung Bühne einzuschlagen, nachdem mehrere Versuche mit seinen selbst verfassten Liedern in Belgien gescheitert waren und er von Jacques Canetti, Chef von Philips und Bruder von Elias Canetti, nach Paris eingeladen wird. Hier wird in den 50er Jahren, holprig aber doch, sein Siegeszug beginnen.

Édith Piaf ist zu dieser Zeit bereits in ihren Vierzigern und ein Star. Der Weg dorthin jedoch war von Schicksalsschlägen, Affären und Skandalen geprägt. Nachdem sie mit Momone die Straßen von Paris von Belleville bis Pigalle besungen hat, nachdem sie ihr erstes Kind noch vor ihrem 20. Lebensjahr wieder verloren hat, nachdem Louis Leplée sie entdeckt und in schwarzem Rock und Pullover (dessen Ärmel Piaf noch nicht fertiggestrickt hatte) auf die Bühne seines Cabarets geschoben hatte, nachdem er der zierlichen Sängerin den Künstlernamen "la môme Piaf" verpasst hatte und sie regelmäßig auftreten ließ, um die zwanzigjährige Édith Piaf einem größeren Publikum bekannt zu machen; und nachdem der Gründer des Radiosenders Radio-Cité (Marcel Bleustein) ihre potente Stimme im Cabaret gehört hatte und sie auf seiner Frequenz ausstrahlen wollte. Künstlerischer Leiter von Radio-Cité war zu diesem Zeitpunkt, wir haben ihn bereits erwähnt: Jacques Canetti. Derselbe Mann, der also auch Brel nach Paris einlädt und der vielen späteren Größen zum Durchbruch verhilft, von Brassens über Brel, Reggiani und Gréco bis zu Gainsbourg.

Zwischen den Fronten

Ihr unverwechselbares Timbre, ihr permanentes Vibrato, ihr rollendes R, ihre Intonation. Allesamt Faktoren, die sie unverkennbar als Mädchen der Vorstadt ausweisen (entgegen der vielleicht hierorts herrschenden Meinung, Piaf wäre das Ideal französischer Eleganz). Und vor allem eine Kraft und Intensität, die, aus dieser zarten, nur 1,47 Meter großen Frau kommend, die Zuhörer überraschen muss. Doch Louis Leplée wird ermordet - und Édith Piaf verdächtigt. Ihr Ruf ist zerstört und es braucht einen neuen Mann, der sie wieder auf die Beine stellt.

Raymond Asso prägte die 30er Jahre. Er ist ihr Texter, Lehrer und Liebhaber. Er unterrichtet sie in Musik, Artikulation, Gesang und führt sie weg von ihren wenig förderlichen Kontakten in den Kreisen von Pigalle. Sie entdeckt die Literatur und lernt, ihre Hände auf der Bühne zu nutzen. Der Rohdiamant Piaf wird geschliffen. Aus dem Vorstadtmädchen wird eine Pariserin. Und dann zieht Raymond Asso in den Krieg. Wir schreiben das Jahr 1939.

Die Zeit des Krieges, die Jacques Brel noch als Kind in seiner Heimat Belgien erlebt, verbringt Piaf wendig zwischen den politischen Fronten. Ihren jüdischen Freunden verhilft sie zur Flucht, gleichzeitig lässt sie sich während der deutschen Besatzungszeit aber auch von deutscher Seite finanzieren, nimmt etwa an einer Konzertreise nach Berlin teil. Sie wird nach Kriegsende als Kollaborateurin gesehen und entkommt einer Strafe nur durch die Aussagen ihrer langjährigen Sekretärin Andrée Bigard, die selbst in der
Résistance tätig war.

In diesen turbulenten Zeiten, kurz bevor sie dem erst diese Woche verstorbenen Charles Aznavour am Beginn seiner Karriere hilft, schreibt sie erstmals eigene Lieder, darunter jenes, das es bei einer "Le Figaro"-Umfrage erst 2017 wieder auf Platz zwei der berühmtesten Liebeslieder schaffte: "La Vie en rose" (von Piaf ursprünglich gedichtet als "Je vois les choses en rose"). Und wer belegte Platz eins? Jacques Brel mit " Ne me quitte pas ".

