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Festung unter Beschuss

Von Alfred Pfoser

Reflexionen

Der Anfang vom Ende: 1968 war das Jahr, in dem - neben anderen gesellschaftlichen Institutionen - auch das katholische Internat unter Veränderungsdruck geriet.


Ein Vorreiter für Veränderungen: Das Missionsseminar "St. Berthold" in Wels, auf einem ausgeschnittenen Erinnerungsfoto des Autors.
© privat

Wenn sich die Zeithistoriker und Medien heute mit der Chiffre "1968" beschäftigen, dann schreiben und reden sie über die "Uniferkelei" im NIG, die Anti-Borodajkewycz-Demonstrationen von 1965 oder die Aufbruchsstimmung der Kreisky-Zeit.

An den Rand gedrängt wird dabei, dass 1968 die katholische Welt mehr als jeden anderen Teil der österreichischen Gesellschaft veränderte. Das Leben in den Pfarren folgte nicht mehr der Tradition: Das Dogma, dass der Hirte in naturgegebener Ordnung seine Herde führt, wurde abgelöst vom Geist der Mitbestimmung und Mitbeteiligung. Das Zweite Vatikanische Konzil (1962 bis 1965) begann und endete zwar schon erheblich früher als 1968, aber es war der Vorbote. Bis die Prinzi-pien des Konzils in den einzelnen Pfarren und bei den Gläubigen ankamen und sich dort auch durchsetzten, konnte dies dauern.

Der entscheidendste Faktor in der Transformation der Kirche war die sogenannte "sexuelle Revolution". Das rigide Sittenregime löste sich auf, die Kindererziehung drehte Richtung Laissez-faire, Magazine und Filme lockten mit Freizügigkeit, die Pille kam auf den Markt, mit sexueller Aufklärung ließen sich Massen mobilisieren, die neue Rock-Musik gab den Sound zu diesem Aufbruch.

Massive Gegenwehr

Die veränderte Haltung zur Sexualität veränderte auch die Gesellschaft - und wirbelte die katholische Welt durcheinander. Die päpstliche Enzyklika "Humanae vitae" versuchte dagegenzuhalten, ließ einzig die natürliche Empfängnisverhütung zu und verdammte die künstliche (Pille, Kondome) - und stieß auf massive Gegenwehr in der katholischen Lebenswelt. Auf dem Deutschen Katholikentag 1968 wurden ketzerisch Transparente gehisst: "Sich beugen und zeugen". Die alten Hierarchien und Regeln funktionierten nicht mehr.

Mit den alten Bastionen des katholischen Lebens kamen auch die kirchlichen Internate unter Beschuss, die wie Festungen aus der pädagogischen Geographie herausragten. Offiziell war ihre Zielsetzung ganz klar und wurde auch in aller Deutlichkeit in Internatsordnungen festgehalten: Katholische Internate hatten der Heranbildung von Priestern zu dienen. Die Realität gestaltete sich allerdings etwas anders, und zwar in fortschreitender Tendenz.

Nur mehr ein kleinerer Teil der Maturanten übersiedelte an die theologischen Fakultäten und Priesterseminare. Die Mehrheit der Absolventen verabschiedete sich zwar mit dem Ende der gymnasialen Ausbildung vom unmittelbaren Wirkungsbereich der Kirche, blieb aber dem Katholizismus treu, auch wenn sie später als Ärzte, Verwaltungsbeamte, Rechtsanwälte, Lehrer oder Angestellte arbeiteten.

Internate waren ein zentraler Teil der katholischen Elitenschulung, sie lieferten an den Universitäten den Nachwuchs für die katholischen Verbindungen und schufen jene Kader und Netzwerke, die in schwarzen Ländern und Gemeinden das gesellschaftliche Leben dominierten. Internate schöpften die Talente aus den ländlichen Gebieten ab, sie boten die Möglichkeiten für armer Leute Kinder, eine höhere Schule zu besuchen, aber auch bürgerliche Eltern, die in Dörfern und kleineren Städten wohnten, schickten ihre Kinder gern in Gymnasien, um ihnen lange Fahrzeiten zu ersparen und eine "gute Ausbildung" zu sichern.

