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Trauriger Bonvivant von der Sirk-Ecke

Von Oliver Bentz

Reflexionen

Auf der Bühne versetzte der Schauspieler Harry Walden (1875-1921) sein Publikum in Begeisterung. Doch Morphium und Schulden besiegelten sein Schicksal.


Temperamentvolles Spiel, maßloses Leben: Harry Walden.
© Bentz

"Von feinnerviger Hand sind hier einzelne Momentbilder und kurze Wegstrecken aus dem Leidensweg des unglücklichen Künstlers gezeichnet, die uns mit Trauer und Erbitterung erfüllen über die vom kotigen Alltag beschmutzte Tragik dieses modernen Künstlerschicksals."

Diese "herzergreifenden" Zeilen auf der Buchbinde bewarben 1921 ein kleines, im Wiener Verlag C. Barth erschienenes Bändchen. Sein Titel: "Harry Walden - Ein Künstlerleben". Der Autor, Hans Hoff, erzählt darin episodenhaft mit ans Gemüt gehenden Worten die letzten Jahre und die private Katastrophe des einst in Wien und Berlin gefeierten Schauspielers Harry Walden (1875-1921). Der Mime, der in der Rolle des jugendlichen Liebhabers an den führenden Berliner und Wiener Theatern die Frauenherzen eroberte und als Bonvivant und Gesellschaftslöwe die Klatschspalten der Zeitungen füllte, war in der Zeit von der Jahrhundertwende bis zum Beginn der 1920er Jahre einer der beliebtesten Bühnendarsteller. Heute sind er, seine vom Publikum bejubelten Bühnenauftritte und sein tragisches Ende weitgehend vergessen.

Lehrjahr in der Provinz

Unter dem Namen Harry Schreier in Berlin als Sohn eines Bankdirektors geboren, musste der junge Mann zunächst dem Willen der Eltern folgen und den väterlichen Beruf ergreifen. Seine eigentliche Liebe aber galt der Bühne. Mit 18 Jahren ging er nach New York. Er begann als Laufbursche, arbeitete sich hoch und kehrte nach zwei Jahren als Selfmademan mit ansehnlichem Vermögen nach Deutschland zurück, um seinen Militärdienst abzuleisten. Danach konnte er es bei seinen Eltern endlich durchsetzen, Schauspieler zu werden. Den Vornamen des Vaters - Waldemar - abwandelnd, wählte er Harry Walden zum Künstlernamen.

Seine Lehrer wurden der Berliner Hofschauspieler Richard Kahle und Jan Edgar, der nach seiner Schauspielerlaufbahn in Berlin und Wien Redakteur der "Bühnengenossenschaftszeitung" geworden war. 1898 hatte Walden im renommierten Berliner Residenztheater seinen ersten beachteten Bühnenauftritt. Unter der Regie von Josef Jarno, der später das Theater in der Josefstadt leiten sollte, spielte er den "Gerhart" in dessen Stück "Momentaufnahmen". Der junge Schauspieler erntete anerkennende Kritiken und Jarno wollte ihn an sein Haus binden. Doch Walden lehnte ab und zog ein "Lehrjahr" an einem Stadttheater in der Provinz vor. Zu Gastspielen kehrte er in die deutsche Hauptstadt zurück.

In der Rolle des "Don Karlos" in Schillers gleichnamigem Stück, die zu einer seiner Glanzpartien werden sollte, erregte er die Aufmerksamkeit des Publikums und bekam begeisterte Kritiken. Der gerade als neuer Leiter des Berliner Theaters an die Spree gekommene Autor und Kritiker Paul Lindau nahm sich des jungen Schauspielers an, sodass Walden im September 1900 als Franz im "Götz von Berlichingen" und als "Prinz von Homburg" seinen endgültigen Durchbruch schaffen konnte.

Hans Hoffs 1921 erschienenes Bändchen "Harry Walden - Ein Künstlerleben".

"Diesmal stand", so sagt es Ludwig Eisenbergs "Großes Biographisches Lexikon der deutschen Bühne", "das Publikum vollständig im Banne Waldens und die Presse prognostizierte demselben nach dieser Leistung eine überaus erfolgreiche Laufbahn."