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Doch eigentlich sind seine Themen politisch, kämpferisch. Denn Brel hat eine Kindheit im Krieg hinter sich, in der viele Vertreter der flämischen Parteien mit der Besatzungsmacht zusammengearbeitet hatten. Die "Deutsch-Vlämische Arbeitsgemeinschaft", die entstanden war, wurde nach Kriegsende stark kritisiert. "Es gibt in Belgien Wallonen und Flamen, es gibt keine Belgier", schreibt der Begründer der Wallonischen Bewegung, Jules Destrée, in seinem offenen Brief an Albert I. schon 1912.

Brel versteht sich stets als Brüsseler. Den Flamen und ihrer Sprache, die auch die seine ist, steht er sehr kritisch gegenüber, was ihm viele Anfeindungen einbringt. Denn nicht nur vergleicht er die flämische Sprache mit Hundegebell, er thematisiert die Problematik auch öffentlich in seinen Liedern, so etwa in "Les flamandes" oder in "La . . . La . . . La . . . ", wo er singt: "Vivent les Belgiens, merde pour les Flamingants", also "Es leben die Belgier, scheiß auf die Flamen".

Prompt wurde er in Belgien zur Persona non grata erklärt. Brel zufolge wollte er jedoch nicht die Flamen ("Flamandes") pauschal angreifen, sondern gezielt die "Flamingants", also die flämischen Nationalisten, die er als "Nazis während des Krieges und Katholiken unter sich" beschreibt. Das Spiel mit dem Feuer reizt ihn jedoch offensichtlich, und er wird diese Thematik immer wieder aufgreifen, gleichzeitig aber auch einige seiner Lieder ins Flämische übersetzen. Die Beziehung zu seiner Heimat kann wohl getrost als typische Hassliebe bezeichnet werden.

Hoffnung auf Erlösung

Auch in seinem Privatleben nimmt er eine zwiespältige Haltung ein, denn er führt ein Doppelleben. Seine Frau Miche lebt mit ihren drei Kindern großteils alleine in Belgien. Brel besucht sie regelmäßig und nimmt für seine Kinder die Rolle des konservativen Vaters ein. Währenddessen jedoch hat er zahlreiche Liebhaberinnen in Frankreich. Seine Beziehung zu Frauen bezeichnet er selbst als schwierig: "Ich glaube, dass ich die Liebe zu sehr liebe, um Frauen lieben zu können. Die Frauen bleiben immer unterhalb der Liebe, von der man träumt."

In den 60er Jahren hat Brel musikalisch den Durchbruch geschafft. Doch es sind die Früchte harter Arbeit. Denn Brel ist im Vergleich zu anderen Chansonniers seiner Zeit besonders aktiv. Als Texter, Komponist und unermüdlicher Gesellschaftskritiker hat er sich seine Stellung hart erkämpft. Brel beschließt zum Staunen und nicht zuletzt zur Verzweiflung aller, seine Karriere auf ihrem Höhepunkt zu beenden. 1967 gibt er sein letztes Konzert in Roubaix.

Er wirkt in zahlreichen Filmen als Schauspieler mit, liefert die Filmmusik, schreibt Drehbücher und verdingt sich zweimal selbst als Regisseur. Doch sein zweiter Film, den er selbst dreht, "Le Far West", ist ein Flop, und Brel zieht sich nun gänzlich aus der Öffentlichkeit zurück, um seinen zwei Leidenschaften, dem Segeln und dem Fliegen, zu frönen. Seine letzten Jahre verbringt er mit seiner Geliebten Maddly auf der Südseeinsel Hiva Oa, wo einst auch Paul Gauguin verweilte, wo er schließlich noch letzte Chansons schreibt, inzwischen gezeichnet von seiner Lungenkrankheit.

Piaf verbrachte ihr Leben damit, es mit Liebe zu füllen, vielleicht auch, weil sie nicht in der Lage war, tatsächlich sexuelle Lust zu verspüren, manch verflossener Liebhaber hat darüber gesprochen. "Was würde ich dafür geben, eine echte Liebesnacht zu verbringen?", sagt sie selbst einmal.

Die Hoffnung, dass ein neuer Liebhaber die Erlösung bringen würde, hatte sie bis zum Schluss. In diesem Sinne trifft wohl, was Jacques Brel in einem Interview von 1971 sagt, auch auf Édith Piaf zu: "Ich glaube, ein Mann verbringt sein Leben damit, seine Kindheit zu kompensieren."

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Katharina Hirschmann, geb. 1986, Studium der Romanistik und Germanistik, arbeitet als freie Autorin für die "Wiener Zeitung".