Internats-Alternativen

Der industrielle Aufbruch der Wirtschaftswunderjahre verlangte eine flächendeckende Ausbildung der künftigen Generation. Schon die ÖVP-Regierung Klaus (1966-1970) beschloss den Bau von Gymnasien in den Bezirkshauptstädten und brachte damit die höhere Bildung näher an die Landgemeinden heran. Dass dadurch die Exklusivität der katholischen Internate ausgehebelt wurde, war wahrscheinlich ein unbeabsichtigter Nebeneffekt. Es gab nun moderne, familienfreundlichere, überdies kostengünstigere Möglichkeiten, wenn Eltern und Jugendliche in Landvolksschulen eine höhere Ausbildung in Betracht zogen.

Frischmuths Internatsroman, 1968 erstmals erschienen.

Das alte, klassische Internat hatte eine Konkurrenz erhalten. Seine besondere Lebensform und Elitenbildung gerieten in die Diskussion. Der Internatsroman etablierte sich in der österreichischen Literatur zu einer prägenden Gattung. Barbara Frischmuths "Klosterschule" (1968) machte schnell Furore. Auch Peter Handkes "Kaspar" (1968) las man damals als Parabel auf die Sprachspiele in der geschlossenen, neurotischen Welt der Internate.

Ein ganz wesentlicher Teil der modernen österreichischen Literatur entstand als autobiographisch inspiriertes Zeugnis von Internatsschülern, auch die Debatte über Internate als vorrangiger Schauplatz von Pädophilie und sexuellen Übergriffen deutete sich in ersten Anfängen bereits an.

Im Biotop der Internate steckte Radikalität, denn es basierte auf der Entfremdung von der Elternwelt. In der Regel verbrachten die Zöglinge acht Jahre lang dort, vom zehnten bis zum achtzehnten Lebensjahr. Einmal im Monat durften sie am Wochenende nach Hause fahren, allerdings verkürzt durch den Samstagunterricht; so ergab der Aufenthalt bei den Eltern maximal einen Kurzbesuch von einem Tag. Ein Teil der Zöglinge verzichtete - Distanzen waren groß und Zug- und Busverbindungen schlecht - überhaupt auf diese Stippvisite. Bis in die frühen 1960er Jahre sahen die Herkunftsfamilien ihre Kinder bloß zu Weihnachten, Ostern und in den großen Ferien. Die Folge war, dass die Eltern weit weg rückten und als Erzieher verblassten. Das Internat war alles, seine Kultur bestimmte das Leben, mit dem strikten Tagesablauf wurde der Alltag in einen starken Rahmen gepresst, er regulierte zusammen mit den festgeschriebenen wie unsichtbaren Verboten den Rhythmus der Tage.

Präsente Präfekten

Die Präfekten waren stets präsent, wirkten je nach Temperament als fürsorglicher Väter-Ersatz oder als kalte, unnahbare Exekutoren der Ordnung. Wo ihr Einfluss nicht hinreichte, sorgte die Gemeinschaft für Kontrolle. Vereinzelt bildete sich auch "Widerstand"; Kofferradios wurden in Schlafsäle eingeschmuggelt, um Samstagabend die Hitparade zu hören, immer verbunden mit der Angst, erwischt zu werden. Ein ausgefeiltes System von Kontrollen und Strafen sorgte dafür, dass jede größere Insubordination erstickt wurde.