Waldens glänzende Bühnenlaufbahn an den großen Berliner Theatern - er spielte unter anderem am Neuen Schauspielhaus und am Deutschen Theater Max Reinhardts - hatte begonnen und sollte bald sensationelle Dimensionen annehmen: Denn mit dem Prinzen Karl Heinrich, den er in der Uraufführung von Wilhelm Meyer-Försters Stück "Alt-Heidelberg" 1901 verkörperte, wurde der Schauspieler eine internationale Berühmtheit. 450 Mal spielte Walden die Hauptrolle in dieser "heiteren Wehmütelei", in der "ein Kern echter Empfindung steckt" (Alfred Polgar), mit der ihm eigenen Mischung aus Noblesse und Jugendhaftigkeit. Gastspiele führten ihn mit dem 1912 auch mit ihm verfilmten Stück durch Europa und nach Amerika.

Psychologisch fundiert

Mit seinem natürlichen, psychologisch fundierten, temperamentvollen und eleganten Spiel war Walden der Exponent eines neuen Darstellungsstils und eines neuen Schauspielertyps. Er vereinige, so Herbert Hirschberg 1910, "den feinen, nicht lauten Humor des modernen Großberliners, hinter dem sich das Gemüt so gern verbirgt und in leisen Tönen hervorspricht, die Eleganz und das vornehme Wesen des Weltmannes, die in ihm eine so entzückende Mischung eingegangen sind mit der gemütlichen Schnoddrigkeit unserer Väter".

Die großen klassischen Rollen gab Walden ebenso wie den Possenreißer. Besonders jedoch war er auf den jugendlichen Helden festgelegt und eroberte in dieser Rolle die Herzen vor allem des jungen weiblichen Publikums. Er wurde zum "Harry for ever der hübschen Backfische" (Hirschberg), die in den Straßen warteten, um ihn ins Theater fahren zu sehen. Viele Kritiker jedoch hatten ihn festgelegt und hielten ihm, was immer er auch spielte, den "Prinzen Karl Heinrich" lebenslang vor.

Seine Bewunderinnen aber irritierte das nicht. Die anspruchsvolle Lebensart, die Walden pflegte, wurde bald stilbildend für die exaltierten Sprösslinge des vornehmen Berliner Westens, der um 1900 das Wohnrevier der Neureichen geworden war, die zwischen Fünf-Uhr-Tee, Theater- und Vernissagenbesuchen den Dernier Cri des mondänen Lebens in der aufblühenden Reichshauptstadt zu erhaschen suchten.

"Voll tiefer Ergriffenheit", so Hirschberg, bewunderten die jungen Leute in den Salonstücken Waldens elegante Anzüge "und stellten dabei die schicksalsschwere Frage: ‚Ist er von Hoffmann, oder hat er sich ihn diesmal aus London mitgebracht.‘"

Doch hinter der glänzenden Fassade des Mimen gab es dunkle Flecken: In einer Art von "pathologischen Dämmerzuständen" (Hirschberg) nahm Walden manchmal große Mengen Alkohol und Morphium zu sich, unter deren Wirkung er oft tagelang in Berlin umherirrte, ohne sich später an sein Tun erinnern zu können. Diese Ausfälle waren auch der Grund, weshalb ihm der Berliner Polizeipräsident 1911 nach vier erfolgreichen Jahren an Reinhardts Deutschem Theater, die Übernahme der Direktion des Lustspielhauses wegen "mangelnder Zuverlässigkeit" und "sittlicher Bedenken" versagen wollte. Erst vor Gericht konnte Walden sein Ansuchen durchsetzen.

1906 hatte Walden mit Frieda Wagen eine der schillerndsten Figuren des Berliner Theaterlebens geheiratet. Die Schauspielerin, die vorwiegend das Fach der Naiven und der Salondame bediente, gehörte zum erlesenen Kreis kostspieliger Aktricen, mit denen sich wohlhabende Herren damals gerne schmückten.

Am Burgtheater

1896 trat sie für einige Jahre von der Bühne ab und eröffnete ein Luxus-Wäschegeschäft, nach dessen Konkurs sie 1901 an der Wiener Josefstadt ihre Karriere fortsetzte. In die Verbindung mit Walden brachte die aus verarmtem österreichischem Adel stammende Frau einen geistig behinderten Sohn aus ihrer ersten Ehe ein.

Als Nachfolger für den verstorbenen Publikumsliebling Josef Kainz wurde Walden 1913 vom Burgtheaterdirektor Hugo Thimig ans Haus am Ring geholt. Die Wiener Kritiker standen Walden, so Brigitte Grimm in ihrer Ende der 1960er Jahre erschienenen Dissertation über den Schauspieler, "ablehnend gegenüber, den sie selbst nur vom Varieté kannten und von dem im übrigen nur ein Ruf wie Liebling der Berliner Damenwelt, Salonheld (. . . ) existierte, was die Hüter der Burgtheatertradition mit Mißtrauen erfüllen mußte. Das Publikum allerdings schien von vornherein willig und bereit zu sein, Harry Walden zu seinem neuen Liebling zu küren".

So gehörte Walden auch in Wien, so der Journalist Milan Dubrovic in seinem Erinnerungsbuch "Veruntreute Geschichte", bald zu jenen exponierten Akteuren im öffentlichen Leben der Stadt, die die Wiener Straßen, besonders die Flaniermeile von der Sirk-Ecke, zur Bühne machten:

"Das Ensemble war stets verläßlich zur Stelle, die Besetzung blieb die gleiche: Sie kam aus den Reihen des Adels bis hinauf zu einstigen Angehörigen des kaiserlichen Hofes, dazu gesellten sich Bühnenlieblinge des Burgtheaters wie die beiden in der Herrenmode tonangebenden Bonvivants Harry Walden und Arnold Korff, Schriftsteller, Gelehrte, Journalisten sowie die obligaten Adabeis."

Gemeinsamer Suizid

Während Walden etwa als Leon in Grillparzers "Weh dem, der lügt!" begeisterte, verschärfte sich seine finanzielle Situation zusehends. Die Schulden, die er und seine Frau aus Berlin mitgebracht und auch während kurzer Zeit in Wien angehäuft hatten, ließen sich trotz horrender Gage beim aufwendigen Lebensstil kaum tilgen. Durch Erpressung der Burgtheaterdirektion, die er und seine Frau mit Selbstinszenierungen von geplanten Selbstmorden in einer Mischung von Starallüren und Größenwahn untermauerten, versuchte er sein Salär in die Höhe zu treiben. Doch bei Hugo Thimig hatte er damit keinen Erfolg.

Im Jahr nach dem Krieg verließ Walden die Burg, um die Wiener Volksbühne in der Neubaugasse zu übernehemen. Sein Theater sollte "das führende Konversationstheater Wiens" werden. Aber die wirtschaftlich schwierige Situation nach dem Krieg brachte keine guten Voraussetzungen für eine Theatergründung mit sich - und schon bald machten Gerüchte über ein Ende von Waldens Direktion die Runde. 1921 stand er, nachdem er seine Villa auf dem Schafberg hatte verkaufen müssen, vor dem finanziellen Ende.

Während einer Gastspielreise nach Berlin nahm er sich in auswegloser finanzieller Situation zusammen mit seiner Familie durch eine Überdosis Morphium und das Öffnen der Pulsadern am 4. Juni 1921 das Leben. In Wien und Berlin überschlug man sich in Spekulationen über den gemeinschaftlichen Suizid, und viele Zeitungen übernahmen unter der Überschrift "Eine Künstlertragödie" zwei Tage später die Agenturmeldung über die Geschehnisse:

"Der Wiener Schauspieler Harry Walden, der in letzter Zeit in Berlin gastierte, wurde am Samstag mittag mit seiner Frau und ihrem Sohn aus erster Ehe mit durchschnittener Pulsader in seiner Wohnung aufgefunden. Harry Walden und sein Stiefsohn sind im Laufe der Nachmittagsstunden gestorben. Der Zustand seiner Frau ist gleichfalls noch sehr ernst. Als Grund für die Tat wird von den Freunden des Künstlers angegeben, daß dieser seit langem an seelischen Depressionen gelitten habe und wie auch seine Frau und sein Stiefsohn morphiumsüchtig gewesen sei."

Bei der Beerdigung Waldens in Berlin, zu der sich alles einfand, was im Theaterleben der Stadt Rang und Namen hatte, war der Ansturm seiner Verehrerinnen so groß, dass die Polizei den Gottesacker absperren musste.

Oliver Bentz, geb. 1969, lebt als Germanist, Ausstellungskurator und Kulturpublizist in Speyer.