Am Monatsende bekamen die Eltern Zeugnisse geschickt, in denen Gehorsam, Pünktlichkeit und Sauberkeit mit Noten beurteilt wurden. Ergänzt wurde die Aufsicht durch die Anfälligkeit des kollektiven Lebens für Vernaderung; sie schuf kleine Gesetzeshüter. Das individuelle Eigenleben schrumpfte auf minimale Reste zusammen. Inmitten des gemeinschaftlichen Trubels lesen, Tagebuch führen, träumen, die sexuellen Begierden erwachen lassen - auch das wollte in diesem geschäftigen Bienenhaus gelernt und gemeistert sein.

Allein räumlich erschuf sich das Internat als geschlossenes Areal. So einfach durfte man das Gelände nicht verlassen. Die Grenzen türmten sich unübersehbar auf. Nächtliche Expeditionen extra muros galten als Mutproben. Schlafsäle mit zehn und mehr Betten, Studierzimmer mit einer Batterie von Schreibtischen, das Besteckgeklapper im großen Speisezimmer, der tägliche gemeinsame Messebesuch, die Sportanlagen strukturierten räumlich das kollektive Leben.

Einzig in den ein, zwei Stunden der sogenannten "Freizeit" und an den Wochenenden zersplitterte das große Kollektiv und gebar die kleinen Kreativ- und Sportgruppen. Das Internat als Lebensform profilierte sich nicht nur als großer Zuchtmeister, sondern auch als Pool für Geselligkeit, Kunstbegeisterung und Spielfreude. Feste und Ausflüge vermittelten Freude und Stolz, spornten zu besonderen Leistungen an und erzeugten starke Gemeinschaftsgefühle.

Mitbestimmung

Das Internat, das ich besuchte, war 1968 ein Vorreiter der Veränderungen, sein Leiter Berthold Mayr ein charismatischer musischer Freigeist. Das Missionsseminar "St. Berthold" in Wels stellte damals seine Ziele um. Die Priesterausbildung als vorrangige Intention wurde gestrichen, die Türen öffneten sich weit.

Vorbei die Zeiten, als Burschen, die in der Stadt händchenhaltend mit Mädchen gesehen wurden, aus dem Internat verwiesen wurden. Mädchen wurden nun zu Festen oder zu Elternbällen ins Internat eingeladen. Tanzkurse waren nicht mehr verpönt, sondern wurden Normalität. Für viele Eltern war es nicht recht zu fassen, dass es ihren Kindern gar gestattet war, auch feste Freundinnen zu haben.

Der Geist von 1968 verlangte Mitbestimmung. Und die Internatsleitung war gewillt, das auch zu realisieren. Ein gewählter Internatsrat (Patres plus je zwei Vertreter einer Oberstufenklasse) sollte alle anstehenden Probleme behandeln und entscheiden. Dieses neue Parlament war wie ein Geschenk, dankbar und begeistert nahmen wir es an. Noch war zu diesem Zeitpunkt nicht absehbar, dass spätere Schülergenerationen sich gegen die Internatsleitung stellten und die Mehrheit nutzen wollten.

Noch war damals nicht zu erkennen, dass mit der Liberalisierung das Ende der katholischen Internate und ihrer mächtigen Stellung eingeleitet wurde. Ab den 1970er Jahren bekamen die Internate Probleme mit der Rekrutierung. Sie mussten sich anpassen und öffnen, ihre einzigartige, über Jahrzehnte, ja Jahrhunderte bewahrte Exklusivität ging verloren, sie lebten nun als gemischtsprachige Schulen weiter, wurden vereinzelt als Tageshorte weiter geführt. Viele sperrten, nicht zuletzt auch mein Internat, wegen der Personalprobleme in der Kirche. Ein Kapitel österreichischer Kulturgeschichte ging zu Ende.

Alfred Pfoser, geboren 1952, war in verschiedenen leitenden Funktionen bei Büchereien und in der Wienbibliothek tätig; Autor und Publizist. Sein Beitrag findet auch Eingang in den Mitte Oktober in der Edition Roesner erscheinenden Band "1968 – Roll over and over again . . ."